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|Thema in ak 716: Pride und Klassenkampf

Schwule Männlichkeit als Produkt der Klassenverhältnisse

Geschichte einer kollektiven Identitätsbildung

Von Bilke Schnibbe

Zwei gezeichnete Männer in Togas mit Lorbeerkränzen auf dem Kopf die sich im Gesicht streicheln
Vielleicht waren sie ja nur gute Freunde? Bild: Miguel Hermoso Cuesta, CC by 4.0

Er und er – zwei Eltern, die ihr Kind zur KiTa bringen. Sie und sie tragen jetzt den gleichen Ring – alles ganz normal«, sangen 2018 die lesbische Schlagersängerin Kerstin Ott und Helene Fischer im Song »Regenbogenfarben«. Zur Veröffentlichung traten beide mit dem Lied am 1. Weihnachtsfeiertag 2018 in der »Helene-Fischer-Show« auf, welche über 5,5 Millionen Zuschauer*innen erreichte. Der Gipfel der queeren Emanzipation, könnte man meinen.

Wir sind ganz normal

Was Helene Fischer und Kerstin Ott besingen, ist das Bild der bürgerlichen Kleinfamilie. Der Unterschied besteht lediglich in der gleichgeschlechtlichen Wahl des Partners bzw. der Partnerin. Hier gibt es nichts zu sehen, wovor sich die bürgerliche Mittelschicht fürchten muss – nichts, was die bestehende gesellschaftliche Ordnung gefährdet. Auch Homos können gute Staatsbürger*innen sein.

Die normalen Schwulen stehen in dieser Hymne schwulen Arbeiter*innen, Sex Worker*innen und (trans-)femininen Schwulen gegenüber. Letztere wurden und werden im kapitalistischen System durch Justiz, Polizei und die Psychiatrie am meisten kontrolliert, weil sie sich am deutlichsten von der bürgerlichen Normvorstellung unterscheiden.

Die Unterteilung in »normale« und perverse, kranke oder kriminelle Schwule ist nicht neu. Sie besteht schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts und verläuft entlang von Klassengrenzen. So gab es bereits im Kaiserreich Uneinigkeit darüber, ob der Einsatz für die Rechte von Homosexuellen lediglich eine Abschaffung von Paragraf 175 oder auch die Belästigung von gender-non-konformen Menschen durch Polizei und Justiz umfassen sollte.

»Die« homosexuellen Männer existierten noch nicht als einheitliche Kategorie, welche durch den Faktor Partnerwahl umfassend beschrieben wäre. Es gab je nach Szene und Schicht unterschiedliche Verhaltensweisen, Kleidungsstile, Aufenthaltsorte und auch Bedrohungslagen für Männer, die mit Männern Sex hatten.

Die Erfindung des Schwulen

Die Verfolgung im Nationalsozialismus zielte vor allem auf Männer, die mit Männern Sex hatten. Paragraf 175 wurde verschärft, sodass er mehr sexuelle Handlungen umfasste als zuvor. Besonders unter Strafe stand nun außerdem, wenn der Kontakt im Kontext von Sexarbeit oder wiederholt stattfand. Die Anzahl der Verurteilungen nahm dementsprechend (zunächst) zu. Auch in dieser Zeit gelang es vor allem bürgerlichen Männern leichter, der Entdeckung und Verurteilung zu entgehen. Demgegenüber wurden insbesondere jüdische Schwule, Sexarbeiter und Arbeiter*innen massiv verfolgt. Paragraf 175 blieb bis 1969 in der Version des NS-Staates in Kraft. Erst 2017 wurden alle Urteile nach Paragraf 175 für ungültig erklärt.

Die Verfolgung unter dem Nationalsozialismus definierte damit deutlicher als je zuvor, was ein homosexueller Mann war – sowohl für Männer, die mit Männern Sex hatten, als auch für die Gesamtgesellschaft.

Die kollektive Identität »schwul« kristallisierte sich erst im Laufe des 20. Jahrhunderts stärker heraus – immer parallel mit der Abgrenzung von bürgerlich-akzeptableren zu den gefährlichen, perversen und kranken Schwulen.

Besonders für heterosexuelle Männer ist die Grenze zwischen Homo- und Hetero-Sein nach wie vor wichtig. Die Überbetonung der eigenen Heterosexualität und Ablehnung von allem »Weiblichen« als schwach erscheint als Versuch, sich der eigenen Männlichkeit zu versichern. Das ist Produkt einer Entwicklung, die sich nicht nur auf den Nationalsozialismus zurückführen lässt, sondern auch etwas mit dem Verlust an gesellschaftlicher Macht zu tun hat.

Durch die Einführung des Frauenwahlrechts und zunehmende Möglichkeiten für Frauen, finanziell unabhängig von Männern zu leben, haben Männer einen Hegemonieverlust erlebt. Dies motiviert Männer, über eine genaue Definition dessen, was »schwul« ist, die eigene Männlichkeit zu betonen. Die Grenze zwischen homo und hetero als Identitäten wird so von heterosexuellen Männern überbetont.

Bilke Schnibbe

war bis Oktober 2023 Redakteur bei ak.

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