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»Nieder mit dem Unterdrücker – ob Schah oder Führer«

Zur Instrumentalisierung der Revolution in Iran

Von Hamid Mohseni

Ein grauer Mauervorsprung, darauf ein Graffiti.
Trauere nicht, organisiere! Graffiti in Iran. Foto: Twitter

Eine Revolution in einem autoritären Regime wie dem der Islamischen Republik Iran (IRI) mit einer gut vernetzten und aktiven Diaspora birgt eine gefährliche Ambivalenz: Einerseits dient das Exil als überlebenswichtiges Sprachrohr der mutigen Revolutionär*innen im Land, die aufgrund schärfster Repression keine gemeinsame politische Kraft mit eigener Stimme organisieren können, aber globale Aufmerksamkeit brauchen. Denn die Opposition ist zwar da, aber sie befindet sich unter den 500 Getöteten und 20.000 Inhaftierten im Land. Andererseits neigt so eine Diaspora dazu, diese politische Lücke mit ihrer eigenen Agenda zu schließen und diese als »die Forderungen der Iraner*innen« zu verschleiern.

Das hat notwendigerweise zur Folge, viele ineinandergreifende Aspekte der Revolution eindimensional darzustellen. Das Motto der nun über vier Monate anhaltenden revolutionären Bewegung ist »Frau, Leben, Freiheit – auf allen Ebenen, mit allen Mitteln«. Die mutigen iranischen Frauen haben diese Bewegung angestoßen und mit dem Patriarchat zweifellos eine der wichtigsten Säulen der Herrschaft der Mullahs herausgefordert. Aber die IRI hat noch weitere Säulen und nun ist das ganze Land gegen sämtliche Ungerechtigkeiten und Probleme, die im Mullah-Regime zusammenfinden, auf der Straße: neoliberaler Kahlschlag, massive Korruption und Vetternwirtschaft, horrende Inflation, Verelendung der Arbeiter*innen und Armen, Diskriminierung von ethnischen und religiösen Minderheiten, Klimakatastrophen, Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit der jungen Generation und viele weitere. Der Protestsong »Baraye« ist inhaltlich akkurat, weil der Künstler Tweets von Iraner*innen zu allen möglichen Themen zu diesem Lied vereinte und der Komplexität der Revolution damit näherkommt als Artikel von sogenannten Iran-Expert*innen, die alles unbedingt auf einen Punkt bringen wollen.

Projektionsflächen im Namen der »Menschenrechte«

Wenn also (nur) davon gesprochen wird, dass »iranische Frauen gegen Zwangsverschleierung« auf die Straße gingen, wird die Revolution auf den Kampf für politische Freiheiten reduziert. Die schon seit 2017 von den unteren Klassen zum Ausdruck gebrachten und auch jetzt sehr präsenten sozialpolitischen Forderungen nach Brot, Arbeit, Gleichheit und Formen des Protests wie Streik und die Störung der Infrastruktur der Städte werden genauso ausgeklammert wie die antiautoritäre und stark verbreitete Parole »Nieder mit dem Unterdrücker – ob Schah oder Führer«. Das ist angesichts der gravierenden Asymmetrie in der Reichweitenstärke innerhalb der iranischen Diaspora verheerend: Die größten iranischen Exil-Sender sind allesamt mehr oder weniger Monarchie-Unterstützer und liberal; linke Positionen kommen hier so gut wie nicht zu Wort. Es gibt eine klare Gewichtung, was aus der Revolution gezeigt wird – und was nicht.

Die größten iranischen Exil-Sender sind allesamt mehr oder weniger Monarchie-Unterstützer und liberal.

Grundlage für so eine Reduktion sind politische Ideologie und Ablehnung von (vermeintlichen) Widersprüchlichkeiten. Freiheit ist nicht östlich, nicht westlich, sie ist universell – das skandierten die Frauen in Iran 1979 kurz nach der Machtübernahme Khomeinis. Wenn es nach einigen westlich-liberalen »Menschenrechtsaktivist*innen« geht, ist Freiheit allerdings scheinbar doch westlich. Wenn sie nämlich behaupten, dass die Jugend in Iran ganz anders als im arabischen Frühling »areligiös und pro Westen« sei, dann konstruieren sie eine homogenes Ideal, das den eigenen Wertvorstellungen entspricht: Westlich heißt demokratisch, freiheitsliebend, säkular und zivilisiert, das Gegenteil dazu entsprechend muslimisch/religiös, rückständig, gewaltvoll, autoritär. Die iranische Jugend wird instrumentalisiert und durch die Zuschreibungen von außen als Kraft dargestellt, die sich dem Westen und damit Fortschritt und Freiheit »anschließen« wolle. Sie wolle so werden »wie wir«, die Vollendung der Zivilisation und damit eine neue Interpretation von Fukuyamas Credo vom »Ende der Geschichte«.

Noch einen Schritt weiter gehen die exil-iranischen Monarchist*innen um den Sohn des letzten Schahs Reza Pahlavi. Auch sie betrachten sich allesamt selbstverständlich als Anwält*innen für Menschenrechte und maßgebliche Tonangeber*innen für die Revolution. In deren Namen propagieren sie ganz offen konservative Vorstellungen, gegen die sich die jetzige Revolution implizit wie explizit stellt, nämlich, dass die großartige »persische Zivilisation« neben »Patriotismus« das Kernelement dieser Bewegung sei. Genau diese beiden Aspekte konterkarieren eines der wesentlichen Charakteristika der aktuellen Revolution: die minderheitenübergreifende Solidarität. Im Namen des Patriotismus der persischen Zivilisation wurden jahrhundertelang eben jene Gruppen, die nun die Herzkammern der Revolution sind – insbesondere Kurd*innen und Balutsch*innen – unterdrückt, entmenschlicht und getötet, übrigens auch unter der Monarchie.

Zwang der »solidarischen« Einheit

Der Fanatismus, die Menschen in Iran bzw. das, was man in sie hineinprojiziert, in den »Block des Fortschritts« und/oder in konservative Werte wie »Patriotismus« und Persertum einzugliedern, pauschalisiert nicht nur die Bewegung in Iran, sondern auch das Exil. Differenzen, sogar Widersprüchlichkeiten in Ideologien, Weltanschauungen sowie Gesellschaftsbildern werden autoritär negiert: Jetzt müssten ALLE gemeinsam solidarisch sein mit der Revolution in Iran. Einspruch ist nicht gestattet.

Jüngstes Beispiel hierfür liefert ein loses Netzwerk aus einer Handvoll prominenter Exil-Iraner*innen um eben jenen Pahlavi, die sich als Exil-Opposition inszenieren und sich selbst attestieren, im Namen der Iraner*innen eine Art Übergang zu organisieren. Rein rhetorisch geben sie sich erstaunlich inklusiv, offen für Kritik und bescheiden. Doch ein Blick ins Personal zeigt eine ganz klare Dominanz von westlich-orientierten Menschenrechtsliberalen und der Monarchie, hauptsächlich aus den USA agierend und mit besten Verbindungen zu sämtlichen (Ex-)US-Regierungen, ob nun Trump oder Biden.

Die Revolution in Iran führen die Menschen selbst. Das Exil spielt eine wichtige Rolle, aber eine unterstützende.

Es gibt mehrere Argumente gegen dieses Netzwerk. Erstens repräsentieren sie nicht die Diaspora, die deutlich vielfältiger ist, vor allem aber repräsentieren sie nicht die Iraner*innen. Mehr noch: Es ist bedenklich und selbst spalterisch, wenn eine die Revolution prägende Parole den Schah als Unterdrücker ablehnt und dessen Sohn nun im Namen dieser Menschen auftritt. Zweitens hat schon rein formal niemand von außen das Recht, die Revolution in Iran zu vertreten. Die Revolution in Iran führen die Menschen in Iran – Punkt. Das Exil spielt eine wichtige Rolle, aber eine unterstützende. Drittens erschwert dieses Netzwerk die langsame, aber elementare Organisierung und Artikulation der Akteur*innen in Iran selbst. Studierende, freie Gewerkschaften, Eltern von Inhaftierten und Ermordeten, aber auch neu entstandene Nachbarschaftsgruppen verfassen Statements und organisieren politische Aktionen – oft im Untergrund und von Repression bedroht. Sie sind also da. Eine Inszenierung als iranische Opposition von einer Handvoll Aktivist*innen im Ausland allerdings lässt den Blick dafür unscharf werden, insbesondere für Auslandsmedien: Nun haben sie ihre medienaffinen und rhetorisch gewieften (Exil-)Iraner*innen, die ihnen pausenlos Interviews geben.

Wenn man solche Kritik formuliert, wird nicht im Geringsten darauf eingegangen, sondern emotionale Erpressung betrieben: Spalterei, Sektierertum, Verrat – das sind einige der Vorwürfe in inneriranischen Kreisen. Angesichts der revolutionären Freiheitsforderungen ist dieses Verhalten zynisch: Die Menschen in Iran sehnen sich nach gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen sie selbstbestimmt leben können und damit auch offen, konstruktiv und demokratisch miteinander diskutieren, streiten und wichtige Fragen austragen können.

Wir wissen nichts, und das ist gut so

Wenn man eines aus der Revolution 1979 gelernt hat, dann, dass die Revolution kein Planspiel ist. Demokratischer Fortschritt (Abschaffung der Monarchie) und absolut unvorstellbarer worst case (IRI) liegen brutal nah beieinander. Die Ereignisse um 1979 entwickelten sich rasch vom Fortschritt zum worst case und haben der Welt schmerzlich das Risiko einer jeden Revolution aufgezeigt. Eine Revolution kann zugleich wunderschön sein und ungeahnte Pforten zur Hölle öffnen. Und trotzdem ist sie 1979 richtig gewesen.

Anstatt also aus Fehlern zu lernen, richtige und wichtige Schlüsse daraus zu ziehen, finden sich auf der einen wie auf der anderen Seite Schlüsse im Umgang mit 1979, die vom gänzlichen Verlust des politischen Kompasses zeugen oder gefährlich defätistisch sind. Selbsternannte Linke begrüßen noch heute die IRI als das notwendige, weil angeblich anti-imperialistische Übel – sie begrüßen also einen klerikalen Autoritarismus mit faschistoiden Zügen, in denen Linke und Arbeiter*innen unterdrückt werden. Andere, ehemals Linke, verabschiedeten sich komplett von der Idee der Veränderung durch Revolution und werfen gleich alle guten Gründe für die Revolution 1979 auf den Müllhaufen der Geschichte. Dabei sehnen sie sich nach etwas zurück, was es niemals gab: eine Monarchie mit vielen Freiheiten, die nur nicht genug Wertschätzung fanden. Das ist ein Geschichtsrevisionismus, der in der iranischen Moderne seinesgleichen sucht.

In alle Richtungen sei gesagt, dass das Schöne an dieser Revolution frei nach Sokrates doch Folgendes ist: Wir wissen, dass wir nichts wissen. Wir wissen schlichtweg nicht, was die Menschen in Iran jenseits der Ablehnung der IRI denken. Wir wissen nicht, welche Weltanschauung sie warum gut finden oder ob sie eine gänzlich neue produzieren werden. Wir wissen nicht, was am Ende der #IranRevolution herauskommt. Wir wissen nur, dass das, was nun seit vier Monaten in Iran passiert, noch vor einem halben Jahr allerhöchstens Stoff für optimistische Fantasien war: eine pro-kurdische, feministische, von sämtlichen Minderheiten und Arbeiter*innen (mit-)getragene revolutionäre Bewegung gegen die IRI – Ausgang offen.

Hamid Mohseni

ist in Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen. Er verfolgt die Proteste gegen die Islamische Republik seit 2009. Er ist freier Journalist und lebt in Berlin.

Dieser Text erschien zuerst bei rosalux.de.