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Justizwunder gibt es immer wieder

Im Fretterode-Prozess erhielten zwei Neonazis einen Freifahrtschein für Gewalt gegen Journalisten

Von Gina Kessel

Thorsten Heise mit Toto und Harry kurz nach dem Angriff: Hier muss sich wirklich niemand Sorgen um Repression machen. Foto: Marian Ramaswamy

Mit einem Skandalurteil ging am 15. September 2022 der Prozess gegen die zwei Thüringer Neonazis Nordulf H. und Gianluca B. zu Ende. Sie hatten am 29. April 2018 in Fretterode zwei Journalisten verfolgt und brutal angegriffen. Die Staatsanwaltschaft hatte ihnen Sachbeschädigung, gefährliche Körperverletzung und schweren Raub vorgeworfen. Nach mehr als 30 Verhandlungstagen verurteilte das Landgericht in Mühlhausen Nordulf H., der zum Tatzeitpunkt als »Heranwachsender« galt, nun lediglich wegen Sachbeschädigung und gefährlicher Körperverletzung zu 200 Arbeitsstunden. Der zum Tatzeitpunkt volljährige Gianluca B. erhielt eine Bewährungsstrafe von einem Jahr.

Damit blieb das Gericht weit hinter dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft zurück, in dem betont wurde, dass es sich bei dem Vorfall um einen »Angriff auf die freie Presse« gehandelt habe, und Haftstrafen gefordert wurden. Zudem hatte die Staatsanwaltschaft festgestellt, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Raubüberfall gehandelt habe, sondern um einen »politisch motivierten Raubüberfall« – die Angeklagten hätten aus »menschenfeindlichen Motiven« gehandelt.

Kurz nach der Urteilsverkündung zeigte sich Nebenklage-Anwalt Sven Adam erschrocken über das Strafmaß und die Begründung: »Damit haben wir überhaupt nicht gerechnet. Die mündliche Urteilsbegründung ist ein Schlag ins Gesicht der beiden Nebenkläger.« Die Einordnung der Richterin war deutlich: Sie sprach von »zwei ideologischen Lagern«, die »weit auseinander liegen«. Die Kammer gehe davon aus, dass die beiden Angreifer die angegriffenen Journalisten als Angehörige der linken Szene identifiziert hätten und nicht als Pressevertreter, wofür unter anderem das von den Angreifern gerufene »Zecken« spräche.

Sven Adam wundert sich, was das zu bedeuten hätte: Dass man einfach Antifas zusammenschlagen könne und man dafür dann höchstens ein Jahr auf Bewährung zu erwarten hätte? Anwaltskollege Rasmus Kahlen ergänzt: »Das Urteil ist ein Skandal und ein fatales Zeichen an die militante Naziszene.« Als Nebenklage bleiben jedoch nur begrenzte Rechtsmittel, da sie das Strafmaß nicht angreifen können.

Verschleppter Prozess, verhinderte Aufklärung

Was heute im Mühlhausener Gericht geschehen ist, sollte allen ins Gedächtnis rufen, was wie eine Binsenweisheit klingt, aber mitunter doch in Vergessenheit gerät: Im Kampf gegen Rechts sind keine Hoffnungen an Gerichte und Staatsanwaltschaften zu knüpfen. Oder um Esther Bejarano zitieren: »Wer gegen die Nazis kämpft, kann sich auf den Staat überhaupt nicht verlassen.«

Wie schon in so vielen Prozessen vor deutschen Gerichten gegen deutsche Neonazis zeigen sich sowohl im Prozessverlauf als auch im jetzt gesprochenen Urteil, dass zwischen Richterspruch und umfassender Aufklärung manchmal Welten liegen. Im Fretterode-Prozess begann dies schon damit, dass zwischen Tatzeitpunkt und Prozessbeginn fast dreieinhalb Jahre lagen – nicht nur bedingt durch die Corona-Pandemie. Zunächst war die Anklage erst Monate nach der Tat erhoben worden, dann ging der Vorsitzende der Richterkammer in einen vorgezogenen Ruhestand.

Was geschah in Fretterode?

Am 29. April 2018 recherchierten zwei Journalisten in Fretterode, Thüringen. Auf dem Gelände des bundesweit bekannten Neonazis und Mitglieds im NPD-Bundesvorstand, Thorsten Heise, fand an diesem Tag ein Neonazitreffen statt, das die Journalisten dokumentieren wollten. Dabei wurden sie bemerkt und mussten im Auto flüchten. Zwei Neonazis verfolgten sie mit einem BMW. Nachdem die Verfolgungsjagd zum Stehen kam, zerschlugen die Neonazis nach Angabe der Nebenklage die Autoscheiben und versprühten Reizgas ins Innere des Wagens. Einer der Journalisten wurde mit einem Baseballschläger angegriffen und erlitt zudem einen Schlag auf die Stirn mit einem unterarmlangen Schraubenschlüssel, der zu einer Schädelfraktur führte. Der andere Journalist erlitt eine Stichwunde am Oberschenkel. Während der Verfolgung gelang es einem der Journalisten, die Angreifer zu fotografieren und die SD-Karte aus der Kamera sicherzustellen, bevor die Kamera, so die Nebenklage, von den Neonazis gestohlen wurde. Die Täter, Gianluca B. und Nordulf H. (Sohn von Thorsten Heise), befanden sich zu keinem Zeitpunkt nach der Tat in Untersuchungshaft, obwohl sich Nordulf H. für längere Zeit im Ausland aufgehalten haben soll: Laut Antifa-Recherchen absolvierte Nordulf H. in den drei Jahren zwischen Tat und Prozessbeginn seine Ausbildung bei Silvan Gex-Collet in der Schweiz, der als Verantwortlicher für die dortigen Blood-&-Honour-Strukturen gilt.

Erstes Zwischenfazit des Prozesses war dann die miserable Ermittlungsarbeit der Eichsfelder Polizei, die sich vor allem durch Nichtstun auszeichnete. Wie im Laufe des Prozesses beleuchtet wurde, konnten nach der Tat mehrere Personen unter Aufsicht der anwesenden Beamten Gegenstände aus dem Tatfahrzeug entfernen und hineinlegen. Auch eine Durchsuchung nach Tatwaffen oder Raubgut im Haus des NPD-Bundesvizes und rechtsextremen Kameradschaftsführers Thorsten Heise, Vater des Täters Nordulf H., fand nie statt. Lediglich oberflächlich wurde über zwei Stunden nach dem Angriff nach den beiden Tatverdächtigen gesucht. (ak 676) Wie Nebenklage-Anwalt Sven Adam in seinem Plädoyer beschrieb, war die Verhandlung vor dem Landgericht nicht durch, sondern trotz der Ermittlungsarbeit der Eichsfelder Polizei möglich gewesen.

Durchsuchungen bei einem Journalisten

Fast hätte man glauben können, dass die Thüringer Polizei gar nicht weiß, wie man eine Hausdurchsuchung macht, schließlich hatte sie ja am Tag des Überfalls auf die beiden Journalisten keine Durchsuchung von Heises Anwesen oder der Wohnung einer der Angeklagten nach Tatwaffen oder Raubgut durchgeführt. Doch am 13. September, zwei Tage vor dem Urteil, wurde die Wohnung eines Journalisten durchsucht und diverse technische Geräte beschlagnahmt, die er für seine journalistische Arbeit benötigt. Grund für die Dursuchung war eine Anzeige des Thüringer Neonazis Thorsten Heise wegen Verletzung des Kunsturheberrechts.

Der durchsuchte Journalist wird nun beschuldigt in der Nacht zum 28. April 2021 Plakate mit der Aufschrift »3 Jahre kein Prozess« und »Tatort Fretterode« in Hohengandern aufgestellt zu haben. Auf den Plakaten waren die Angeklagten aus dem Fretterode-Prozess zu sehen. Der verdächtigte Journalist war nicht vor Ort und hätte dies in einer einfachen Befragung durch die Staatsanwaltschaft beweisen können. Eine solche Befragung fand jedoch nie statt, trotz bereits im November 2021 beantragter Akteneinsicht durch den Bevollmächtigten des Journalisten. Die Polizei in Thüringen stellt unter Beweis: Durchsuchen kann sie, es ist nur eine Frage des Interesses.

Dazu Rechtsanwalt Sven Adam: »Der Durchsuchungsbeschluss erhält trotz Kenntnis der journalistischen Tätigkeit keinerlei Abwägung mit dem Recht der freien Presse insbesondere auf investigative Tätigkeit (…). Eine solch erhebliche Maßnahme wie eine Wohnungsdurchsuchung und die laut Beschluss gewollte Beschlagnahme diverser technischer Geräte bis hin zu Routern und internetfähigen Fernsehern stellt einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Pressefreiheit dar.« Wenige Stunden, nachdem die Plakate aufgetaucht waren, postete Thorsten Heise ein Video, in dem er Aktivist*innen droht. Es bleibt also zu hoffen, dass die Adresse des Journalisten geschützt und die beschlagnahmten Geräte wieder herausgegeben werden.

Täter-Opfer-Umkehr bis zum Abpfiff

Die Strategie der Anwälte der beiden angeklagten Neonazis, Wolfram Nahrath und Klaus Kunze, schien im Prozess zunächst ins Leere zu laufen. Der Versuch einer Täter-Opfer-Umkehr, nach welcher die Angeklagten die eigentlichen Opfer der »terroristischen Antifa« seien, schien absurd, schlägt sich nun aber im Urteil nieder – obwohl das Gericht die journalistische Tätigkeit der beiden Nebenkläger bereits am dritten Prozesstag anerkannt hatte.

Auch in ihrem Plädoyer am 7. September 2022, genau ein Jahr nach Prozessbeginn, hatte die Verteidigung an ihrer Linie festgehalten. Trotz der Untersuchung der von den Journalisten während der Verfolgung geschossenen Fotos und deren bestätigter Echtheit durch einen Sachverständigen des LKA Thüringen behaupteten Kunze und Nahrath weiter, dass die Fotos gefälscht seien. Auch der aus dem Online-Shop von Thorsten Heise stammende Baseballschläger, mit dem einer der Journalisten angegriffen wurde, sollte, so ihre Behauptung, von den Journalisten selbst mitgebracht worden sein. Dazu Nebenklagevertreter Sven Adam: »Die gesamte Verteidigungsstrategie folgt dem Willen zur Leugnung, Verharmlosung und Täter-Opfer-Umkehr und ist empörend. Die beiden Nebenkläger waren als Fachpresse aus Recherchegründen anwesend und sind als Fachpresse ohne zu rechtfertigenden Grund gejagt, brutal angegriffen und erheblich verletzt worden. Die beiden Täter sind Neonazis, die mit dem bewussten und in der Szene kommunizierten Feindbild Presse den Angriff begannen, über längeren Zeitraum und längeren Weg führten und mit dem bewussten und gewollten Entwenden der Fotoausrüstung unter Anwendung von Gewalt und unter Einsatz von Waffen beendeten. Das ist unsere Sicht auf die Beweisaufnahme. Es ist lediglich glücklichen Zufällen zu verdanken, dass niemand an diesem Tag gestorben ist.«

Aus einem Justizwunder werden drei

Mit dem Ende dieses Prozesses treten nun Sohn Nordulf und Ziehsohn Gianluca in die Fußstapfen ihres (Zieh-)Vaters Thorsten Heise, der schon seit Jahren als regelrechtes Justizwunder gilt. Ob es nun versuchter Totschlag, schwere Körperverletzung, Landfriedensbruch, Nötigung, Volksverhetzung oder die Verwendung verfassungsfeindlicher Kennzeichen war – wenn es um Thorsten Heise ging, ließ die Justiz in bemerkenswerter Regelmäßigkeit Milde walten. Heute scheint dieser Staffelstab weiter gegeben worden zu sein.

Laut der Rechercheplattform EXIF – Recherche & Analyse, gilt Heise als »Kristallisationsfigur und Spiritus Rector« von Combat 18 und ist die zentrale Führungsfigur der Arischen Bruderschaft. Das Logo der Arischen Bruderschaft, zwei gekreuzte Stabhandgranaten, sieht dem Logo der als Sonderkommando Dirlewanger bekannten SS-Einheit zum Verwechseln ähnlich und ist auf einem Schlauchschal einer der Täter deutlich zu erkennen. Das Sonderkommando Dirlewanger war während des Nationalsozialismus an diversen Kriegsverbrechen beteiligt und ermordete systematisch unbewaffnete Zivilist*innen. Eben diese Schlauchschals und andere Artikel sind in Thorsten Heises Onlineshop erhältlich.

Die Arische Bruderschaft tritt nicht nur als Kameradschaft, sondern auch als Sicherheitsdienst bei diversen rechten Veranstaltungen auf, beispielsweise bei den von Thorsten Heise veranstalteten Schild-und-Schwert-Festivals in Ostritz 2018 und 2019. Im Prozess bestätigte Gianluca B. nach einem Beweisantrag der Nebenklage, mehrfach als Ordner aktiv gewesen zu sein. Beide Angeklagten bestätigten im Prozess, an extrem rechten Demonstrationen und Rechtsrockveranstaltungen wie dem Schild-und-Schwert-Festival teilgenommen zu haben. Das Gutshaus Hanstein in Fretterode, Wohnort von Heise, fungiert der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus in Thüringen (Mobit) zufolge als Treffpunkt und Rückzugsraum für die extreme Rechte aus Thüringen und ganz Deutschland.

Politische Gegner brutal anzugreifen und nur durch Zufall nicht umzubringen, scheint dem Urteil zufolge minderproblematisch, solange man sie nicht als Presse erkennt.

Thorsten Heises Sohn, Nordulf H., ist ein seit Jahren bekanntes Gesicht bei Aufmärschen und Versammlungen. Ein von der Initiative Tatort Fretterode veröffentlichtes Bild zeigt ihn mit einem Transparent mit der Aufschrift »Lügenpresse« beim rechtsextremen »Eichsfeldtag« 2017. Der zweite Angeklagte, Gianluca B., wohnte zum Zeitpunkt der Tat ebenfalls auf dem Gut Hanstein in Fretterode. Er war bis 2018 Vizevorsitzender der NPD in Niedersachsen und wurde im April 2021 für seine Beteiligung am Neonazi Angriff auf Leipzig-Connewitz im Januar 2016 zu einem Jahr und zwei Monaten auf Bewährung verurteilt.

Was dieses Urteil für die beiden betroffenen Journalisten, die den Angriff nur durch Zufall überlebten und die jahrelang um diesen Prozess kämpfen mussten, bedeutet, ist schwer vorzustellen. Die Lehre der Nazis aus diesem Verfahren wird jedenfalls sein, dass sie mit staatlich ausgestelltem Freifahrtschein auch weiterhin Menschen angreifen können. Und wenn dann einer tot ist, kommt irgendein Oberbürgermeister und sagt auf einer Mahnwache: »Das ist ein Warnsignal.« Politische Gegner*innen brutal angreifen und nur durch Zufall nicht umzubringen, scheint dem Urteil zufolge jedenfalls minderproblematisch, solange man sie nicht als Presse erkennt.

Gina Kessel

studiert Soziologie und Geschichte. Meistens liest sie eure Zuschriften, denn sie kümmert sich bei ak um den Vertrieb. Diesmal dürft ihr von ihr lesen.

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