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|Thema in ak 699: Alternativgeschichte(n) & vergessene Utopien

Schöner Wohnen im Roten Wien

Historische Beispiele zeigen, dass wir alle günstig und komfortabel leben könnten – wenn das Wohnen als soziale Infrastruktur organisiert wird

Von Andrej Holm

Das gezeichnete Bild zeigt ein Kind am Strand sitzend und mit einer Schaufel in der Hand. Es baut eine Stadt aus Sand
Illustration: Donata Kindesperk

Je tiefer die Krisen, desto notwendiger ist eine Diskussion über all die Dinge, die in Zukunft anders und vor allem besser gestaltet werden sollen. Das gilt auch für den Bereich des Wohnens: Vielen Beteiligten ist längst klar, dass technokratische Reformen und reformistischen Forderungen zu kurz greifen, um die strukturell angelegten Widersprüche einer marktförmig organisierten Wohnversorgung zu lösen. Die Wohnforscher David Madden und Peter Marcuse haben das grundsätzliche Dilemma in ihrem internationalen Rückblick auf 100 Jahre Wohnungspolitik gut auf den Punkt gebracht, wenn sie von einer »dauerhaften Spannung zwischen dem Wohnen als Zuhause und dem Wohnen als Immobilie« sprechen.

Unter den Bedingungen einer kapitalistischen Urbanisierung werden Wohnungen zur Ware und entsprechend nach den kalkulatorischen Prinzipien des Marktes bewirtschaftet. Selbst dort, wo Vermieter*innen keine Höchstgewinne anstreben, übersteigen die erwarteten Durchschnittserträge die Zahlungsfähigkeit der meisten Wohnungssuchenden. Einen Ausstieg aus dem Dilemma bietet eigentlich nur ein Wohnungsbau, der nicht auf eine Refinanzierung durch die Mieten angewiesen ist.

Die Marktlogik außer Kraft setzen

Eine Entkopplung der Mietpreise von den Erstellungskosten klingt jedoch völlig utopisch, weil wir seit Dekaden daran gewöhnt werden, die kalkulatorische Logik des Marktes als treibendes Prinzip des Wohnungsbaus zu akzeptieren. Dabei gibt es in anderen Bereichen des staatlichen und kommunalen Handelns zahlreiche Beispiele für die Bereitstellung von sozialen Infrastrukturen, bei denen diese Logik außer Kraft gesetzt wird. So wäre beispielsweise die Erwartung völlig absurd, dass die Erstellungskosten für ein öffentliches Bibliotheksgebäude aus den Ausleihgebühren der Nutzer*innen bezahlt werden müssten.

Eine konsequente Dekommodifizierung (1) des Wohnens würde darin bestehen, das Wohnen als soziale Infrastruktur zu organisieren. Wie andere Infrastrukturen auch würden Wohnungen durch öffentliche Investitionen finanziert und in öffentlicher Trägerschaft verwaltet werden und müssten grundsätzlich allen Bevölkerungsgruppen zu günstigen Kosten zur Verfügung stehen. Einrichtungen und Dienstleistungen die als soziale Infrastrukturen bereitgestellt werden, fungieren nicht länger als Ware und können den Marktmechanismen entzogen werden.

Politisch festgesetzte Mieten gehörten in der Vergangenheit zum Standard einer sozialen Wohnungspolitik.

Ein kommunaler Wohnungsbau jenseits der Marktlogik klingt auf den ersten Blick völlig weltfremd und wird gerne als utopische Spinnerei und unrealistisches Wunschdenken abgetan. Doch historische Beispiel aus Europa zeigen, dass staatliche Investitionen in ein öffentliches Wohnungswesen mit politisch festgesetzten Mieten in der Vergangenheit zum Standard einer sozialen Wohnungspolitik gehörten und europaweit Millionen von Mietwohnungen als öffentliche Infrastrukturen errichtet wurden. Das bekannteste Beispiel für einen kommunalen Wohnungsbau mit Infrastrukturcharakter ist sicher der Gemeindebau der 1920er Jahre im »Roten Wien«. Zwischen 1919 und 1934 wurden über 60.000 Mietwohnungen durch die Gemeinde Wien errichtet. Als eine Antwort auf die katastrophalen Wohnverhältnisse nach dem 1. Weltkrieg verfügte die sozialdemokratische Regierung der Stadt nicht nur einen strengen Mieter*innenschutz, sondern führte auch eine Reihe von Steuern auf den Kauf von Luxusgütern und auf Gewinne aus überhöhten Mieten ein. Insbesondere die neu erhobenen Wohnbausteuern wurden zur Finanzierung des Gemeindebaus eingesetzt.

Der Architekturtheoretiker Michael Zinganel verweist darauf, dass die Erfahrungen des Roten Wiens nicht nur als eine steuerliche Umverteilung beschreiben werden sollten, sondern als eine politisch gewollte Verschiebung der Eigentümer*innenstrukturen auf dem Wiener Wohnungsmarkt: Privater Immobilienbesitz wurde höher besteuert, der Mieter*schutz aufrecht- und die niedrigen Mieten aus der Kriegszeit beibehalten. So gelang es laut Zinganel der Stadtverwaltung, »den privaten Wohnungsmarkt zum Erliegen zu bringen und als einzig verbliebener Anbieter preisgünstig die wenigen freien Grundstücke aufzukaufen«.

Im Gegensatz zu vielen aktuellen Debatten, in denen Forderungen für Mietbeschränkungen regelmäßig als Investitionsbremse für den Neubau delegitimiert und als »falsches Signal an die Immobilienwirtschaft« (Bundesbauminister Seehofer 2019 zum Mietendeckel in Berlin) beschrieben werden, zeigt das Wiener Beispiel, dass es gerade die strenge Mietgesetzgebung und hohe Besteuerung waren, die einen öffentlichen Wohnungsbau jenseits der typischen Marktlogiken ermöglichten.

Eine Million günstige Wohnungen

Die Finanzierung des Wohnungsbaus im Roten Wien der 1920er Jahre erfolgte als öffentliches Investitionsprogramm und ermöglichte eine Kalkulation von Mieten, die nur die laufenden Aufwendungen für Verwaltung und Instandsetzung decken mussten: »Die Gemeinde Wien ging beim Wohnungsbau mehr von sozialen als kommerziellen Grundsätzen aus«, resümierte Anfang der 1950er Jahre der Österreichische Historiker Felix Czeike. »Deshalb verzichtete man von vornherein auf die Hereinbringung der Baukosten, die durch die Wohnbausteuer eine wenigstens teilweise Deckung finden sollte.«

Diese Ökonomie der öffentlichen Investition in eine Infrastruktur – die keine unmittelbare Amortisierung aus der Nutzung erwartet – ermöglichte in den neu errichteten Gemeindebauten Mietpreise, die deutlich unter dem Niveau der marktüblichen Mieten im privat verwalteten Bestand lagen und in den 1920er Jahren einer Mietbelastung von etwa drei Prozent eines mittleren Arbeitslohns entsprachen. Bis heute noch bieten die inzwischen 220.000 Wohnungen in den Gemeindebauten die günstigsten Mieten in der Stadt und sichern für große Teile der Bevölkerung leistbare Wohnverhältnisse.

Auch das Council-Housing-System in Großbritannien entstand als Antwort auf die Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg und wurde 1919 mit dem Addison-Act formalisiert, der umfangreiche Subventionen des Staates vorsah. Bis Ende der 1970er-Jahre entstanden auf diese Weise allein in England fast 5,6 Millionen Council-Housing-Wohnungen, die etwa ein Drittel des gesamten Wohnungsbestands in Großbritannien ausmachten. Die Kommunalverwaltungen planten, erstellten und verwalteten die Council-Housing-Bestände nicht nur, sie waren auch für die Vergabe der Wohnungen zuständig und legten die Miethöhen fest. Die Finanzierung erfolgte über öffentliche Kredite mit bis zu 60 Jahren Laufzeit und Zinsen weit unter den Marktkonditionen oder über kommerzielle Bankkredite, bei denen der Staat die Kosten für Zins und Tilgung übernahm. Die Einnahmen und Ausgaben der Wohnungsbewirtschaftung wurden nicht für einzelnen Bauprojekte oder Wohnanlagen, sondern immer für die jeweiligen Gesamtbestände der Kommunen kalkuliert, so dass die Mieten der Neubauten von den steigenden Erstellungskosten abgekoppelt werden konnten. Durch die staatliche Förderung und zusätzliche Ausgaben der Kommunen mussten nur etwa 40 Prozent der tatsächlichen Kosten aus den Mieten gedeckt werden.

Auch Schweden macht es vor

In Schweden macht der öffentliche Wohnungsbau mit etwa 860.000 Wohnungen (Stand 2020) knapp 20 Prozent des Gesamtwohnungsbestandes und 50 Prozent der Mietwohnungen aus. Der staatlich finanzierte Wohnraum wurden zum größten Teil im Rahmen des »1-Million-Wohnungen«- Programms zwischen 1965 und 1974 errichtet. Der Bau kostengünstiger und moderner Wohnungen galt zudem als Voraussetzung für die Durchsetzung einer strengen Mietgesetzgebung, die seit den 1940er Jahren die Mieten auf einem niedrigen Niveau hielt.  

Um preiswerte Wohnungen zu bauen, wurde der kommunale Neubau zu fast 100 Prozent mit staatlichen Krediten finanziert, die mit fest fixierten Zinsen leistbare Mietpreise ermöglichten. Die Lücke zwischen den Garantiezinsen der kommunalen Baugesellschaften und den Marktzinsen übernahm der Staat in Form einer Finanzierungsförderung. Das Finanzierungsrisiko der öffentlichen Bauprojekte trug also vollständig der Staat, so dass das ehrgeizige Wohnungsbauprogramm erfolgreich umgesetzt werden konnte. Eine Besonderheit des schwedischen Wohnungswesens waren die jährlichen Verhandlungen zwischen den kommunalen Wohnungsunternehmen und der Mietergewerkschaft, in denen die Miethöhen und mögliche Mietsteigerungen festgelegt wurden. Die so ausgehandelten Mieten galten bis in die 1990er Jahren auch für Neuvermietungen und alle Mietwohnungen im privaten Besitz.

Die Beispiele zeigen, dass leistbare Wohnungen für breite Schichten der Bevölkerung gebaut werden können, wenn sie wie soziale Infrastrukturen öffentlich bereitgestellt werden. Wie bei anderen Infrastrukturen auch bemisst sich der Wert öffentlicher Investitionsprogramme gerade nicht aus kurzfristigen finanziellen Gewinnen, sondern aus dem langfristigen Nutzen für die Allgemeinheit. Gerade weil privat finanzierte Bauprojekte und auch die marktförmig kalkulierten Neubauten von Genossenschaften unter den aktuellen Bedingungen keinen Beitrag für die soziale Wohnversorgung leisten können, ist auch im Bereich des Wohnens vor allem eines gefragt: öffentliche Verantwortung für die gesellschaftlichen Belange.

Andrej Holm

arbeitet als Stadtsoziologe an der Humboldt-Universität zu Berlin und mischt sich seit über 30 Jahren aktiv in die Gestaltung der Wohnungspolitik ein.

Anmerkung

1) Unter Dekommodifizierung versteht man hier einen politischen Prozess, der die Versorgung mit Wohnraum den Marktlogiken entzieht.

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