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|Thema in ak 717: Die neuen Kriege

Gekommen, um zu bleiben

Kriege, Kriegsregime und das Ende der geopolitischen Überschaubarkeit

Von Katja Maurer

Ein Mann mit grüner Uniform und runder olivgrüner Mütze steht zentral vor einem ebenso olivgrünen Lautsprecher (oder Radar).
Die Fotos im Thema sind von Nikita Teryoshin und stammen aus seiner mehrfach ausgezeichneten Arbeit »Nothing Personal – The Back Office of War«, die den globalen Waffenhandel thematisiert.

Erinnerst du dich? Als russische Panzer auf Kiew zufuhren und einer bereits vor dem Rathaus der zweitgrößten ukrainischen Stadt Charkiw stand? Der Schreck fuhr allen in die Glieder. Olaf Scholz sprach von Zeitenwende. Souverän, Politik und Staat erlebten binnen kürzester Zeit nach der Corona-Pandemie erneut den Ausnahmezustand. Das Virus hatte bereits kriegerische Metaphern in die Politik gebracht. Der französische Präsident Emmanuel Macron sagte beispielsweise beim Corona-Ausbruch: Wir sind im Krieg – und brachte Militär auf die Straßen Frankreichs.

Der russische Angriff auf die Ukraine ist ein echter Krieg. Alles, was der Staat und seine teils von Militärs geführten Krisenstäbe während Corona gelernt hatten, kam nun mit dem Krieg gegen die Ukraine, der als Krieg gegen (West-)Europa gedeutet wird, erst recht zum Tragen. Im Ausnahmezustand herrscht bekanntlich der Souverän. Es gibt keine Öffentlichkeit mehr, in der die grundlegenden Fragen diskutiert werden. Stattdessen erleben wir den, wie Habermas schrieb, »Zerfall der politischen Öffentlichkeit«. Der kommt dem Souverän gerade recht. Kriegstüchtigkeit ist das Wort der Stunde; kaum eine*r protestiert. Der Militärhaushalt explodiert. Die Schuldenbremse ist gestrichen. Das Bürger*innengeld für ukrainische Geflüchtete vielleicht bald auch. 

Der spanische Philosoph und Aktivist Raúl Sánchez Cedillo nannte diese Militarisierung der Politik, der Medien und der Ökonomie kurz nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine ein »Kriegsregime«. In seinem Buch »Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine« beschreibt er es als ein mit klaren Feindbildern ausgestattetes System, das in der katastrophischen Unordnung der Welt angesichts von Klimakatastrophe und Hegemonieverlust des Westens, wieder Ordnung schafft, Freund und Feind sortiert, ja, zu einer totalen Mobilmachung in der Lage ist: In den Medien durch die Verengung des Diskurses, auf der Straße durch gewalttätigen Polizeieinsatz zum Beispiel gegen propalästinensische Demonstrant*innen. Das Kriegsregime, sagte Sánchez Cedillo damals in einem Interview mit der Vierteljahreszeitschrift von medico international, sei der Fluchtweg für »die radikale Mitte«. Diese sich nach rechts wendende Mitte, die das Fundament EU-Europas darstellt, findet in der Gut-Böse-Dichotomie des Kriegsregimes die Legitimation für die radikale Verteidigung der eigenen Interessen, zur Not auf Kosten der bislang behaupteten Selbstdefinition als Anhängerin von Menschenrechten und Universalismus. 

Keine Regeln, keine Wahrheit

Das zeigt sich spätestens seit den vernichtenden Angriffen des israelischen Militärs gegen die Zivilbevölkerung in Gaza. Auch wenn in Deutschland eine Bevölkerungsmehrheit gegen die israelische Kriegsführung ist, die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begeht, herrscht weithin ein beredtes Schweigen. So werden alle durch ihre Augenzeug*innenschaft – es geschieht schließlich vor unserer aller Augen – zu Kompliz*innen. Das Kriegsregime in Deutschland, das sich nicht auf einen klassischen Nationalismus, aber auf antimigrantische Rhetorik stützen kann, braucht als wesentliches Selbstverständnis die Beziehung zu den USA und Israel. Weshalb weder die politisch-ökonomische Elite noch signifikante Teile der deutschen Bevölkerung die israelischen Verbrechen in Gaza und in der Westbank als das radikal Neue im Zeichen des Kriegsregimes wahrnehmen wollen und können. Das israelische und das russische Kriegsregime und ihre Kriege haben die Tür zu einer Welt aufgestoßen, in der es keine Regeln, keine Wahrheit und eine Sprache des Vierten Imperiums gibt, die alles Offenkundige verhüllt und den Wahn zur Tatsache macht. Auf militärischem Gebiet wie in der Sprache herrscht das Recht des/der Stärkeren. 

Der friedliche Horizont verläuft jenseits des einseitigen Rechthabens.

Spätestens seit dem Gaza-Krieg ist deutlich, dass der Versuch, eine globale Bipolarität zu schaffen, einen Kampf der Demokratie gegen den Autoritarismus auszurufen, die globalen Auseinandersetzungen nicht adäquat beschreibt. Krieg und Kriegsregime, so schreiben es Sandro Mezzadra und Brett Neilson in ihrem Ende vergangenen Jahres erschienenen Buch »The Rest and the West«, seien Kennzeichen einer »zentrifugalen Multipolarität«. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat diese Form der Globalisierung enorm beschleunigt. Das höchst erfolgreiche russische Kriegsregime, das die Opposition brutal zum Schweigen gebracht hat und die Gesellschaft und Ökonomie entlang der Notwendigkeiten des Krieges zu formieren versteht, stößt auf empörte Ablehnung des Westens, um dort unmerklich reproduziert zu werden.

Weitergedrehte Nekropolitik

Wenn Krieg, Kriegsregime, zentrifugale Multipolarität die Begriffe sind, mit denen sich Weltgeschehen heute beschreiben lässt, dann sind klassische geopolitische Kategorien wenig hilfreich, um zu verstehen, in welcher Welt wir leben. Sie haben noch dazu den Nachteil, dass sie im Grunde immer noch mit den Gut-Böse-Kategorien hantieren. Mezzadra und Neilson argumentieren in ihrem Buch gegen ihren eigenen Titel, der entlang des traditionellen linken Diskurses missverstanden werden kann. Sie schreiben: »Wir sprechen nicht von einer verfassten Multipolarität, einer erneuerten regelbasierten oder liberalen Ordnung, sondern von einem unausgewogenen Entstehen unterschiedlicher Pole, die vor allen Dingen die Idee des Zentrums angreifen.« Der »Rest« ist also keine einheitliche Kategorie und der »Westen« nicht mehr als eine Macht, die sich im Prozess der schmerzhaften Dezentrierung befindet, der allerdings noch immer über die mit Abstand größte Militärmacht verfügt. Eigentlich, schreiben die beiden, seien »Westen« und »Rest« ebenso wertlose Kategorien wie globaler Norden oder globaler Süden, Zentrum, Peripherie oder Semiperipherie. Geopolitische Hoffnungsträger*innen – eine reine Fehlanzeige.

Stattdessen erleben wir eine ungeahnte Ausbreitung der Nekropolitik. Als Achille Mbmembe diesen Begriff Anfang der 2000er Jahre aufbrachte, um eine Politik zu beschreiben, die Zonen schafft, in denen große Bevölkerungsgruppen wie lebende Tote gehalten werden, hatte er vielleicht schon Gaza, Haiti oder Teile des Kongos im Sinn. »Ferngesteuerte No-Go-Zones« nannte er sie auf einer medico-Konferenz. Heute könnte man das Kriegsregime als Teil und zugleich eine Verschärfung der Nekropolitik bezeichnen. Aus Zonen der lebenden Toten werden sich selbst überlassene Todeszonen (wie in Haiti) oder der militärischen und humanitären Vernichtung anheim gegebene (wie in Gaza). Nekropolitik schafft Todeszonen entlang der Migrationsrouten, und das Kriegsregime sorgt dafür, dass dies hingenommen wird.  

Auch wenn Unterschriftenlisten und Proteste einen Waffenstillstand in Gaza fordern – so schnell wird es kein Ende der Katastrophen wie dieser geben. Das Kriegsregime ist gekommen, um erst einmal zu bleiben. »Das Kriegsregime enthält keinen Vorschlag für eine soziale ökologische Transformation. Und in Wahrheit ist der gesamte grüne Diskurs deshalb ruiniert. Statt eines ökologischen Umbaus erleben wir nun die Renaissance der fossilen Energien. Das alles zu einer Zeit, da wir überhaupt keine Zeit mehr haben und der Anstieg der Treibhausgase uns schon jetzt in die Katastrophe treibt«, so Sánchez Cedillo. Die Politik der Alternativlosigkeit der letzten 30 Jahre, die noch jeden Aufstand oder bescheidenen Protest zunichte gemacht hat, treibt neue Blüten im Kriegsregime. 

Aus der Hoffnungslosigkeit heraus handeln

Es gibt keine Vorschläge, die schnell aus dieser Katastrophe herausführen; linke Politik muss heute aus der Hoffnungslosigkeit heraus operieren. Soziale Kämpfe auf lokaler oder nationaler Ebene bieten wenig Aussicht darauf, das Kriegsregime und die Kriege zu bekämpfen. Billigere Mieten machen uns immer noch zu Augenzeug*innen und Kompliz*innen der großen Menschheitsverbrechen, denen wir beiwohnen. Mezzadra und Neilson schlagen als Kriterien für Gegenmacht Politiken der Befreiung vor, die zugleich Friedenspolitiken sein müssen.

Nimmt man die beiden Kriege, die in diesem Artikel aufscheinen – Ukraine und Gaza –, dann ist das kein einfaches Oppositionsprogramm. Eine Politik der Befreiung beharrt auf dem Recht der Gerechtigkeit oder doch wenigstens dem Völkerrecht. Friedenspolitik, eine Politik gegen den Krieg und das Kriegsregime, muss zugleich verstehen, dass es einen Sieg in diesen Kriegen nicht geben kann. Der friedliche Horizont – nur der verheißt Zukunft – verläuft jenseits des einseitigen Rechthabens. 

Das gibt zu denken mit Blick auf die Ukraine und Palästina. Den Bevölkerungen und politischen Bewegungen in Gaza und der Ukraine, deren Katastrophen unterschiedlich sein mögen, aber doch je eigene Katastrophen sind, solche Politiken abzuverlangen, erscheint schwierig. Aber überraschende Wendungen sind möglich. Ein Blick nach New York genügt. Zohran Mahmadani – ein Sozialist mit muslimisch-indischen Wurzeln und ugandischer Staatsbürgerschaft – hat Chancen, nächster Bürgermeister der Metropole zu werden.

Das gelang ihm u.a. mit einer glasklaren Verurteilung des israelischen Vorgehens in Gaza, was ihm überraschend große Unterstützung durch die jüdische Bevölkerung in New York eingebracht hat. Die Stimmung unter New Yorker Jüdinnen und Juden kippe, so der jüdische Journalist und bekennende Ex-Zionist Peter Beinart kürzlich. »Wir sollten die willkommen heißen, die erst jetzt erkennen, welche Verbrechen in Gaza begangen werden«, schreibt er in seinem Newsletter, »und die würdigen, die schon lange darauf aufmerksam machen«. So könnte eine mögliche Friedenspolitik aussehen. Eine nämlich, die die Rechthaberei hinter sich lässt.

Katja Maurer

ist freie Journalistin und war viele Jahre für die sozialmedizinische Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international tätig.

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