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Kolumbien zwischen Bangen und Hoffen

Die Wahlerfolge linker Kandidat*innen könnten die rechtskonservative Hegemonie im Land beenden – nach mehr als 50 Jahren  

Von Knut Henkel

Ein Polizist lehnt an einer Wand in der Altstadt von Bogotá, la Candelaria. Darauf zu lesen ist »Duque raus« sowie das international beliebtes Akronym ACAB.
Ein Polizist lehnt an einer Wand in der Altstadt von Bogotá, la Candelaria. Darauf zu lesen ist »Duque raus« sowie ein international beliebtes Akronym. Foto: Knut Henkel

Oveimar Tenorio deutet mit der Hand auf das Transparent, welches über die Straße vor dem Sitz der ACIN in Santander de Quilichao gespannt ist. Darauf prangt das Gesicht von Francia Márquez. Die afrokolumbianische Frau ist eine der positiven Überraschungen der Parlamentswahl vom 13. März. Dort bekam sie in den Vorwahlen knapp 800.000 Stimmen und lag damit an dritter Stelle in der Wähler*innengunst vor etlichen anderen Kandidat*innen. »Für uns hier im Cauca ist Francia ein Hoffnungsschimmer, denn sie bekennt sich zu ihren afrokolumbianischen Wurzeln, vertritt aber auch unsere Interessen, die der indigenen Völker«, sagt Oveimar Tenorio.

Der drahtige, relativ kleine 28-jährige mit der blauen Weste und dem mit grün-roten Bändern umwundenen und mit Silber beschlagenen halbhohen Stock koordiniert die Guardia Indigéna, die indigene Wache, im Norden des Verwaltungsbezirks Cauca. Dieser unterhalb der Millionenmetropole Cali beginnende Verwaltungsbezirk zählt zu den gefährlichsten Kolumbiens. 15 Morde an indigenen Aktivist*innen allein seit Jahresbeginn zeugen davon.

Permanent blockiertes Friedensabkommen

Verantwortlich für die omnipräsente Gewalt sind gleich mehrere Beteiligte: Zum einen die abtrünnigen Kolonnen der FARC-Guerilla, die von vornherein gegen ein Friedensabkommen mit der kolumbianischen Regierung waren und sich nie demobilisiert haben. Die operieren vor allem im Norden des Cauca. Hinzu kommen einige hundert demobilisierte FARC-Guerilleros, die nach der schleppenden Implementierung des Friedensabkommens durch Kolumbiens Regierung wieder zu den  Waffen gegriffen haben. Darüber hinaus sind Kampfverbände der kleineren Guerilla-Organisationen ELN und EPL aktiv, ebenso mehrere Kommandos der Paramilitärs und etliche Drogenbanden. »Das macht die Situation vollkommen unübersichtlich. Niemand weiß, wer, wo aktiv ist, denn das ändert sich stetig«, erklärt Oveimar Tenorio. Obendrein traut er den staatlichen Ordnungskräften nicht über den Weg. Sie sind für ihn Teil des Problems, nicht nur im Cauca, sondern auch in anderen Hochrisiko-Regionen des Landes, wo sich die Beweise häufen, dass hohe Militärs an der steigenden Produktion von Marihuana, Kokain und andere Drogen partizipieren.

Die Eskalation der Gewalt ist eine direkte Folge der Weigerung der Regierung, das Friedensabkommen von 2016 zu implementieren.

Die Eskalation der Gewalt ist eine direkte Folge der praktizierten Weigerung der amtierenden Regierung von Iván Duque, das Friedensabkommen vom November 2016 zu implementieren. Alle Register hat sie gezogen, um das ausgehandelte, in Gesetzespaketen fixierte Abkommen nicht oder nur partiell in die Realität umzusetzen. »Dazu gehört die Kürzung finanzieller Mittel, die Nominierung von ungeeignetem und politisch einseitig orientiertem Personal oder die schlichte Weigerung, essenzielle Punkte des Programms wie die Landrückgabe auf den Weg zu bringen«, so der Jurist und Menschenrechtsexperte Gustavo Gallón. »Die Wiederaufnahme der Implementierung des Abkommens ist deshalb eine Kernaufgabe einer neuen progressiven Regierung«.

Dieser Regierung könnte Francia Márquez angehören. Die 40-jährige Umweltaktivistin aus der afrokolumbianisch geprägten Kleinstadt Suárez hat nicht nur den legalen wie auch den illegalen Goldbergbau in ihrer Heimatregion kritisch hinterfragt, sondern auch den Staudamm La Salvajina, der direkt an Suárez grenzt und ohne jegliche Partizipation in den 1980er Jahren in die Landschaft gesetzt wurde. Das und ihr Eintreten für die Rechte der afrokolumbianischen Gemeinden hat der Juristin und Aktivistin Morddrohungen eingebracht, aber eben auch reichlich Wähler*innenstimmen.

Sie gibt denen eine Stimme, die in Kolumbien in aller Regel nie gehört werden: den Minderheiten. Die stellen im so heftig umkämpften Cauca deutlich mehr als ein Drittel der Bevölkerung, werden aber traditionell ausgegrenzt. Die Landkonzentration, die Frage, wie es dazu gekommen ist und ob es dabei mit rechten Dingen zuging, ist nicht nur in diesem Verwaltungsbezirk existenziell für viele afrokolumbianische und indigene Gemeinden, sondern auch in anderen Regionen des Landes wie dem Chocó, Nariño, Arauca, Antioquia oder Norte de Santander, allesamt Verwaltungsdistrikte, Departamentos, die aufgrund ihres Rohstoffreichtums, der Nähe zur einer Landesgrenze und meist auch wegen des Anbaus von Koka, Marihuana und teilweise auch Schlafmohn strategische Bedeutung in den Augen der bewaffneten Akteure haben.

Die im Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla fixierte Verpflichtung, alternative Entwicklungsprojekte in den oft vom Bürgerkrieg massiv betroffenen Landesteilen aufzubauen, die marode Infrastruktur auszubauen, um überhaupt Agrarprodukte wie Kaffee, Kakao, aber auch Obst und Nahrungsmittel vom Feld zum nächsten Markt- oder Verarbeitungsort transportieren zu können, wurde oft nur halbherzig angegangen. So zum Beispiel in Toribío, einer der von Gefechten zwischen FARC-Guerilla und Armee über Jahrzehnte besonders hart getroffenen Kleinstadt im Cauca. Toribío ist bis heute von einer Seite nur durch eine Buckelpiste zu erreichen, auf der das Fahren bei Regen zu einer riskanten Rutschpartie wird.

Über der in einem Talkessel liegenden Kleinstadt thront eine zur Festung ausgebaute Polizeistation, in deren direkter Nähe Kokafelder zu sehen sind. Widersprüche in Kolumbien, die genauso ins Auge stechen, wie sie die Frage aufwerfen, weshalb trotz massiver Militärpräsenz in Regionen wie dem Cauca die Zahl der Morde an sozialen Aktivist*innen nur eine Richtung kennt: nach oben. Bis zum 30. März wurden allein in diesem Jahr in Kolumbien 48 soziale und politische Aktivist*innen ermordet. Hinzu kommen elf ermordete ehemalige FARC-Guerilleros und 28 Massaker. Das gezielte Morden politisch Andersdenkender und damit oft linker Aktivist*innen hat seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens im November 2016 Konjunktur; die massiven Proteste der Zivilgesellschaft im November 2019 und zwischen April und Juni 2021 haben die Regierung von Präsident Iván Duque weder zum Einlenken noch zum Nachdenken bringen können. Machterhalt ist die zentrale Devise des Präsidenten und der ihn stützenden konservativen Elite.

Institutionen an der Kette

Duque, ein politischer Zögling des Ex-Präsidenten  Álvaro Uribe Vélez (2002-2010), hält auf Gedeih und Verderb an  seinem politischen Kurs fest. Der ist auf Machterhalt und Übernahme staatlicher Institutionen ausgerichtet, die eine Kontrollfunktion haben. An der Spitze der Ombudsstelle für Menschenrechte, der Generalsstaatsanwaltschaft, der Behörden für die personelle wie finanzielle Kontrolle des Staatsapparats sitzen genauso persönliche Freunde Duques wie in der für den Wahlprozess mitverantwortlichen Registraduría, vergleichbar mit den hiesigen Meldebehörden. »Cooptación«, soviel wie Übernahme, heißt das Untergraben der Unabhängigkeit staatlicher Institutionen auf Spanisch. »Das ist eine Hypothek für jede kommende progressive Regierung, denn die staatlichen Kontrollinstitutionen könnten durchaus eine Blockadehaltung einnehmen«, sagt der ehemalige Richter Iván Velásquez. Der 66-jährige Jurist ist international als ehemaliger Leiter der UN-Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) bekannt und ein nimmermüder Verfechter der Unabhängigkeit der Justiz.

Für Velásquez wiegt das Wahlergebnis der Parlamentswahlen vom 13. März doppelt schwer. Es liefert dem progressiven Lager und dem großen Hoffnungsträger der Linken, Gustavo Petro vom Pacto Histórico (Historischer Pakt), nicht die Mehrheit in beiden Kammern, die einen stringenten Reformprozess erleichtern würde. Petro, sollte er am 29. Mai, wie die Umfragen nahelegen, wirklich zum ersten linken Präsident Kolumbiens seit nunmehr 53 Jahren gekürt werden, steht vor einer Mammutaufgabe. Die Reanimierung des Friedensabkommens mit der FARC ist genauso alternativlos, wie es überfällige Reformen in Justiz, Polizei, Armee sowie den Schaltzentren der Macht sind. Die müssen genauso wie die Sozialagenda, die die Wähler*innen von Gustavo Petro erwarten, mühevoll im Parlament ausgehandelt werden. Keine einfachen Voraussetzungen, das wissen auch viele Anhänger*innen des Pacto Histórico, der schon bei den Parlamentswahlen beinahe um mindestens 400.000 Stimmen betrogen worden wäre, wie Journalist*innen und kritische Wissenschaftler*innen aufdeckten. »Die überalterte Wahlgesetzgebung bietet dafür extrem viele Lücken«, so der Politikwissenschaftler Rovitzon Ortiz. Stimmenkauf, Manipulation bei der Auszählung, aber auch ein Wahlregister, das nicht nach transparenten Kriterien geführt wird, zählen zu den Grundproblemen, so Ortiz, die immer wieder zu Wahlskandalen geführt haben.

Stimme mit Gewicht

Das wissen auch Aktivist*innen wie Oveimar Tenorio, die für den Cauca auf die hohe Wahlbeteiligung vor allem unter der indigenen und afrokolumbianischen Bevölkerung hinweisen. Immerhin knapp 56 Prozent der Wähler*innen im Cauca gaben ihre Stimme ab, gegenüber 47 Prozent im Landesdurchschnitt. Der Pacto Histórica kam in dem umkämpften Departamento auf etwas über 35 Prozent der Stimmen und lag damit deutlich über dem Landesdurchschnitt. Fakten, die hoffen lassen, dass sich dieser Effekt bei den Präsidentschaftswahlen vom 29. Mai noch einmal verschärft.

Doch auch Oveimar Tenorio weiß genau, dass in den zwei Monaten bis dahin die konservative Elite alle Hebel in Gang setzen wird, um das Duo aus Gustavo Petro und Francia Márquez zu diskreditieren. Vor vier Jahren gelang das schon einmal. Da wurde Gustavo Petro noch auf der Zielgeraden von Iván Duque abgefangen. Auch dank zwei Millionen gekaufter Wähler*innenstimmen, wie Recherchen von Journalist*innen belegen. Dass sich das im Mai 2022 wiederholen könnte, ist nicht ausgeschlossen. »Allerdings ist die jüngere Generation heute nach den Protesten der letzten Jahre so politisiert, dass ich an den Wandel glaube«, meint Oveimar Tenorio. Er wirbt innerhalb der indigenen Strukturen inständig dafür wählen zu gehen, und das Wort Tenorios, der mehrere Attentate überlebte, hat Gewicht. Das könnte dazu beitragen, dass sich in Kolumbien alsbald etwas ändert.

Knut Henkel

ist Politikwissenschaftler und arbeitet als freier Journalist in und über Lateinamerika.