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Fretterode-Kartell

Im Verfahren gegen zwei Thüringer Neonazis zeigt sich, wie wenig das Umfeld von Thorsten Heise von der Polizei zu befürchten hat

Von Gina Kessel

Wer sich zum Clan von Thorsten Heise zählen darf, muss von den Verfolgungsbehörden wenig befürchten. Foto: Erik-Holm Langhof/Wikimedia, CC BY-SA 4.0

Wer sich zum Clan von NPD-Bundesvize und rechtsextremen Kameradschaftsführer Thorsten Heise zählen kann, darf anscheinend mit erheblichem Augenzudrücken und wenig Verfolgungseifer der Polizei rechnen. Das ist wohl das Fazit der vergangenen Prozesstage im sogenannten Fretterode-Prozess. In diesem Verfahren sind die beiden Neonazis Nordulf H. und Gianluca B. angeklagt, die am 29. April 2018 zwei Journalisten verfolgt, schwer verletzt und ausgeraubt haben. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen Sachbeschädigung, gefährliche Körperverletzung und schweren Raub vor. Am siebten Prozesstag (4. Oktober 2021) wurden im Verfahren gegen die Neonazis Gianluca B. und Nordulf H. vier Polizeibeamte vernommen, die nach dem Angriff am Anwesen von Nordulfs Vater Thorsten Heise ermittelten.

Dabei ergab sich unter anderem, dass mehrere Personen unter Aufsicht der anwesenden Beamten Gegenstände aus dem Tatfahrzeug entfernen und hineinlegen konnten. Darunter war auch ein »Mieter« von Familie Heise, dessen Identität die Beamten während der gerichtlichen Vernehmung nicht mehr erinnern konnten. Auf Anweisung der Polizeiinspektion Eichsfeld warteten die Beamten über zwei Stunden mit der »Durchsuchung« des Wohnhauses von Familie Heise. Gesucht wurde hier allerdings erfolglos nur nach den beiden Tatverdächtigen. Nach Tatwaffen oder dem Raubgut (die Fotoausrüstung der Journalisten) wurde nicht gesucht, ebenso wurden keine Personalien von den sich im Haus befindenden Personen aufgenommen. Die Beamten gaben an, mit einer späteren, der Strafprozessordnung folgenden Durchsuchung gerechnet zu haben. Eine solche Durchsuchung fand jedoch nie statt. Das Gebäude mit Wohnsitz eines der Tatverdächtigen, welches sich ebenfalls auf Heises Grundstück befindet, wurde ebenfalls nicht durchsucht. Zu diesem Zeitpunkt war den Beamten die Adresse des Tatverdächtigen bereits bekannt.

Der Beamte fragte einen der Nazi-Verteidiger: War das in Ordnung, was ich da gerade gesagt habe, oder war das total kacke?

Ein Vorgehen, das schon für sich genommen genügend Fragen aufgeworfen hätte, doch ein Gespräch in einer Verhandlungspause setzte diesem Vorgehen die Krone auf: Nur zufällig schnappte Sven Adam, Anwalt der Nebenklage, eine Unterhaltung zwischen einem zuvor vernommenen Beamten und einem der Verteidiger der Nazis auf. Der Beamte fragte den Verteidiger: »War das in Ordnung, was ich da gerade gesagt habe, oder war das total kacke?« Nach Angaben der Landespolizeidirektion läuft gegen diesen Beamten mittlerweile ein internes Ermittlungsverfahren. »Die Qualität der Ermittlungsarbeit der Polizeibeamten vor Ort ist abgründig, grenzt an Arbeitsverweigerung und ist einzig mit schlechter Ausbildung nicht mehr zu erklären«, ärgert sich Adam über die Ermittlung der Eichsfelder Polizei. »Hätten die beiden Betroffenen die SD-Karte mit Fotos von einem der Täter nicht gesichert, könnten die Täter für diese brutale Tat nicht belangt werden. Die Eichsfelder Polizei war keine Hilfe, und das Gespräch mit einem der Verteidiger in einer Verhandlungspause lässt unangenehm viel Raum für Spekulationen hinsichtlich der Gründe für dieses Versagen«, so Adam weiter.

Täter-Opfer-Umkehr

Vor Gericht räumten die Angeklagten Nordulf H. (22) und Gianluca B. (27), die nach Angaben der Initiative Tatort Fretterode Mitglieder der Arischen Bruderschaft sind, den Übergriff teilweise ein, indem sie versuchten, ihr Verhalten als Notwehr darzustellen. Ein Messer hätten die Tatverdächtigen angeblich nie dabeigehabt. Ein Beamter soll zwar das Vorhandensein eines Messers dokumentiert haben, es erfolgte jedoch keine Sicherstellung. Auch einen bei der Tat eingesetzten Baseballschläger sollen nach Angabe der Verteidigung die beiden Journalisten mitgebracht haben.

Der Baseballschläger entspricht dabei exakt einem der Modelle, die sich noch immer im Onlineshop von Thorsten Heise bestellen lassen. Die bekannten Nazi-Verteidiger Wolfram Nahrath und Klaus Kunze nähren, neben dem Versuch einer Täter-Opfer-Umkehr, die Mär von einer terroristischen Antifa, deren Mitglieder die betroffenen Journalisten angeblich seien. Darüber hinaus behaupten sie, dass die Fotos der Journalisten gefälscht seinen. Dies wird versucht anhand einzelner Zeugenaussagen zu begründen, die andere Zeiten als die auf den Fotos befindlichen Zeitmarken angeben. Wie erfolgreich diese Verteidigungsstrategie ist, bleibt abzuwarten.

Medizinische Gutachten

Am achten Prozesstag präsentierte eine leitende Professorin des Instituts für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Jena ihr Sachverständigengutachten. Die Schilderung des einen Journalisten, mit einem Messer angegriffen worden zu sein, wurde im Gutachten gestützt. Als Ursache einer solchen Verletzung komme nur ein Messer als Tatwerkzeug in Frage. Ein Angriff mit einem Messer hätte im Rahmen der beschriebenen Dynamik tödlich enden können, so die Professorin.

Auch der Schlag mit dem Schraubenschlüssel hätte, wenige Zentimeter weiter am Schläfenknochen, zu einer lebensgefährlichen Verletzung führen können. Der Tatverdächtige Gianluca B. hatte angegeben, dass ihm durch einen Schlag mit dem Baseballschläger sein kleiner Finger gebrochen worden sei. Bei der ärztlichen Behandlung unmittelbar nach der Tat sprach er jedoch von einer Quetschung. Die Sachverständige bestätigte seine ursprüngliche Angabe und meinte, es sei unwahrscheinlich, dass diese Verletzung durch einen Schlag mit dem Baseballschläger verursacht wurde. Der Anwalt der Nebenklage zeigt sich zufrieden: »Das ist eine außerordentlich qualifizierte Verfahrensführung vonseiten des Gerichts«, sagte Anwalt Adam.

Was geschah in Fretterode?

Am 7. September 2021 begann der Fretterode-Prozess vor dem thüringischen Landgericht in Mülhausen. Angeklagt sind zwei Thüringer Neonazis denen die Staatsanwaltschaft Sachbeschädigung, gefährliche Körperverletzung und schweren Raub vorwirft. Am 29. April 2018 recherchierten zwei Journalisten in Fretterode, Thüringen. Auf dem Gelände des bundesweit bekannten Neonazis und Mitglied im NPD-Bundesvorstand, Thorsten Heise, fand an diesem Tag ein Neonazitreffen statt, dass die Journalisten dokumentieren wollten. Dabei wurden sie bemerkt und mussten im Auto flüchten. Zwei Neonazis verfolgten sie mit einem BMW. Nachdem die Verfolgungsjagd zum Stehen kam, zerschlugen die Neonazis nach Angabe der Nebenklage die Autoscheiben und versprühten Reizgas ins Innere des Wagens. Einer der Journalisten wurde mit einem Baseballschläger angegriffen und erlitt zudem einen Schlag auf die Stirn mit einem unterarmlangen Schraubenschlüssel, der zu einer Schädelfraktur führte. Der andere Journalist erlitt eine Stichwunde am Oberschenkel. Während der Verfolgung gelang es einem der Journalisten die Angreifer zu fotografieren und die SD-Karte aus der Kamera sicherzustellen, bevor diese, so die Nebenklage, von den Neonazis gestohlen wurde. Die Täter, Gianluca B. und Nordulf H. (Sohn von Thorsten Heise) befanden sich zu keinem Zeitpunkt nach der Tat in Untersuchungshaft, obwohl sich Nordulf H. für längere Zeit im Ausland aufgehalten haben soll: Laut Antifa-Recherchen absolvierte Nordulf H. in den drei Jahren zwischen Tat und Prozessbeginn seine Ausbildung bei Silvan Gex-Collet in der Schweiz, der als Verantwortlicher für die dortigen Blood & Honour Strukturen gilt. Seit dem 22. Oktober 2021 befindet sich der Prozess in Pause, der nächste Verhandlungstag ist der 22. November 2021. Bisher sind für das kommende Jahr 18 weitere Verhandlungstage angesetzt, der letzte Verhandlungstag ist voraussichtlich der 31. März 2021.

Der weitere Verlauf des Prozesses bleibt jedoch offen. Von der Verteidigung sind mehrere Beweisanträge gestellt worden, unter anderem zur Prüfung der Echtheit der Fotos und auch des politischen Backgrounds der Nebenkläger. Eine Verurteilung der beiden Neonazis ist wahrscheinlich — wie die Urteile ausfallen werden jedoch weiterhin unklar. Befürchtungen bestehen, dass der Prozess mit einem (wie so oft) milden Urteil für die Neonazis endet. Dennoch scheint die Beweislage so eindeutig und die Tat so brutal, dass es abzuwarten gilt. Der erste Verhandlungstag nach der Pause am 22. November 2021 wird sich voraussichtlich mit der Vernehmung eines Kriminalhauptkommissars beschäftigen, die durch Detailfragen verschoben wurde. Begleitet wird der Prozess von der Kampagne Tatort Fretterode und NSU-Watch.

Gina Kessel

studiert Soziologie und Geschichte. Meistens liest sie eure Zuschriften, denn sie kümmert sich bei ak um den Vertrieb. Diesmal dürft ihr von ihr lesen.