Neuanfang am Küchentisch
Vor 40 Jahren entstanden mit ISD und Adefra zwei Vereine, die das Selbstbild mehrerer Generationen Schwarzer Menschen prägten
Von Faheem Hemboum
Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) und Adefra (Afrodeutsche Frauen) feiern 2025 und 2026 ihr 40. Jubiläum. Im Laufe ihres Bestehens prägen beide Organisationen das (Selbst-)Bild mehrerer Generationen Schwarzer Menschen in Deutschland und gehen entscheidende Schritte sowohl zu einer Institutionalisierung politischer Teilhabe als auch machtkritischer Selbstorganisation. Auch, wenn beide Vereine bei ihrer Gründung vor allem Menschen mit einer bestimmten biografischen Erfahrung ansprechen, wird Schwarzsein durch ihre Arbeit als diverse und doch verbindende politische Selbstbezeichnung verbreitet. Sie ist mehr Statement als (Haut-)Farbe, offen für die Rassismuserfahrungen von anderen, jedoch klar verbunden mit dem afrikanischen Kontinent und dessen Diaspora.
Das Recht auf die eigene Geschichte, die eigene Herkunft und den eigenen Namen steht von Beginn an im Vordergrund. ISD und Adefra üben Kritik an den jahrhundertelang genutzten Fremdbezeichnungen, an den – bis heute – medial verbreiteten Bildern und Stereotypen und der Ignoranz und Anmaßung gegenüber Jahrtausende alter afrikanischer und mehrere hundert Jahre umfassender afrodeutscher Geschichte.
Trotz unterschiedlicher Vorstellungen und Konflikte schaffen sie Raum für Schwarze Communities und ein Verständnis für die Biografien historischer Figuren wie Anton Wilhelm Amo und unterstreichen die Bedeutung von Zeitzeug*innen des Nationalsozialismus wie Gert Schramm, Theodor Wonja Michael und Fasia Jansen. Sie knüpfen durch ihre umfangreiche historische und biografische Arbeit an die Erfahrung von Organisationen wie dem 1918 in der Weimarer Republik gegründeten Afrikanischen Hilfsverein an und zeigen, dass Schwarze Menschen eine widerständige Geschichte jenseits der Projektionen von kolonialer Nostalgie und imperialen Machtverhältnissen haben.
»Farbe bekennen«
Arbeiten wie »In Audre’s Footsteps« mit dem passenden bildlichen Untertitel »Transnational Kitchen Table Talk und Mobilizing Black Germany« unterstreichen die Bedeutung von Sorgearbeit im Kontext des Community Building. Jenseits hegemonialer politischer Diskurse und ohne Verankerung in wissenschaftlichen Institutionen wirken Schwarze Frauen (und Männer) als »quotidian intellectuals«, als alltägliche Intellektuelle, die vom Küchentisch aus an globale Narrative des Schwarzseins anknüpfen. Dieses Bild ist mehr als nur symbolisch: Die ersten Treffen fanden in privaten Wohnungen statt. Als Stätten der Wissensproduktion und Archive Schwarzer Geschichte in Deutschland nehmen ISD und Adefra eine zentrale Rolle bei der Artikulation eines politischen Schwarzen Bewusstseins und eines grenz- und identitätsüberschreitenden Antirassismus und Feminismus ein.
Die epistemologische Leere, die Abwesenheit Schwarzer Identität in Geschichte und Gegenwart, die Verleugnung einer deutschen Verantwortung für die Entmenschlichung durch Kolonialismus und Nationalsozialismus sowie die Weigerung, sich kollektiv mit der rassistischen Normalität auseinanderzusetzen werden durch eine Reihe von Arbeiten konfrontiert, deren bekannteste und wahrscheinlich auch international bedeutendste »Farbe bekennen« ist, herausgegeben von May Ayim, Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz.
Das Recht auf die eigene Geschichte und den eigenen Namen stehen von Beginn an im Vordergrund.
Durch die frühen Jahre zieht sich der Begriff »Afrodeutsch«, der in Auseinandersetzung mit der afroamerikanischen Identität die Erfahrungen von weiß sozialisierten Menschen mit Schwarzem und weißem Elternteil beschreibt. Die politische Definition als »Schwarze Deutsche«, die andere bevorzugten, verbindet damit auch die Rassismuserfahrungen und das antirassistische Bewusstsein von Menschen jenseits der afrikanischen Diaspora. Beide Begriffe stellen laut der US-amerikanischen Wissenschaftlerin Tina Campt die traditionelle Vorstellung deutscher Identität infrage. Wie Eleonore Wiedenroth-Coulibaly und Sascha Zinflou in ihrem Beitrag zu 20 Jahren ISD in dem von Afrotak TV/cyberNomads herausgegebenen »The Black Book« schreiben: Mit ihrer Gründung widersprachen ISD und Adefra den »Lebenslügen« der Abwesenheit von Schwarzen Menschen in der Geschichte, als auch von Rassismus in der deutschen Gesellschaft. Die Familie der ISD-Mitgründerin Abenaa Adomako etwa, deren Urgroßvater 1891 aus Kamerun nach Deutschland gekommen ist, lebt seit fünf Generationen in Deutschland und kann somit Rassismus und Widerstand in mehr als hundert Jahren deutscher Geschichte bezeugen.
Anders als Adomako kommen jedoch viele der Frauen (und Männer), die in der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Identität und der Suche nach Gemeinschaft Adefra und ISD gründen, nicht aus Schwarzen Familien, sondern sind oft bis ins Erwachsenenalter die einzigen Schwarzen Menschen in ihrem Umfeld und haben wenig Referenzpunkte für ihre alltäglichen Erfahrungen. Im Gegensatz zu anderen ehemaligen Kolonialmächten fehlt Schwarzen Communities in Deutschland eine gemeinsame Geschichte oder ein Erfahrungsrahmen, der sich ohne weiteres für die Konstruktion ihrer gemeinsamen Identität eignen würde.
Afrodeutsche und Schwarze Deutsche haben nicht nur in der Kolonialzeit bedingte familiäre Verbindungen nach Afrika, sondern oft auch in Länder ohne deutsche Kolonialgeschichte oder andere Länder, in denen ihre Verwandten der afrikanischen Diaspora angehören. Auch in der Elterngeneration bestehen zahlreiche soziale Unterschiede: Afrodeutsche mit länger zurückreichender Familiengeschichte, Migrant*innen, Studierende, Geflüchtete und Vertragsarbeiter*innen mit unterschiedlichen Ressourcen in Bezug auf Mobilität und politische Teilhabe sowie je nach ihrer Klasse auch zu Sprache und Bildung.
Rundbrief und DDR
Wie der ehemalige ISD-Vorstand Tahir Della 2017 in einem Interview schildert, ist der Verein bei seiner Gründung eher akademisch geprägt und versammelt politisch interessierte Menschen mit überwiegend deutscher Sozialisation. Della erzählt aber auch von der gemeinsamen Arbeit der 1987 gegründeten Münchener ISD-Gruppe mit der afrikanischen Studierendenunion und anderen national organisierten afrikanischen Gruppen und dem Aufeinandertreffen mit den Frankfurter Young Black Souls, einer Gruppe von Jugendlichen mit afrikanischen Eltern in den 1990er Jahren. Auch in anderen Städten suchen Aktive der ISD den Schulterschluss mit bereits länger bestehenden afrikanischen Organisationen.
Der Rundbrief, den die Organisator*innen nach dem ersten Bundestreffen 1985 versenden, macht deutlich, wie viel gegenseitige Anteilnahme es gibt und wie sehr sich die Teilnehmenden in den Schilderungen ihrer Erlebnisse wiederfinden. In dem Brief geht es darum, dass die »Gesprächsrunde bei jeder und bei jedem einzelnen etwas in Bewegung« setzt, da »vieles von dem Erwähnten, von dem Angesprochenen auch immer wieder ein Stück eigener Erfahrung« widerspiegelt.
Schon 1986 werden über die Mauer hinweg Kontakte in die DDR und nach Ost-Berlin aufgebaut. Im selben Jahr erscheint »Farbe bekennen« und ermöglicht – aufbauend auf May Ayims Diplomarbeit und Familiengeschichten von mehreren Generationen afrodeutscher und Schwarzer Frauen – eine historische Verortung von Schwarzsein in Deutschland, die bis heute prägend und wegweisend ist.
Die Arbeit mit der US-amerikanischen Autorin und Aktivistin Audre Lorde, aber auch die Sichtbarkeit der Mitherausgeberin von »Farbe bekennen«, Katharina Oguntoye, als Schwarze Lesbe inspirieren queere Schwarze Frauen, sich eigene Räume zu schaffen. In den folgenden Jahren schaffen die Aktivist*innen von ISD und Adefra internationale Verbindungen, insbesondere durch die Zusammenarbeit mit anderen queeren und Schwarzen Feminst*innen und durch die Teilnahme an Konferenzen und Kongressen oder den Besuch der Schwarzen Buchmesse in London.
In Deutschland treten beide Organisationen zunehmend durch die Äußerung von politischen Forderungen und die öffentliche Kritik an rassistischen Diskursen in Erscheinung.
Der für die gegenhegemoniale Kultur- und Wissensproduktion wichtige Black History Month, der auf Carter G. Woodsons Association for the Study of African American Life and History zurückgeht, findet 1990–2001 jährlich in Berlin statt.
Afrekete und afro look
Ab 1988 erscheinen zudem zwei Schwarze Zeitschriften: Afrekete (bis 1990) und afro look (bis 1999), die zum Teil internationale Bekanntheit erlangen und zum Gegenstand akademischer Arbeiten in den englischsprachigen German Studies werden. Der Name Afrekete bezieht sich dabei auf eine Figur aus Audre Lordes Mythobiografie Zami, die eine zentrale Rolle für die Definition und Konsolidierung von Lordes feministisch-politischem Selbstbild spielt. Wie die Wissenschaftlerinnen Maisha M. Auma, Katja Kinder und Peggy Piesche schreiben, wird Afrekete wie auch Lorde selbst zu einer »Patin für die Selbst- und Welterforschung Schwarzer FrauenLesben im Westberlin der 1980er Jahre und dann in weiteren Teilen des deutschsprachigen Raumes«.
Heute ist die Zeitschrift ein Archiv gegenhegemonialen Schwarzen und queeren Wissens. Zur Zeit ihres Erscheinens wirkt Afrekete als diskursive Intervention eines Schwarzen queeren Feminismus, der, lange bevor der Begriff Intersektionalität in Deutschland bekannt wird, das Ineinandergreifen verschiedener Formen von Unterdrückung kritisiert und Schwarzen Frauen durch das Schreiben eine Stimme und einen Weg zu Selbstreflexion und Empowerment bietet.
In den Ausgaben von afro look lassen sich die vielfältigen Identitätsverhandlungen und Auseinandersetzungen mit den Konzeptionen von Schwarz- und Deutschsein über einen längeren Zeitraum nachverfolgen. Als Jugendmagazin startet Oliver George Seifert mit der ISD das Projekt Blite. Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren recherchieren, rezensieren und kommentieren Schwarzes Leben. Ein Blick in die Zeitschrift zeigt, wie wegweisend und nachhaltig das Engagement der Jugendlichen ist.
2002 wird in der vierten Ausgabe mit Mitarbeit von Joshua Kwesi Aikins ein Artikel über Berlins koloniale Vergangenheit veröffentlicht. 2025 wird schließlich in Mitarbeit von ISD, Adefra und anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen das 2019 vom Senat in Auftrag gegebene Berliner gesamtstädtische Erinnerungskonzept »Kolonialismus erinnern« an Kultursenatorin Wedl-Wilson überreicht, in das die wissenschaftliche, politische und Bildungsarbeit mehrerer Jahrzehnte einfließt.
Das Verhältnis zu Deutschland bleibt ebenfalls ambivalent. Für manche selbstverständlich Heimat und Teil der Herkunft, für die anderen eine biografische Fußnote.
Die vor allem von Schwarzen Frauen vorangetriebene inhaltliche politische Auseinandersetzung ist ein Kennzeichen von ISD und Adefra. Doch trotz, oder gerade wegen Perspektiven, die schon früh weit über die europäischen Grenzen hinausreichen, finden besonders aus den frühen Generationen manche ihre Heimat außerhalb von Deutschland. In Afrika, den USA, der Karibik, Frankreich, England oder den Niederlanden. Andere treffen die Entscheidung, ihr Leben zu beenden. Viele Texte und Gespräche zeigen: Der Leidensdruck, unter dem in einem weißen Umfeld sozialisierte Schwarze Menschen leben, ist auch heute noch enorm. Das Verhältnis zu Deutschland bleibt ebenfalls ambivalent. Für manche selbstverständlich Heimat und Teil der Herkunft, für die anderen eine biografische Fußnote.
Schwarze Menschen in Deutschland sind überwiegend prekarisiert und zugleich in Bereichen wie Sport und Kultur und inzwischen auch in der Werbung zunehmend sichtbar. Dennoch gibt es nach wie vor viele Schwarze Menschen, die erst im Verlauf ihrer Jugend oder im Erwachsenenalter die Möglichkeit erhalten, sich mit anderen auszutauschen, ihre Rassismuserfahrungen zu thematisieren und Gegenstrategien zu entwickeln.
Aufspüren, Schaffen, Archivieren
Die aktuelle Formierung der Rechten und die Prognosen der kommenden Wahlen sowie die immer offener rassistischen Diskurse der regierenden Parteien erinnern an die angespannte Situation nach dem Ende der DDR und der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl 1993. Viele erinnern sich an Drohungen und offene Gewalt. Neben einzelnen Erfolgen wie dem Verbot des N-Wortes in mehreren Städten oder der endlich erfolgten Straßenumbenennungen im Afrikanischen Viertel gibt es heute Unklarheit über die Umsetzung des Erinnerungskonzeptes unter dem konservativen Kulturstaatsminister Wolfram Weimer. Zudem sind viele Schwarze Menschen in Kunst, Kultur und sozialen Bereichen doppelt betroffen, da mit dem Wegfall finanzieller Mittel Stellenangebote im Bereich der außerschulischen Förderung und kulturellen Bildung und damit die ohnehin eingeschränkte soziale und politische Teilhabe Schwarzer Menschen bedroht sind.
Aus den Reihen und unter Beteiligung von Mitgliedern von ISD und Adefra werden Projekte wie der braune Mob und die neuen deutschen Medienmacher*innen initiiert. Gemeinsam mit Organisationen wie dem Migrationsrat und der Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt arbeitet die ISD in der Kampagne Death in Custody Tode von (häufig rassifizierten) Menschen in Gewahrsam auf. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Schwarzen Vereinen und Organisationen, die an den Ideen von ISD und Adefra anknüpfen und mit lokaler Verankerung eigene Schwerpunkte bilden. Die literarische Sammlung der Bibliothek von Vera Heyer wird bei Each One Teach One weitergeführt und kuratiert, während der Nachlass von Theodor Wonja Michael 2022 die Gründung der ersten Schwarzen Bibliothek in Köln ermöglicht. Viele der theoretischen Fragen, die in Publikationen wie afro look und Afrekete, aber auch in zahlreichen Biografien und wissenschaftlichen Arbeiten diskutiert werden, finden ihren Einzug in die Konzeption von Intersectional Black European Studies, einem bis Ende 2023 geförderten Projekt, das maßgeblich auf Adefra zurückgeht.
Auch wenn es also bis auf weiteres keine institutionelle Basis gibt – Black Studies ist, was ISD und Adefra seit ihrer Gründung praktizieren: Das Aufspüren, Schaffen und Archivieren von Schwarzem Wissen in Auseinandersetzung mit einer globalen Tradition Schwarzer Wissensproduktion und in Verbindung mit anderen afrikanischen, afrodiasporischen und migrantischen Selbstorganisationen. Wo mediale Repräsentation bruchstückhaft bleibt, bilden sie Zugänge zu kollektiver politischer Handlungsmacht.