»Die Geringschätzung von Sorgearbeit betrifft uns alle«
Franzi Helms und Jo Lücke erklären, warum sie die Liga für unbezahlte Arbeit, Deutschlands erste Carewerkschaft, gegründet haben
Interview: Merle Groneweg

Kinder betreuen, Angehörige pflegen, den Einkauf machen: Unbezahlte Sorgearbeit macht den Großteil der in Deutschland geleisteten Arbeitsstunden aus. Jetzt gibt es mit der Liga für unbezahlte Arbeit (LUA) eine Interessenvertretung für Sorgearbeitende. Was sie vorhaben, erzählen die beiden Gründerinnen Franzi Helms und Jo Lücke im Interview.
»Wer sorgt, verliert«, schreibt ihr auf eurer Website, nämlich bei Erwerbschancen, Einkommen und Rente. Jetzt habt ihr eine Carewerkschaft gegründet, die erste Gewerkschaft für Sorgearbeitende. Offiziell seid ihr jedoch ein Verein. Was steckt dahinter?
Jo Lücke: Sorgearbeit ist Arbeit. Sie kostet Zeit und Ressourcen, die an anderer Stelle nicht mehr zur Verfügung stehen. Wir möchten für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen – und haben uns gefragt, wie das gehen kann. Um in Deutschland offiziell eine Gewerkschaft gründen zu können, müssen Arbeiter*innen angestellt sein; sie brauchen einen Vertrag und ein Gehalt. Als Sorgearbeitende, die nun mal weder Verträge noch Löhne haben, war es uns deshalb nicht möglich, eine Gewerkschaft zu gründen. Wir haben lange überlegt, ob wir das trotzdem tun sollen und schauen, was passiert; juristisch wäre das eine interessante Aushandlung gewesen. Doch das Risiko, direkt wieder eingestampft zu werden und von vorne anfangen zu müssen, schien uns zu groß. Also haben wir einen Verein gegründet, der die gleichen Funktionen wie eine Gewerkschaft übernimmt. Wir möchten eine Interessenvertretung von Sorgearbeitenden sein und uns als solche langfristig organisieren.
Wie stellt ihr sicher, dass ihr nicht zu zweit bleibt, sondern viele werdet – und diese potenziellen Neumitglieder auch mitbestimmen können?
Franzi Helms: Unser Ziel ist eine mitgliederstarke Organisation. Je mehr wir sind, desto lauter können wir sein. In der Pandemie haben alle gespürt, dass wir eine starke Lobby brauchen; auch bei den aktuellen Diskussionen, etwa um die Verlängerung der Normalarbeitszeit, wird das wieder sehr deutlich. Wir möchten sagen können: Wir sind hier, wir haben 20.000 Mitglieder, ihr könnt uns jetzt nicht mehr übersehen – und möchten einen Platz am Verhandlungstisch. Wir vernetzen uns natürlich auch mit anderen Akteuren, also Gewerkschaften, politischen Parteien, Vereinen oder auch Netzwerken wie Care Revolution.
Dabei arbeiten wir mit klassischen Vereinsstrukturen. Jede*r kann Fördermitglied werden; wer einen Antrag stellt, auch ordentliches Mitglied mit Stimmrecht. Wichtig ist uns ein intersektionaler Ansatz. Wir wünschen uns, dass verschiedene Perspektiven vertreten sind, auch im Vorstand, der von allen ordentlichen Mitgliedern gewählt wird.

Franzi Helms und Jo Lücke
Franzi Helms ist Coachin, Trainerin und Speakerin für Mental Load, Vereinbarkeit und Gender Bias. Sie lebt mit ihrer Familie in Hannover. Jo Lücke ist politische Bildnerin und Autorin und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Gemeinsam haben sie die Liga für unbezahlte Arbeit e.V. gegründet. Foto: privat
Wie möchtet ihr für die Interessen von Sorgearbeitenden kämpfen?
Franzi: Wir vernetzen Sorgearbeitende und schaffen dafür ein barrierearmes Angebot, beispielsweise durch Online-Treffen. Gleichzeitig haben wir Weiterbildungsangebote und sensibilisieren für die alltägliche Diskriminierung von Sorgearbeitenden. Viele wissen gar nicht, wie alltäglich sie benachteiligt werden – da kann es um die Stadtplanung gehen, Schulen und Kitas oder um ganz praktische Dinge wie Toilettenkabinen, die zu klein sind, um dort mit Baby oder Rollstuhl zu sein.
Ihr fordert auch, dass familiäre Fürsorgeverantwortung als Diskriminierungsmerkmal in Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes aufgenommen wird. Was versprecht ihr euch davon?
Jo: Wenn familiäre Fürsorgeverantwortung als Diskriminierungsmerkmal im Grundgesetz aufgenommen würde, wäre das rechtlich bindend für alle nachgeordneten Gesetze. Dann müsste beispielsweise die familiäre Fürsorgeverantwortung als Diskriminierungsmerkmal auch ins Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) aufgenommen werden – mit Wirkung auf Arbeitsrecht und Zivilrecht. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes wäre dann auch für Fürsorgende zuständig.
Inwiefern könnte das denn konkrete Auswirkungen haben?
Jo: Schauen wir auf die Arbeitszeitdebatte: Die 40-Stunden-Woche benachteiligt Menschen mit Sorgeverantwortung strukturell. Wer sich um Kinder oder Angehörige kümmern muss, kann die so genannte Normalarbeitszeit kaum leisten, von Überstunden ganz zu schweigen. Vor allem Mütter, die nach der Elternzeit wieder anfangen zu arbeiten, tun dies häufig in Teilzeit und landen dann eher auf dem Abstellgleis. Die Arbeitszeitdiskussion könnte durch eine Grundgesetzänderung noch mal ein ganz anderes Feuer bekommen. Oder junge Menschen, die schon früh Verantwortung für Geschwister oder Eltern übernehmen – sogenannte Young Carers: Sie haben im Bildungssystem kaum Unterstützung. Eine gesetzliche Anerkennung könnte Ausgleich schaffen, etwa durch längere Studienzeiten oder gezielte Fördermaßnahmen. Und nicht zuletzt: Wenn private Sorgearbeit mehr Anerkennung erhält, wirkt sich das auch auf die bezahlten Sorgeberufe – Pflege, Kita usw. – aus.
Wie?
Jo: Für die Chancengleichheit Fürsorgender müsste die Infrastruktur verbessert werden, zum Beispiel für Kinder und Angehörige mit Pflegebedarf. Das heißt, es bräuchte mehr zuverlässige und qualitativ gute Betreuungsplätze. Um diese zu schaffen, müssen die Arbeitsbedingungen und Löhne derer, die in diesen Branchen arbeiten, verbessert werden. Hier überschneiden sich die Interessen zwischen uns als Gewerkschaft der unbezahlt Sorgearbeitenden und den Gewerkschaften, die für Menschen in pflegenden Berufen einstehen, weil die aktuell vorherrschende Geringschätzung der Sorgearbeit uns alle betrifft.
Die Altenpflege ist ein Bereich, in dem in Deutschland viele Frauen aus Osteuropa arbeiten. Inwiefern zieht ihr migrantisierte, unterbezahlte Sorgearbeit in eure politischen Überlegungen mit ein?
Jo: Die Liga für unbezahlte Arbeit kritisiert diese strukturelle Schieflage ausdrücklich: Es ist keine gerechte Care-Politik, wenn sie auf Ausbeutung basiert. Wir sehen unbezahlte, schlecht bezahlte und migrantisierte Sorgearbeit als Teil eines gemeinsamen Problems – und setzen uns für solidarische Lösungen ein. Unsere Forderung, familiäre Fürsorgeverantwortung als Diskriminierungsmerkmal ins Grundgesetz aufzunehmen, schafft eine rechtliche Grundlage, die auch diese Arbeit besser schützt. Auch Fürsorgende mit Fluchterfahrung oder Schutzstatus würden so besser vor Benachteiligung und Ausgrenzung geschützt.
Die Forderung ›Lohn für Hausarbeit‹ war ein wichtiger feministischer Weckruf. Wir führen diese Debatte weiter.
Jo
Der Weg zu einer Grundgesetzänderung ist lang. Wie könnt ihr euch schon heute für die konkreten, bestehenden Rechte von Sorgearbeitenden einsetzen?
Franzi: Wir möchten eine juristische Beratung aufbauen: Welche Rechte haben wir eigentlich bereits? Was bedeutet es, wenn ich nach einem Jahr keinen Kitaplatz bekomme – und wie weit darf der entfernt sein? Viele Fürsorgende kennen ihre Rechte gar nicht. Und selbst wenn: Sich eine Anwältin zu suchen und rechtlich vorzugehen, erfordert zeitliche und finanzielle Ressourcen sowie viel Kraft und Mut. In unserer juristischen Beratung möchten wir Leitfäden entwickeln und Infos zu Präzedenzfällen vermitteln. Wo werden wir als Sorgearbeitende eigentlich nach heutigem Rechtsstand schon diskriminiert? Was können wir dagegen tun?
Gewerkschaften rufen zum Streik auf, um für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Wie sähe ein Streik von Sorgearbeitenden aus?
Jo: Unser Ziel ist der politische Streik, um auf die strukturelle Diskriminierung von Sorgearbeitenden aufmerksam zu machen. Im Moment gibt es in Deutschland kein politisches Streikrecht. Wir wollen in den nächsten ein bis zwei Jahren größere Rechtssicherheit erreichen, so dass wir unseren Mitgliedern Handlungsoptionen aufzeigen können: Was passiert, wenn ich jetzt meine Lohnarbeit aus politischen Gründen bestreike?
Und so zu guter Letzt: Wie steht ihr eigentlich zu der feministischen Debatte »Lohn für Hausarbeit«?
Jo: Die Forderung »Lohn für Hausarbeit« war ein wichtiger feministischer Weckruf: Sie hat deutlich gemacht, dass unbezahlte Sorgearbeit nicht »nichts« ist, sondern gesellschaftlich notwendig – und ökonomisch ausgebeutet. Wir als Liga führen diese Debatte weiter: Uns geht es nicht nur um soziale Absicherung, sondern um strukturellen Schutz, politische Sichtbarkeit und Gleichstellung. Wenn Care-Arbeit gleichwertig anerkannt würde – auch juristisch, etwa im Grundgesetz – eröffnen sich neue finanzielle, soziale und arbeitsrechtliche Spielräume. Geld allein reicht aber nicht: Es braucht eine neue Logik, in der Sorge kein individueller Nachteil, sondern ein kollektiver Wert ist.