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|ak 662 | Soziale Kämpfe

Gemeineigentum zurückholen

Über die notwendige Zerschlagung, Rückführung und demokratische Kontrolle neuralgischer Unternehmen

Von Elmar Wigand

Im Verlauf der aktuellen Wirtschaftskrise, die als Corona-Krise in die Geschichtsbücher eingehen wird, müssten folgende Themen ganz selbstverständlich in den Vordergrund rücken: Vergesellschaftung von Unternehmen, Zerschlagung von Monopolen, Enteignung sozialschädlicher Unternehmen, Übernahme und demokratische Kontrolle der Daseinsvorsorge, Wirtschaftsdemokratie. Es ist erstaunlich, dass sie in Deutschland nicht viel stärker diskutiert werden. Das Thema Enteignung und Vergesellschaftung liegt eigentlich auf einem Silbertablett vor uns. Vielleicht müssten wir einfach nur zupacken? Dazu drei Beispiele:

Kritik der Lufthansa-Rettung

Die Bundesregierung rettete die Lufthansa im Juni 2020 für neun Milliarden Euro. Für einen Teil davon hätte sie das ehemalige Staatsunternehmen zum damaligen Börsenkurs leichterhand übernehmen können. Der Staat verzichtete außerdem darauf, durch regulatorische Vorgaben sicher zu stellen, dass für öffentliches Geld auch öffentlicher Mehrwert geschaffen wird, etwa eine klimagerechte Umgestaltung des Flugverkehrs, die Sicherung von anständigen Arbeitsplätzen im Inland, wie sie die Gewerkschaften UFO und VC forderten. Stattdessen ließ sich der Lufthansa-Vorstand von einem »eigenwilligen Selfmade-Milliardär« wie Heinz Hermann Thiele auf der Nase herumtanzen, der die Gunst der Stunde nutzte, um schnell für schlappe 440 Millionen zehn Prozent der Aktien einzukaufen. Das Management wird unter dem Vorwand der Corona-Krise und tatsächlich eingebrochener Reisezahlen genau das durchsetzen, was seit Jahren auf der Agenda des Vorstandsvorsitzenden Carsten Spohr stand: Auslagerung möglichst vieler Bereiche, Absenkung von Sozialstandards. Statt in der Krise Einfluss zu nehmen, befeuert der Staat mit öffentlichem Geld die Umgestaltung von Konzernen nach den immer gleichen, desaströsen Konzepten.

Der Fleischkonzern Tönnies ist durch die Corona-Krise zum Hotspot der Pandemie und zum Symbol für die Ausbeutung osteuropäischer Wanderarbeiter*innen geworden. Stichworte: Werkverträge und Sammelunterkünfte. Mehr noch: Die völlig überdrehte industrielle Fleischproduktion nach US-amerikanischem Vorbild hat Viren wie SARS, Covid, Ebola, Schweinegrippe höchstwahrscheinlich sogar hervorgebracht. Die industrielle Massentierhaltung und Turbo-Schlachtung züchten unfreiwillig aber systembedingt bestimmte Formen von Viren und produzieren fast unweigerlich zoonotische Sprünge, also das Überspringen von Tierkrankheiten auf den Menschen.

Tönnies rückabwickeln

Es ist heute aus einer Vielzahl von Gründen nötig, ganz konkret die Zerschlagung und Rückabwicklung des Tönnies-Konzerns zu fordern. Das klingt weit hergeholt? Ziemlich radikal? Ist es nicht. Die bayerische Landtagsfraktion der Freien Wähler fordert inzwischen, die Schlachtung und Fleischverarbeitung wieder stärker dezentral zu organisieren. »Die Vorfälle der vergangenen Wochen haben uns gezeigt, welche Risiken große, zentrale Strukturen für die Versorgungssicherheit bergen«, erklärte ihr Fraktionsvorsitzender Florian Streibl Ende Juli 2020 völlig korrekt. Schon 2012 fragte ein Branchenfachblatt: »Steht Tönnies vor der Zerschlagung?« Robert Tönnies, der Sohn des Firmengründers Bernd, liegt seit Jahren in einem erbitterten Erbstreit mit seinem Onkel Clemens. Eine Klausel der Schlichtung besagt, dass der Konzern aufgespalten werden muss, wenn keine Einigung erzielt wird. Darauf beruft sich Robert Tönnies jetzt wieder, auch weil er nachhaltiger produzieren will.

Als Folge der Corona-Krise liegt das Thema Enteignung und Vergesellschaftung auf dem Silber­tablett vor uns.

Konzerne wie Tönnies und Westfleisch sind erst durch eine schleichende Aufgabe kommunaler Betriebe, oft Genossenschaften, zu ihrer perversen Größe gelangt. Schlachten war seit Ende des 19. Jahrhunderts Teil der kommunalen Daseinsvorsorge. Schon damals waren Seuchen ein Motor der Entwicklung, die u.a. ein gewisser Robert Koch (1843–1910) zu bekämpfen suchte. Durch städtisch kontrollierte Schlachthöfe sollten Tuberkulose, Typhus und Cholera eingedämmt werden, die aufgrund mangelnder Hygiene grassierten. Diese kommunalen Schlachthöfe machten ab Mitte der 1970er sukzessive in verschiedenen Wellen dicht (zuletzt aufgrund von Lohndumping durch die Hartz-Gesetze ab 2003 und die EU-Osterweiterung um Rumänien und Bulgarien ab 2007), weil sie der Konkurrenz der Turbo-Kapitalisten Tönnies, Westfleisch, Vion u.a. nicht standhalten konnten. Die Zerschlagung und Rückabwicklung des Tönnies-Konzerns wäre also lediglich die Rücknahme einer schleichenden Enteignung der Allgemeinheit. Sie ist aus gesundheitlichen, ökologischen, sozialen, ethischen und demokratischen Gründen notwendig.

Facebook und Google zerschlagen!

Facebook, Google, Amazon und Apple sowie ihre Vorzeige-Figuren standen am 29. Juli 2020 wegen aggressivem Monopolismus und Wettbewerbsverzerrung vor dem US-Kongress und mussten in einer Online-Anhörung Rede und Antwort stehen. Wirkliche Angst dürften Zuckerberg, Bezos und Co. nicht entwickelt haben. Doch mitunter  wenngleich allzu selten  können Konzerne in den USA durchaus zerschlagen werden. So teilte die US-Regierung den Öl-Monopolisten Standard Oil des John D. Rockefeller im Jahre 1911 unter Berufung auf den Sherman Antitrust Act von 1890 in 34 Einzelunternehmen auf. Der Fall gilt als Musterbeispiel. Im September 2019 taten sich die Staatsanwaltschaften von 48 US-Bundesstaaten zusammen, um gegen Facebook und Google vorzugehen.

Auch hier gibt es Rückkopplungen zur Corona-Krise: Erstens profitierten vor allem Amazon als Online-Lieferant, aber auch alle Provider von Online-Kommunikation und Cloud-Diensten vom Lockdown des öffentlichen Lebens. Zweitens: Wenn wir das Aufblühen von Verschwörungsmythen, Fake-News und national-chauvinistischer Menschenfeindlichkeit betrachten  zuletzt die Bewegung der Corona-Leugner*innen , dann werden diese Phänomene (ob gewollt oder ungewollt) ebenso systembedingt herangezüchtet und massenhaft verbreitet wie Viren und zoonotische Sprünge in der industriellen Fleischproduktion. Click- und Aufmerksamkeits-Junkies wie Ken Jebsen, Attila Hildmann und Konsorten leben von ihren Einschaltquoten  Youtube zahlt bares Geld. Milliardenschwere Demagogen wie Trump, Steve Bannon u.a. können die datengestützte Massenmanipulation der Plattformen für vergleichsweise kleines Geld kaufen und die im Rudel jagenden Klick-Junkies leicht auf ihre Seite ziehen, indem sie Themenfelder setzen und für Feedback sorgen. Die Corona-Krise zeigt einmal mehr wie gefährlich und sozialschädlich das ist.

Allein der Umstand, dass die meisten dieser Konzerne EU-Finanzoasen wie Irland nutzen, um Steuern zu vermeiden, sollte Grund genug sein, die Axt an ihre Wurzeln zu legen. Auch hier ist die Eigentumsfrage entscheidend, denn ihre Monopole fußen auf proprietären Plattformen, die Interkonnektivität verhindern. Die Infrastruktur für soziale Netzwerke  aber auch für Dienstleistungen, wie sie die Plattformen Uber, AirBnB, Lieferando ermöglichen  muss daher von öffentlich-rechtlichen Providern gestellt werden, die eine freie Nutzung ermöglichen: Sendeanstalten oder Kommunen. Hier wäre die GEZ-Gebühr um Einiges sinnvoller investiert als in Bundesliga-TV-Rechte. Ein wenig tut sich bereits: Facebook sieht sich im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung seit Mai 2020 mit einem Anzeigen-Boykott konfrontiert (»Stop Hate For Profit«), der den Börsenkurs zumindest für zwei Monate erkennbar drückte.

Während die Privatisierung der Lufthansa und der Schlachthöfe eine Enteignung der Allgemeinheit durch Aufgabe staatlichen und kommunalen Eigentums bedeutete, ist der Fall der weltbeherrschenden US-Online-Riesen komplizierter. Die Enteignung der Allgemeinheit geschah schleichend und auf individueller Ebene durch die User*innen, sie geschah im Falle von Google und Facebook scheinbar kostenlos und  wenn auch ungefragt  scheinbar freiwillig. Es war die Enteignung unserer informationellen Selbstbestimmung.

Das Ringen um öffentlichen Besitz und seine Formen, um Privatisierung, Vergesellschaftung und Wiederaneignung birgt ein Potential, das bei weitem nicht ausgeschöpft ist. Das Thema hat große Sprengkraft, es geht an die Wurzeln. Die Monopolkonzerne stehen bei genauer Betrachtung ohne Legitimation da: Ihre Macht beruht auf einer Enteignung der Gesellschaft und ihrer Individuen, sie hat räuberische, kriminelle Züge. Wir sollten dieses gemeinschaftliche Eigentum zurückfordern.

Elmar Wigand

Elmar Wigand ist Pressesprecher der aktion ./. arbeitsunrecht. Er hat mit Raphael Kamps, Ruth Kreuzer und Jessica Reisner im Juni 2020 eine Fachkonferenz zum Thema »Workers‘ Buy-out: Arbeiter*innen-Kontrolle statt Betriebe schließen?« organisiert.