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Von Moria bis Haiti

Das Feuer im Lager reiht sich ein in eine Genealogie antikolonialer Widerstände

Von Nerges Azizi und Simin Jawabreh

Altes Gemädle zeigt Schiffe an einer Bucht, hinter ihnen mehrere Flammen über eine Stadt in einer Tiefebene
Antikoloniale Praxis mit langer Geschichte: 1791 legten die Versklavten die Plantagen Haitis in Brand. Foto: Gemeinfrei

Anfang September 2020 brannte das Geflüchtetenlager Moria und damit symbolisch das, wofür es migrationspolitisch steht: eine rigide Abschottungspolitik, ein neoliberales Projekt zur Aufrechterhaltung von Kapitalinteressen und die Perpetuierung kolonialer Verhältnisse durch die Hierarchisierung von Menschenleben, Rassismus und Segregation. Sehr schnell entfachte sich ein innerlinker Diskurs in Deutschland, der die EU als Brandstifterin anprangerte. So titelte beispielsweise das Bündnis Beyond Europe: »the fire was set by europe« und die Interventionistische Linke Nürnberg proklamierte, »die EU ließ dieses Jahr Moria brennen«. Die Mehrzahl der lauteren Stimmen im linken Diskurs liest sich, wenn nicht durchweg, mit der Rhetorik der EU als Brandstifterin, als passiv darstellendes »Moria ist abgebrannt«. Das Problem dabei? Das Handeln der Geflüchteten wird übergangen und unsichtbar gemacht. Es wird von jenen, die sich mit ihnen solidarisch zeigen wollen, zu einem Leid und einer Passivität umgeschrieben, die dem Grauen der EU ausgesetzt bleibt, ohne in irgendeine Form der Gegenwehr zu treten.

Aber: Moria ist weder von selbst abgebrannt, noch ist die EU unmittelbare Brandstifterin. Das In-Brand-Setzen des Lagers auf Moria war eine Revolte von unten und kein Schlag von oben. Das Anzünden Morias reiht sich damit in eine Genealogie antikolonialer Widerstandskämpfe.

Die Sprache der Subalternen

Das Nichtverstehen widerständiger Praxen und deren Verklärung zu passivem Leid illustrierte besonders prominent Gayatri Spivak in ihrem Essay »Can the Subaltern Speak« am Beispiel der Selbstverbrennung von Witwen auf dem Scheiterhaufen ihrer Männer in Indien, hierzulande als sati bekannt. Die Selbstverbrennung der Frauen bewegte sich nicht in den anerkannten kulturell-institutionellen Mustern des europäischen Selbst. Der Hintergrund materieller Interessen, in den die Witwen, wenn sie weiterlebten, das Eigentum ihrer Männer erbten, blieb den Briten versperrt. Sati wurde in eine Ethnifizierung von Sexismus uminterpretiert, die subalterne Frau sollte demnach vor den patriarchal-religiösen Ritualen ihres Landes gerettet werden. Spivak verwendet in diesem Zuge die berühmte Formulierung »weiße Männer retten braune Frauen vor braunen Männern«.

Die britische Besatzungsmacht formte die subalterne Frau als Objekt, das vor sich selbst zu schützen sei, und kriminalisierte die Selbstverbrennung. Vorher als sativrata, satimata oder auch satidaha bekannt, wurde die Bezeichnung für die Selbstverbrennung von der britischen Besatzungsmacht mit dem Begriff der »guten Ehefrau« (Sati) gleichgesetzt. Sie erzeugte so einen kulturellen Druck zur Selbstverbrennung, der die Praxis mit neuem Wert ausstattete und verstärkte. Sati wurde fortwährend auch zu einer widerständigen Praxis gegen die Kolonialmacht. Die widerständige Artikulation verblieb sowohl im Diskurs der »Rettung der braunen Frau« als auch der traditionellen Rechtfertigung »das ist das, was die Frau will« in einer untergeordneten Position. Spivaks Fazit daraufhin: Die Subalterne kann nicht sprechen. Praxen, die nicht der eigenen institutionellen Form entsprechen, können nicht zugeordnet werden und unterliegen Umdeutungen, die ihre untergeordnete Position manifestieren.

Auch das In-Brand-Setzen Morias als Form des Widerstands wurde nicht erkannt, unsichtbar gemacht und Solidarität dadurch verunmöglicht. Die zugrundeliegende Rationale blieb durch die Erinnerung als ein Archiv der Herrschenden versteckt, weil sie der institutionellen Form nicht entsprach. Stattdessen wurde die Handlung entweder im Diskurs der unterdrückerischen EU, die Feuer zündet oder der Reduzierung darauf, dass wir das Leid und Feuer beenden müssen, aufgefangen. Wer die Feuer beenden will, muss davon absehen, seine Forderungen auf mehr Brandschutzmaßnahmen zu reduzieren, selbst wenn diese kurzfristig essenziell erscheinen. Denn das verdeckt die Widerständigkeit der Geflüchteten.

Die Haitianische Revolution und die Schwarzen Jakobiner

Um das Feuer auf Moria besser zu verstehen, muss es in eine Kontinuität mit antikolonialen Praxen gesetzt werden. Kulminationspunkt dieser Praxen bildet unter anderem die erfolgreiche Rebellion versklavter Menschen auf Haiti gegen die Sklaverei und für ihre Unabhängigkeit im 18. Jahrhundert. Der Kampf auf der damals französischen Kolonie Saint-Domingue begann und wurde damit zum Sieg geführt, dass Versklavte die Plantagen in Brand setzten, auf denen sie jahrelang ausgebeutet und unterdrückt wurden. Die Vorfälle auf Haiti fanden parallel zur Französischen Revolution und Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) statt. Auch damals galten Menschenrechte nicht gleichermaßen für alle, sondern reproduzierten und legitimierten rassistische und sexistische Ausschlüsse.

Folglich rebellierte die Schwarze Bevölkerung auf Haiti gegen die Sklaverei, durch die sie ihrer Freiheit, Rechte, Arbeit und ihres Landes und Lebens enteignet wurden. 1791 nahm die Revolution unter der Führung Boukmans, eines vormaligen Versklavten, ihren Anfang. Die Rebellen setzten Hunderte von Zucker-, Kaffee- und Indigoplantagen in Brand. CLR James schreibt in »die Schwarzen Jakobiner«: »und wenn sie viel zerstörten, dann darum, weil sie viel gelitten hatten. Sie wussten, solange es diese Plantagen gab, würden sie bis zum Zusammenbruch darauf arbeiten müssen. Sie zu vernichten war der einzige Ausweg… Wären sie im geringsten an den Plantagen materiell interessiert gewesen, hätten sie diese nicht mutwillig zerstört, doch sie waren es nicht«.

Selbstverteidigung ohne Selbsterhaltung

Der Kampf richtete sich selbst dann gegen das materielle Umfeld, wenn es die unmittelbaren Möglichkeiten der Selbsterhaltung verringerte. Nachdem Frankreich einige Zugeständnisse machte, traten England und Spanien in einen Stellvertreterkrieg. Die beiden Kolonialmächte fürchteten sich vor den regionalen Auswirkungen der Rebellion. Um die Schwarze Bevölkerung Haitis im Kampf für sich zu gewinnen, schaffte Frankreich die Sklaverei formal ab. Fünf Jahre später wurde die Insel mühevoll unter Führung des Schwarzen Widerstandskämpfers Toussaint L’Ouverture aufgebaut. Dieser nahm eine Vormachtstellung auf der Insel ein und rief eine neue Verfassung aus. Inzwischen war jedoch die Konterrevolution in Frankreich erfolgt. Napoleon Bonaparte schickte ein Expeditionsheer nach Saint-Domingue, um die Sklaverei zu restaurieren. Die Franzosen planten, einen Genozid gegen die Schwarze Bevölkerung Haitis durchzuführen. Diese sollten durch neu entführte, ihres Landes und ihrer Arbeit enteigneten Menschen ersetzt werden. Mit der Bedrohung erneuter Unterdrückung entschlossen sich die vormals Versklavten dazu, die Insel wiederum in Brand zu setzen. Laut CLR James brannte das Volk »nieder, was sich niederbrennen ließ«. Am Ende des Krieges »war San Domingo eine verkohlte Wüste«. 1804 wurde Haiti zu der ersten freien Republik Schwarzer, vormals versklavter Menschen erklärt. Die Rebellion inspirierte weitere Aufstände, im Rahmen derer Feuer als Mittel des Widerstandes fungierte.

Dem antikolonialen Psychiater und Theoretiker Frantz Fanon zufolge strukturiert die Kolonisierung den Raum entlang rassifizierender Merkmale. Kolonisierte werden abgeriegelt, um sie besser zu kontrollieren und auszubeuten. Widerstand besteht unter anderem darin, sich gegen das aufoktroyierte materielle Umfeld zu richten, das räumlich eingegrenzt ist und die Unterdrückung symbolisiert. In diesem Sinne stellt das In-Brand Setzen bis heute eine Form antikolonialen Protestes dar. Erst diesen Sommer zirkulierten in Folge des Todes von George Floyd durch die US-Polizei Fotos der brennenden Polizeiwache und ganzer Straßenzüge in Minneapolis in den internationalen Medien. Das In-Brand-Setzen durch marginalisierte und ihrer Rechte enteignete Menschen lässt sich demzufolge als ein Appell lesen, jene Institutionen abzuschaffen, die Menschen ihrer Freiheit, Rechte und Würde berauben. Dazu gehört die Gefangennahme und Immobilisierung von Menschen in Detention Camps.

Die Feuer auf Moria reihen sich in Aufstände für die Abschaffung aller Formen rassistischer Segregation und für Bewegungsfreiheit ein. Sie werden bis zur Einlösung des Versprechens eines menschenwürdigen Lebens für alle nicht zu tilgen sein.

Simin Jawabreh

absolviert gerade ihren Master in Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Jawabreh arbeitet an der Humboldt Universität Berlin im Lehrbereich Theorie der Politik, in der politischen Bildungsarbeit und ist antirassistisch organisiert. Sie beschäftigt sich mit abolitionistischen Theorien, Dekolonialismus und Marxismus.

Nerges Azizi

absolviert derzeit ihren PhD in Law an der Birkbeck, University of London und arbeitet als Dozentin und Dolmetscherin. Sie beschäftigt sich mit der Interaktion von Recht und Rassismus sowie mit Migration und kritischer Grenzforschung.