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Ein Sitz für alle

Mit Kollektivmandaten hacken soziale Bewegungen in Brasilien das Repräsentationsprinzip der Demokratie

Von Charlotte Drath

Collage. Vorne in mehreren Reihen Auschnitte von Menschen, viele von ihnen lächeln. Im Hintergrund rechts eine dichte Siedlung. In der MItte die brasilianische Flagge und rechts ein Foto des Parlaments. Von beiden Seiten legen zwei Hände einen Wahlzettel in eine Box.
Mit dem Kollektiv ins Parlament: Weil viele Aktivist*innen alleine keinen Wahlkampf stemmen könnten, kandidieren sie zusammen. Collage: Maria Antônia Lisboa

Üblicherweise laufen Wahlen in repräsentativen Demokratien so ab: Eine Person tritt an, es gibt einen Wahlkampf, dann die Wahl, dann die Verteidigung des Mandats. In Brasilien sorgt seit 2020 eine neue Strategie der Kollektivmandate für frischen Wind in den Wahlkämpfen und in den Regierungshäusern des Landes.

Kollektivmandate beschreiben eine Strategie, sich gemeinsam mit anderen für einen Sitz im Stadt-, Landes-, oder Bundesparlament aufzustellen und das Mandat bei erfolgreicher Wahl auch gemeinsam auszuführen. Die Auslegung dieses Prozess ist dabei vielfältig: Mal sind sie zu zweit, mal sind es hunderte Personen. Mal verfolgen sie eine thematische Agenda, mal mehrere Ziele gleichzeitig, sind mal parteiübergreifend, mal parteikonform, meistens aber haben sie eine Mitte-Links-Ausrichtung. Im linken Lager treten keine Berufspolitiker*innen, sondern Aktivist*innen oder Arbeiter*innen an. Sie nennen sich Bancada Ativista (Aktivist*innen-Fraktion), Pretas (Schwarze Frauen) oder Juntas (Gemeinsam). Zwar ist die Idee nicht neu, mehr Basisbeteiligung mit repräsentativer Demokratie zu verknüpfen, doch nach ersten Versuchen vor der Jahrtausendwende nimmt das Konzept in Brasilien erst jetzt richtig Gestalt an und ist mittlerweile nicht mehr aus der politischen Landschaft wegzudenken.

Sauerstoff für die brasilianische Politik

Ziel der Strategie kollektiver Mandate ist es, unterrepräsentierte und diskriminierte Stimmen zu verstärken, Kräfte zu vereinen, thematische Ausrichtungen zu diversifizieren und so – wie es Forscher*innen des Psychologie-Instituts der Staatlichen Universität São Paulos analysieren »das traditionelle repräsentative System der brasilianischen Politik mit Sauerstoff« versorgen. Die linken Kollektivkandidaturen sind häufig in Basiskämpfen im Kultur- oder Bildungsbereich organisiert und kommen oft aus der Peripherie, aus den marginalisierten Randgebieten der Städte, deren Bewohner*innen mehrheitlich zur Schwarzen Bevölkerung gehören. Sie wissen, dass fast keine*r von ihnen einen Wahlkampf allein stemmen oder gar gewinnen würde.

Im Jahr 2018 gab es die ersten namhaften linken Kollektivmandate im Bundesstaat São Paulo. Der 46-jährige Fernando Ferrari vom Kollektiv Bancada Ativista ist einer von neun, die damals zum ersten Mal einen gemeinsamen Sitz im Abgeordnetenhaus einnahmen. Unter ihnen ist eine Umweltaktivistin, eine indigene Frau und die Transikone und Menschenrechtsaktivistin Erika Hilton, die mittlerweile Bundesabgeordnete ist. Ferrari, selbst Aktivist und in der Kulturszene tätig, sagt gegenüber ak: »Wir sind 2018 das Mandat mit den zehntmeisten Stimmen im ganzen Bundesstaat gewesen« und deutet damit eine starke Legitimierung der Wahlstrategie an. Die neun Co-Kandidat*innen haben in ihren jeweiligen Regionen mobilisiert und tragen so auch Themen aus neun unterschiedlichen Realitäten in das Landesparlament. »Mein Thema war immer die Peripherie. Niemand hat die auf dem Schirm. Es sind die unsichtbaren Themengebiete, der Genozid (1), Femizide, der ›Krieg gegen die Drogen‹.« Zudem sei das Kollektiv »natürlich auch viel effizienter als ein Einzelkandidat«, so Ferrari.

Spätestens seit 2020 ist die Strategie auch im ganzen Land angekommen. Waren es 2016 noch 98 Kollektivkandidaturen und 22 gewählte Kollektivmandate, sind es 2020 über 300 Kandidaturen und 24 gewählte Mandate bundesweit. In São Paulo, der größten Stadt Lateinamerikas, sind mit dem Quilombo Periférico (antirassistisches Kollektiv) und der Bancada Feminista (Fraktion der Feminist*innen) seit 2020 gleich zwei Kollektivmandate im Stadtrat vertreten.

Débora Dias ist 22 Jahre alt, als sie im Jahr 2020 als eine von sechs Co-Gewählten des Quilombo Periféricos, einem anti-rassistischen Kollektiv, das geteilte Amt antritt. Sie beschreibt gegenüber ak, wie zu Anfang großes Unverständnis auf den Fluren herrschte, als plötzlich mehrere Personen einforderten, ein Mandat zu vertreten. »Aber es hat keinen Monat gedauert, bis die Unruhestifter aus dem rechten Lager aufgehört haben, zu behaupten, wir würden uns unrechtmäßige Privilegien durch das Kollektivmandat erschleichen. Wir sind hier, um zu arbeiten. Und das machen wir hervorragend. Jetzt respektieren sie uns.«

Als Gründe für den Boom der Kollektivmandate führt Dias die Krise der Repräsentation an, die die Politik des Landes schon seit ewig mitträgt, aber seit 2013 gänzlich explodiert ist. Der Juni 2013 wird als Wendepunkt in der brasilianischen Politik bezeichnet, als die Institutionen an Legitimität verloren und die Polarisierung zunahm. Diese Zeit war geprägt vom Bekanntwerden großer Korruptionsskandale, den größten Massenproteste gegen soziale Ungerechtigkeiten seit Ende der Diktatur und einer sich anbahnenden Wirtschaftskrise.

»Seitdem wir ein Mandat besitzen, bewegen wir uns in einem Raum, der für uns normalerweise nur als Zuschauer*innen offen ist.«

Débora Dias

»Die Kollektivmandate sind eine Antwort auf diese Krise, sie sind ein Werkzeug, um Repräsentanz zu gewinnen. Vor der Wahl des Quilombos Periféricos gab es nur zwei Schwarze Frauen im Stadtrat.« Dias ist eine Schwarze, lesbische Frau aus der Peripherie. Schon als Jugendliche begann sie sich politisch zu engagieren, trat kurz vor Beginn ihres Studiums dem afrobrasilianischen Kollektiv UNEAFRO Brasil bei. Als ihre ehemalige Mentorin sie fragte, ob sie nicht Teil der Kollektivkandidatur für São Paulo werden will, erzählt sie, dass sie erstmal nur laut auflachen konnte. Sie im Stadtrat, das hätte sie sich nie im Leben träumen lassen. »Seitdem wir ein Mandat besitzen, bewegen wir uns in einem Raum, der für uns normalerweise nur als Zuschauer*innen offen ist […] und unser Mandat ist nun die Antwort auf die ›Peripherie‹, über die sonst nur in der dritten Person gesprochen wurde. Jetzt sind wir selbst präsent in diesem Raum.«

Seit der letzten Parlamentswahl von 2022 nehmen Frauen nur 17,7 Prozent, Schwarze Personen nur 26 Prozent der Sitze in Nationalkongress ein. Und dass, obwohl mehr als die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung Frauen sind, und sich 56 Prozent als Schwarz identifizieren.

Demokratie und Kapitalismus

»Gibt es eine echte Demokratie im Kapitalismus? Nein – oder zumindest ist es sehr komplex«, sagt Fernando Ferrari. Um sich auf das unfaire Spiel einzulassen, brauche es kreative Wege. »Es gab keine offenen Türen für uns. Also haben wir Wege gesucht, um die Politik zu besetzen. Entweder wir schaffen es, die Agenda mitzubestimmen, oder wir verlieren an die Rechtsextremen. Und wir sind auf dem besten Wege dahin«, so Ferrari.

In der brasilianischen Wahlgesetzgebung sind Kollektivmandate bislang nicht vorgesehen, aber auch nicht verboten. Immer noch wird lediglich eine Person gewählt, die auch die Einzige ist, die offiziell den Stuhl besetzen darf, an Abstimmungen teilnimmt und in Ausschüssen vertreten ist. Alle anderen Co-Mandatsträger*innen sind offiziell als wissenschaftliche Mitarbeiter*innen angestellt. Sie dürfen nicht an Plenar- oder Ausschusssitzungen teilnehmen. Auch sind sie zwar formell nicht als Co-Mandatsträger*innen anerkannt, aber sie formulieren diese Mandatsteilung eigenständig in ihrer kollektiven Kommunikation nach außen.

Seit den Parlamentswahlen 2022 dürfen die Namen der Kollektive hinter dem Namen der offiziellen Kandidat*in angegeben werden. Und sie wollen noch mehr: Als nächstes sollen Fotos der Kollektive auf den Wahlzetteln erscheinen. Außerdem fordern sie mehr Rechte für Co-Gewählte.

Die Kollektive dürften jedoch nicht romantisiert werden. Nicht wenige zerbrechen an internen Streits, an Machtkämpfen und an Austritten einzelner Mitstreiter*innen, so auch das Mandat von Fernando Ferrari. Sind sie zu Beginn zu neunt gestartet, am Ende waren sie nur noch zu zweit. Débora Dias fügt hinzu: »Vielleicht werden unsere sozialen Basisbewegungen irgendwann entscheiden, nicht mehr die Strategie verfolgen, im Wahlkampf anzutreten. Dann werden wir vielleicht eine andere Taktik verfolgen. Denn die Kollektivmandate sind weiterhin nur ein Handwerkzeugs, nicht das Ziel.«

Bei den anstehenden Kommunalwahlen im September 2024 werden wieder mehr Kollektivmandate zur Wahl stehen. Das Quilombo Périferico ist wieder dabei. Und mit Guilherme Boulos hat in São Paulo auch ein linker Politiker aus der Bewegung der wohnungslosen Arbeiter*innen Chancen auf den Bürgermeisterposten.

Ob auch in Europa demnächst Klima- oder andere soziale Bewegungen in Parlamente einziehen? – Es bahnt sich etwas an. Von der Erfahrung aus Brasilien könnten sie sicherlich viel lernen.

Charlotte Drath

lebt zurzeit in São Paulo und arbeitet als politische Bildnerin in den Themenfeldern Demokratie und Gesellschaft.

Anmerkung:

1) Gemeint sind willkürliche, rassistische Polizeigewalt sowie Massen-Polizeimorde in den armen Stadtteilen der Peripherien, die sich unter dem Deckmantel der Aufklärung von u.a. Drogendelikten häufig gegen arme, Schwarze Menschen – häufig Jugendliche – richtet.