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Es braucht eine linke China-Perspektive

Warum es gerade jetzt so wichtig ist, mehr über die sozialen Kämpfe in dem asiatischen Land zu lernen, berichtet Daniel Fuchs

Interview: Merle Groneweg

Demonstrierende in Hongkong verschanzen sich hinter Regenschrirmen. Offensichtlich sind Tränengasgranaten explodiert. Einige tragen Gasmasken, man sieht Rauch
Die Massendemonstrationen in der halbautonomen Region Hongkong 2019/20 zählten zu den wenigen Protestbewegungen, die es in den vergangenen Jahren in die deutschen Medien schafften. Foto: Studio Incendo /Flickr, CC BY 2.0 Deed

Die öffentliche Wahrnehmung von China hat sich in den letzten Jahren deutlich ins Negative gewendet, es dominiert der Blick auf die geopolitischen Machtbestrebungen und den autoritären Führungsstil Xi Jinpings. Dabei ist in China vieles in Bewegung, Proteste unterschiedlicher Communities und Arbeitskämpfe haben deutlich zugenommen. Ein differenzierterer Blick auf das Land ist dringend geboten, meint der Sozialwissenschaftler Daniel Fuchs.

»Wir können die Zukunft nicht ohne China denken«, heißt es in der Einleitung zu eurem Sammelband – warum ist es so wichtig, dies immer wieder zu wiederholen?

Daniel Fuchs: Man kann China, die größte Exportnation der Welt, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, nicht ausblenden, wenn es um die Zukunft unseres Planeten geht – vor allem in Hinblick auf die großen Herausforderungen der Menschheit, also die Abwendung der Klimakatastrophe, die Reduzierung der weltweiten Armut oder auch Abrüstung. Ohne ein Verstehen, Mitdenken und einen gewissen Grad an Kooperation mit China ist nichts davon denkbar. Für die sozialwissenschaftliche Chinaforschung ist das natürlich kein neuer Gedanke. Aber wir möchten als Wissenschaftler*innen in die gegenwärtigen Chinadebatten intervenieren, die sich hierzulande massiv verschoben haben. Das in den 1990ern und frühen 2000er Jahren dominant gewordene »Narrativ der Angleichung« ist mittlerweile verklungen. Es besagte, dass zunehmende marktwirtschaftliche Reformen dazu führen würden, dass China sich an »den Westen« angleicht und in die US-geführte liberal-kapitalistische Weltordnung eingliedert. China galt also nicht nur als Werkbank der Welt und für viele westliche Großkonzerne als »Markt der Zukunft«, sondern man nahm an, dass auch Tendenzen zu mehr Rechtsstaatlichkeit und Liberalisierung zunehmen würden. Dieses modernisierungstheoretische Narrativ wird gerade von einem Narrativ abgelöst, das China als Bedrohung darstellt.

Wer und was sind die Treiber des Narrativs »China als Bedrohung«?

Diese Wahrnehmung basiert ganz grundlegend auf den wirtschaftlichen Erfolgen des chinesischen Staatskapitalismus und der damit verbundenen Tatsache, dass chinesische Unternehmen zu ernsthaften Konkurrenten für amerikanische und europäische Konzerne auf dem Weltmarkt wurden. Dabei geht es um die Kontrolle von Schlüsselsektoren im Hochtechnologiebereich, die die globale Wertschöpfung in Zukunft prägen werden, aber auch um den Zugriff auf die dafür notwendigen Rohstoffe. In den USA hat dieses Narrativ spätestens unter der Trump-Regierung verfangen. In Europa kann man eine veränderte Wahrnehmung von China vor allem seit 2017 beobachten, gewissermaßen als Reaktion auf chinesische Investitionen in europäische Unternehmen und in Infrastruktur. Wichtig zu erwähnen ist jedoch, dass auch die zunehmend repressivere Herrschaft unter Xi Jinping eine negative Erzählung befördert hat, konkret etwa die Masseninhaftierung von Uigur*innen, die Stärkung der Führungsrolle der Partei oder die Konzentration von Macht auf Xi.

Foto: Privat

Daniel Fuchs

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für für Asien- und Afrikawissenschaften an der HU Berlin und Mitherausgeber des Buches »Die Zukunft mit China denken«. Er hat mehrere Jahre im Land verbracht und dort unter anderem zu Arbeitskämpfen geforscht.

Es gibt immer häufiger Forderungen nach einem »Decoupling«, inzwischen auch vorsichtiger formuliert als »Derisking«, um etwa die Abhängigkeit von chinesischen Lieferanten zu reduzieren.

Ja, allerdings herrscht unter deutschen politischen und wirtschaftlichen Eliten diesbezüglich keine Einigkeit. Einerseits wird das Bedrohungsnarrativ auch in Deutschland befördert, siehe die deutsche China-Strategie. Andererseits steht diese negative Erzählung von China den Interessen jener deutschen Großkonzerne entgegen, die nach wie vor vom chinesischen Absatzmarkt abhängig sind. Parallel zu der Debatte um ein »Derisking« – also einer Reduzierung von Investitionen in und Handel mit China –, haben Unternehmen wie Volkswagen oder BASF neue Investitionen in Milliardenhöhe in China getätigt. Hier gibt es innerhalb der Eliten Deutschlands klare Interessenswidersprüche.

Beide Erzählungen – China als Partner und China als Konkurrent – stützen letztlich die geopolitischen und kapitalistischen Interessen der Regierungen von EU-Staaten und Unternehmen. Was sind die Herausforderungen für linke Positionierungen in dieser Debatte?

Besonders schwerwiegend finde ich, dass es kaum solidarische, internationalistische Alternativentwürfe in Hinblick auf die geoökonomische und geopolitische Situation gibt. Dazu trägt auch die zunehmende imperialistische Rivalität zwischen den USA und ihren Verbündeten auf der einen Seite sowie China auf der anderen Seite bei. China gegen die USA, China gegen Deutschland – dieses Denken in nationalstaatlichen Konfigurationen prägt die öffentliche Debatte. Demgegenüber werden Auseinandersetzungen mit den gesellschaftspolitischen Verhältnissen, darunter auch klassenanalytische Perspektiven, vernachlässigt. Über die sozialen Kämpfe in China – von Arbeiter*innen, Feminist*innen, LGBT- und Umweltaktivist*innen – wissen hierzulande nur wenige Bescheid. Ebenso wenig wie über progressive Positionen innerhalb der chinesischen und asiatischen Communities hier in Deutschland, etwa in der Organisierung gegen anti-asiatischen Rassismus. Aus kritischer, linker Perspektive liegt hier der zentrale Ansatzpunkt: Wir müssen diese Perspektiven, Strategien und Forderungen »von unten« verstehen lernen. Das bedeutet übrigens auch, dass die Bereitschaft wachsen sollte, sich mit der chinesischen Sprache auseinanderzusetzen.

Die Bereitschaft sollte wachsen, sich mit der chinesischen Sprache auseinanderzusetzen.

Daniel Fuchs

Du beschäftigst dich selbst intensiv mit Arbeitskämpfen in China. Welche Veränderungen beobachtest du im Land?

Mitte der 2010er Jahre hat in China eine neue Phase der Arbeitskämpfe begonnen. Dabei sind – vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Klassenzusammensetzung – bedeutende räumliche und sektorale Verschiebungen zu beobachten: Zum einen haben sich die Zentren von Arbeitskämpfen von den Küstenregionen ins Landesinnere verschoben. Der Hintergrund ist, dass viele Wanderarbeiter*innen nicht mehr bereit sind, weit entfernt von ihren Herkunftsorten zu arbeiten, und häufig innerhalb der Provinzgrenzen Zentral- und Westchinas bleiben. Ermöglicht wurde dies durch die Verlagerung von Produktionsstandorten ins Landesinnere, begleitet von massiven staatlichen Investitionen. Zum anderen findet nur mehr ein sehr geringer Teil der dokumentierten Arbeitskämpfe, weniger als zehn Prozent, in der verarbeitenden Industrie statt. Ein Großteil der Proteste, nämlich bis zu 40 Prozent, ereignet sich in der Bauindustrie. Und auch Streiks im Dienstleistungssektor haben deutlich zugenommen. Außerdem sind aktuell viele Arbeitskämpfe auf defensive Forderungen beschränkt. Anfang der 2010er Jahre gab es vermehrt Streiks mit offensiven Forderungen – beispielsweise nach Gewerkschaftsreformen oder nach Löhnen, die über lokal festgesetzte Mindestlöhne hinausgehen. Doch zwischen 2015 und 2021 haben sich fast 80 Prozent der Forderungen in den registrierten Arbeitskämpfen auf Lohnrückstände bezogen.

Zugleich hat die Repression nicht nur gegenüber Arbeitskämpfen zugenommen, sondern es gibt insgesamt kaum Räume für eine kritische Organisierung 

Ja, das gilt auch in Hinblick auf die Organisierung von Arbeiter*innen: Der Allchinesische Gewerkschaftsbund ist als »Massenorganisation« ein Teil der Partei und wird von Arbeiter*innen nicht als Interessensvertretung anerkannt. Außerhalb dessen gibt es keine Räume für eine stabile, langfristige Organisierung. In der Vergangenheit waren es vor allem NGOs, in denen sich Arbeiter*innen verständigen und Erfahrungen geteilt werden konnten, doch auch diese Orte des Austauschs und der Beratung sind seit Mitte der 2010er Jahre massiv von Repression betroffen. Seit der Machtübernahme von Xi Jinping agiert die Partei- und Staatsführung deutlich restriktiver gegenüber zivilgesellschaftlichen Organisationen, so dass ein großer Teil der früheren Organisationen nicht mehr existiert; es gab auch viele Verhaftungswellen.

Trotzdem kommt es in China beinahe täglich zu Protesten ganz unterschiedlicher Art. Welche anderen Themen und Tendenzen beobachtest du?

Ja, Schätzungen zufolge finden in China tagtäglich dutzende öffentliche Proteste statt. Wichtig für die Einordnung ist, dass sich diese Proteste in der Regel nicht direkt gegen die Partei- und Staatsführung richten. Im Gegenteil: Proteste – egal ob aufgrund von Lohnrückständen oder etwa Umweltverschmutzung – kritisieren die Führung in Beijing nur in den seltensten Fällen unmittelbar. Sie  adressieren sie als Instanz, die einschreiten soll, um lokale Missstände zu beheben. Das heißt, dass auch eine große Zahl an Protesten nicht notwendigerweise auf eine Infragestellung der Legitimität des Parteistaates hindeutet. Was ich dennoch als große Herausforderung für die Zukunft der politischen Führung in China verstehe, ist die Tatsache, dass unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine gewisse Perspektivlosigkeit herrscht. Die Jugendarbeitslosigkeit hat stark zugenommen, aber auch der Unmut über die harte Arbeitskultur, Bullshit Jobs und geringe Aussichten auf sozialen Aufstieg – gerade im Vergleich zur Elterngeneration. Das äußert sich bis dato nicht in öffentlichen Protesten, ist im gesellschaftlichen Diskurs aber deutlich zu vernehmen. Ein Beispiel ist der weit verbreitete Begriff tang ping, auf Deutsch »flachliegen«, mit dem junge Chines*innen ausdrücken, dass sie sich bestimmten Erwartungen am konkurrenzgetriebenen Arbeitsmarkt nicht mehr beugen.

Angesichts dieser desillusionierten Stimmung unter jungen Menschen: Was ist die Zukunftsvision der chinesischen Staatsführung?

Innerchinesisch geht es darum, ein höheres Wohlstandsniveau für breitere Schichten der Gesellschaft zu erreichen – trotz der zahlreichen ökonomischen Krisenerscheinungen. Zugleich gibt es den Anspruch, sich als technologische und militärische Großmacht zu positionieren. Eine zentrale Erzählung der chinesischen Führung ist der »Wiederaufstieg der großen chinesischen Nation« bis 2049. Damit ist gemeint, dass China nach einem Jahrhundert der Demütigung, das mit dem Opiumkrieg 1840 beginnt und mit der Gründung der Volksrepublik 1949 endet, erneut zu einer führenden Nation in der Welt wird. Damit verbunden ist der bereits erwähnte Aufstieg in globalen Wertschöpfungsketten, um Technologieführerschaft zu übernehmen. Es geht aber auch darum, dass China einen entsprechenden geopolitischen Einfluss erhält, also mehr Mitbestimmung in internationalen Organisationen bekommt und hierbei eine Führungsrolle für die Interessen des Globalen Südens einnimmt. Das westliche Narrativ von China als Bedrohung wird dabei im chinesischen Diskurs dankbar aufgegriffen und inhaltlich ins Positive verkehrt, denn es ermöglicht auch eine Form der Selbstorientalisierung der chinesischen Führung, ein Verweisen auf die vermeintliche »Andersartigkeit« chinesischer Politik auf globaler Ebene.

Merle Groneweg

schreibt über den globalen Kapitalismus. Zu ihren Schwerpunkten gehören Rohstoff- und Handelspolitik ebenso wie Konflikte in den China-USA-Beziehungen. Sie arbeitet für kritische Medien und NGOs, darunter PowerShift e.V.

Daniel Fuchs, Sascha Klotzbücher, Andrea Riemenschnitter, Lena Springer, Felix Wemheuer (Hg.): Die Zukunft mit China denken. Mandelbaum, Wien 2023. 384 Seiten, 28 EUR.