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Gerechtigkeit für Siloé

Ein Volkstribunal in Kolumbien hat hohe Staatsangehörige für Menschenrechtsverbrechen bei den Massenprotesten im Jahr 2021 verurteilt

Von Mayo Calle

Bild einer größeren Versammlung in einer Halle. In der Mitte sind Blumen. Die Beteiligten halten sich die Hand, einige strecken sie in die Höhe.
Neben dem Urteil und der Unterstützung der Opfer in Rechtsfragen ist die Selbstermächtigung beim Tribunal zentral. Foto: Mayo Calle

Ein Volksgericht hat in der südkolumbianischen Metropole Cali die Ex-Regierung von Iván Duque sowie hohe Polizei- und Militärfunktionäre verurteilt. Sie werden für die staatliche Gewalt verantwortlich gemacht, die bei den massiven Protesten im Jahr 2021 alleine in dem marginalisierten Stadtteil Siloé mindestens 16 Tote forderte. Zwei der Opfer waren minderjährig, als sie von staatlichen Einsatzkräften erschossen wurden. Das Tribunal Popular in Siloé deckt die Hintergründe und Beweise zu den Verbrechen auf. Damit sorgt es gemeinsam mit den Opfern für Aufklärung, macht die Gewalt gegen die Bevölkerung sichtbar und fordert Gerechtigkeit.

Die Proteste vor fast zwei Jahren waren maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Mehrheit der Kolumbianer*innen im Mai 2022 zum ersten Mal in der Geschichte für eine linke Regierung stimmte. Der Wirtschaftswissenschaftler Gustavo Petro ist seitdem Präsident, seine Vizepräsidentin ist die afrokolumbianische Umweltaktivistin und Feministin Francia Márquez. Sie lösten die ultrarechte Regierung von Iván Duque ab, unter der die Unsicherheit in Kolumbien dramatisch zugenommen hatte.

Die Kokainproduktion hatte mit 1200 Tonnen ein Rekordhoch erreicht, Kolumbien war damit nach Angaben der UNO weltweit größter Produzent. In den vier Jahren der Amtszeit von Iván Duque gab es mehr als 260 Massaker, bei denen mehr als 1100 Menschen starben. Zudem hatte er das Land in die größte Wirtschaftskrise seit 1999 gestürzt. Im April 2021 fehlten der Hälfte der Bevölkerung die Mittel für drei Mahlzeiten am Tag, rund 40 Prozent lebten unter der Armutsgrenze. Im Sommer 2021 missbilligten laut einer Umfrage von Pulso País 79 Prozent der Kolumbianer*innen die Regierung von Iván Duque. So auch in Siloé: Die Lebensbedingungen wurden immer prekärer. In dem Viertel leben 23 Prozent in extremer Armut – eine der höchsten Raten landesweit. Nur etwa drei Viertel der Haushalte sind an Strom angeschlossen, nur knapp die Hälfte an Erdgas, Kanalisation und Wasserversorgung. Aber das Leben ist eben auch geprägt von positiven Erfahrungen der Solidarität untereinander, massiver sozialer Organisation, Selbstverwaltung, Widerstand und der Resilienz der Bewohner*innen. Deswegen wundert es nicht, dass Siloé bei den Protesten 2021 eine zentrale Rolle spielte.

Beweissicherung als Nachbarschaftsdienst

Begonnen hatten die Proteste in Kolumbien Ende April 2021. Tausende Menschen harrten im ganzen Land zwei Monate lang auf den Straßen aus. Polizei und Militär wurden eingesetzt, um gemeinsam mit Paramilitärs und bewaffneten Zivilpersonen die Straßenblockaden gewaltsam zu räumen und weitere Demonstrationen zu verhindern. Mindestens 83 Menschen kamen dabei ums Leben, über 2000 wurden verletzt und mehr als 100 Personen sind bis heute verschwunden. Auch aus der internationalen Gemeinschaft wurde das Vorgehen der Regierung Duque massiv kritisiert, nachdem selbst eine Mission der UNO von der Polizei beschossen worden war.

In Siloé wurden am 3. Mai 2021 drei Jugendliche auf offener Straße von Polizist*innen ermordet. Protestierende, Anwohner*innen, Nachbar*innen und befreundet Menschenrechtsorganisationen begannen, Beweise zu sichern und systematisch aufzuarbeiten. Daraus sollte Monate später das Tribunal Popular en Siloé entstehen. Es knüpfte an Kollektiverfahrungen aus der Zeit der Proteste an: Die solidarische Haltung von einem Großteil der Bevölkerung ermöglichte damals das Entstehen neuer Räume, es gab Vorlesungen von Universitäten an den einzelnen Blockadepunkten, Polizeistationen wurden geräumt und zu Bibliotheken oder Kreativwerkstätten umfunktioniert, es gab ständig und überall Musik, Konzerte, Theater.

Mindestens 83 Menschen kamen während der Proteste ums Leben, mehr als 100 sind bis heute verschwunden.

Das Tribunal entstand dann auf Initiative der Opfer und deren Familienangehörigen. Zunächst war das Ziel die Aufklärung der Verbrechen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Daniel Stiven Sánchez erstickte laut Polizeiangaben bei einem Brand in einem Supermarkt, während er angeblich an Plünderungen teilgenommen hatte. Die Nachforschungen des Tribunals beweisen anhand von Zeugenaussagen, Berichten von Erste-Hilfe-Aktivist*innen und Krankenhausakten, dass er erschossen und dann im brennenden Supermarkt verscharrt wurde. Für die Angehörigen steht an erster Stelle, das Ansehen ihres Sohnes, Bruders und Freundes ins rechte Licht zu rücken.

Politik, Militär und Polizei leugnen bis heute ihre Verantwortung und die Staatsanwaltschaft treibt die Nachforschungen nicht voran. Also begannen die Unterstützer*innen des Tribunals mit eigenen Recherchen, Interviews und Nachforschungen. Monatelang dokumentierten sie die furchtbaren Taten und stellten sie nach. Das Ergebnis: Es geht nicht nur um die 16 brutalen Morde, sondern auch um Hunderte Fälle von Folter, Vergewaltigung, Verschleppung, Entführung und illegalen Festnahmen. Immer mehr Familien und Opfer wandten sich an das Tribunal und ließen ihre Fälle registrieren, die sie aus Angst vor Repression und Morddrohungen bis dato verschwiegen hatten.

Heute unterstützen über hundert internationalen NGOs und soziale Organisationen den Prozess. 14 international namhafte Geschworene haben das Material gesichtet, bewertet und im Februar 2023 ihr Urteil gesprochen. In Anwesenheit von Familienmitgliedern, Opfern, Vertreter*innen der Zivilgesellschaft, Presse und verschiedenen nationalen und internationalen Organisationen wurden folgende Delikte verurteilt: Tötung, gewaltsames Verschwindenlassen, Folter, Verletzungen durch Schusswaffen, willkürliche Verhaftungen, Drohungen, Anschuldigungen und Einschüchterungen.

Im Urteil wird der »klassistische und rassistische Charakter der staatlichen Repression« angeprangert. Der Staat sei in Zusammenarbeit mit bewaffneten Zivilist*innen insbesondere gegen Menschen aus marginalisierten Stadtteilen vorgegangen. Das Urteil ist zwar juristisch nicht bindend, aber dennoch für die Opfer ein wichtiger Schritt der Wiedergutmachung. Die Expert*innenkommission dokumentierte und analysierte 18 gewalttätige Ereignisse, die 159 Opfer in 46 Tagen gefordert hatten. »Siloé erlebte einen Krieg«, so die Urteilsschrift, der auf Befehl des damaligen Präsidenten Iván Duque geführt worden sei. Nicht nur Duque wurde verurteilt, sondern auch sein Verteidigungsminister Diego Molano, der damalige Kommandeur der Armee, General Eduardo Zapateiro, und hochrangige Mitglieder der nationalen und lokalen Polizei. Zapateiro hatte per Dekret den Oberbefehl über alle Operationen zur Niederschlagung der Proteste erhalten. Er war somit auch für die Sondereinsatzkräfte der Polizei verantwortlich, denn die Polizei ist in Kolumbien Teil des Verteidigungsministeriums.

Deutsch-kolumbianisches Militärabkommen

Aus Deutschland war unter anderem der Aktivist und Schriftsteller Raul Zelik, der auch ak-Autor ist, als Geschworener anwesend. »Allein in Siloé wurden 16 Menschen offenbar durch Scharfschützen der Polizei und/oder der Armee getötet. Wäre dies in einem anderen Land, das nicht Nato-Partner ist, geschehen, wäre es zweifellos ein riesiger Skandal. Die Verantwortung der Sicherheitskräfte wurde eindeutig festgestellt«, so Zelik. Brisant aus deutscher Sicht: Im November 2021 hatte die Bundesrepublik mit Kolumbien ein Militärabkommen unterzeichnet – trotz heftiger Kritik internationaler Menschenrechtsorganisationen am Vorgehen der staatlichen Sicherheitskräfte gegen die kolumbianische Zivilbevölkerung.

Neben dem Urteil und der Unterstützung der Opfer in Rechtsfragen ist die Selbstermächtigung zentral. Über die Veranstaltungen des Tribunals kamen die Familien miteinander in Kontakt, tauschten sich aus, weinten zusammen und unterstützten sich gegenseitig in schwierigen Momenten. Diese Ebene des Tribunals wird auch nach dem Urteilsspruch weiterhin eine wichtige Aufgabe sein. María Italia Pérez Rengifo, Mutter von Michael Andrés Aranda, der am 28. Mai 2021 von einem Scharfschützen erschossen wurde, fasst es so zusammen: »Die Arbeit des Tribunals ist ein symbolischer Akt, der uns ermöglicht, uns als Familien kennenzulernen, mit Unterstützer*innen zu vernetzen und Vertrauen aufzubauen. Wir sind durch den gleichen Schmerz verbunden. Es ermöglicht uns, die Wahrheit zu erfahren. Es lehrt uns, dass unsere Lieben niemals vergessen werden dürfen.«

Immer wieder kommen Familienangehörige zu den Treffen.

Es werden aber weiterhin auch neue Fälle an das Team des Tribunals herangetragen. Immer wieder kommen Familienangehörige zu den Treffen, die sich bisher nicht getraut haben, über ihren Fall zu sprechen. Dass der Einsatz für die Menschenrechte in Kolumbien weiterhin auch Gegenwehr von rechten und paramilitärischen Banden hervorruft, zeigt nicht zuletzt ein Pamphlet vom Oktober 2022, in dem das Tribunal zum militärischen Ziel erklärt und allen Mitgliedern mit dem Tod gedroht wird. Auch deswegen ist die Gemeinschaft der Betroffenen so wichtig.

Das Tribunal ist ein Beispiel dafür, dass die Zivilgesellschaft in Aufarbeitungsprozessen eine Führungsrolle übernehmen muss, wenn der Staat zum einen als Täter in die Verbrechen involviert ist und zum anderen die Aufklärung sabotiert. Die neue linke Regierung hat das Tribunal nun als Verhandlungspartner zur Frage der Opferentschädigung eingeladen. Was dabei rauskommt, bleibt abzuwarten.

Jeden Monat organisiert das Tribunal einen Erinnerungsrundgang durch Siloé. An den Tatorten erinnern Graffitis und riesige Konterfeis der Opfer an die schrecklichen Momente von 2021. Die Suche nach Gerechtigkeit und die Forderung nach Frieden sind noch lange nicht abgeschlossen. »Wir hören erst auf, wenn die ganze Welt unsere Geschichte kennt«, sagte der Vater eines Ermordeten bei der Urteilsverkündung.

Mayo Calle

lebt, schreibt und arbeitet als Dozentin und Beraterin für Menschenrechte in Cali.