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|Thema in ak 694: Klimabewegung, wie weiter?

Wenn alles kippt

Das Klima der Erde rast auf eine dramatische Erhitzung zu – was sind die Folgen, was bedeuten Kipppunkte, und wieso sind immer schrillere Warnungen nicht hilfreich?

Von Juliane Schumacher

Skyline von New York in orangefarbenen Rauch gehüllt
Hitzewellen, Dürren, Überschwemmungen: Die Extremwetterereignisse nehmen zu. Und liefern zunehmend apokalyptische Bilder, wie am 7. Juni in New York City. Wegen der Waldbrände in Kanada war die Stadt in orangefarbenen Rauch gehüllt. Foto: Anthony Quintano / Flickr, CC BY 2.0

Dass Kipppunkte in der derzeitigen Diskussion um den Klimawandel eine so prominente Rolle spielen, geht im Grund auf eine Fehlannahme zurück. Über viele Jahrzehnte beherrschte ein Bild die westliche Vorstellung von der Erde: dass das Klimasystem stabil sei. Auf Karten zeichneten Geograf*innen die Klimazonen ein: Abhängig von der geografischen Breite, von Ost- oder Westküstenlage, von kalten oder warmen Meeresströmungen, so die Annahme, herrsche an jedem Ort der Erde ein bestimmtes Klima, mit einer durchschnittlichen Temperatur und einer bestimmten Verteilung von Niederschlägen.

Als die Sorge um die menschengemachte Erwärmung der Erde dazu führte, dass sich Forscher*innen intensiver mit der Klimageschichte befassten, und neue Technologien es ermöglichten, dabei weiter zurückzublicken als in die kurze Zeit menschlicher Kultur, bekam dieses Bild Risse. Es zeigte sich: Dass Klima als etwas Stabiles galt, lag vor allem daran, dass die Menschen, erdgeschichtlich gesehen, sehr jung sind – und dass gerade die letzten 10.000 Jahre klimatisch als ungewöhnlich beständig angesehen werden können.

Das Klima ist indes alles andere als stabil, und ein »natürliches« Klima, auf das sich die Erde dauerhaft einpendeln würde, gibt es nicht. Die Menge an Sonneneinstrahlung, die der Erde Energie liefert, ist nicht immer gleich; welcher Teil davon in Wärme umgewandelt wird und wie viel in den Weltraum entweicht – all das hängt von vielen Faktoren ab, die zu unterschiedlichen klimatischen Zuständen des Planeten geführt haben. Über weite Teile der Erdgeschichte war es viel heißer als heute, und Eis existierte nicht einmal an den Polen, zu anderen Zeiten vereiste die Erde komplett. Die letzten Hunderte Millionen Jahre wechselten sich längere Eiszeiten und kürzere Warmzeiten ab, ausgelöst durch Schwankungen der Bahn der Erde um die Sonne und der damit verbundenen Änderungen der Sonneneinstrahlung.

Wie sich das Klima verändert

Für die politische Debatte bedeutsamer waren zwei weitere Erkenntnisse: Zum einen verliefen diese Klimaänderungen nicht gleichmäßig über Millionen von Jahren. Immer wieder kam es in der Erdgeschichte zu relativ abrupten regionalen und globalen Veränderungen, bei denen die Temperaturen kurzfristig – im Laufe weniger hundert oder tausend Jahre – anstiegen oder abfielen. Zum anderen wurde klar: Im komplexen System der globalen Temperaturregulierung gibt es Rückkopplungen, die Prozesse abschwächen oder verstärken können.

Gingen viele Wissenschaftler*innen zunächst davon aus, dass bestimmte Rückkopplungen einer Erwärmung entgegenwirken würden – etwa ein stärkeres Pflanzenwachstum durch mehr Kohlenstoffdioxid in der Luft –, so ist der Stand der Forschung heute, dass diese zu schwach sind oder zu langsam wirken, um eine kurzfristige Erwärmung abzubremsen. Mechanismen wie der langfristige Kohlenstoffkreislauf durch Verwitterung und vulkanische Aktivität sind höchstwahrscheinlich dafür verantwortlich, dass die Erde auch aus sehr heißen und sehr kalten Zuständen wieder herausgefunden hat. Diese Prozesse vollziehen sich aber über Zeiträume von vielen Millionen Jahren.

Kurzfristig scheinen hingegen vor allem jene Rückkopplungen wirksam zu sein, die eine einmal in Gang gebrachte Erwärmung weiter verstärken. Das gilt auch für die derzeit zu beobachtende Erderwärmung, ausgelöst durch die großen Mengen an Treibhausgasen, die Menschen seit etwa 200 Jahren vor allem durch Nutzung fossiler Brennstoffe in die Atmosphäre einbringen.

Allein das Abschmelzen des Grönland-Eises würde den Meeresspiegel um mehrere Meter erhöhen.

Einige dieser Rückkopplungen sind seit Langem bekannt: etwa der Einfluss der Albedo, des Rückstrahlvermögens des Planeten, das bestimmt, welcher Teil der Sonnenstrahlung von der Oberfläche reflektiert und welcher in Wärme umgewandelt wird. Eis reflektiert fast alles – wenn mehr Eisflächen vorhanden sind, wird es kälter, mehr Eis bildet sich, die Abkühlung wird weiter verstärkt. Umgekehrt führt das Schmelzen von Eis dazu, dass mehr Sonnenstrahlung auf Wasser oder dunklen Boden trifft – und dadurch mehr davon in Wärme umgewandelt wird, was die Erwärmung weiter verstärkt.

Eng verbunden mit dem System der Rückkopplungen ist das Prinzip der Kipppunkte: Dieses bezieht sich auf die Tatsache, dass Veränderungen in solchen Systemen nicht linear verlaufen – dass also eine gleichmäßige Erhöhung von Treibhausgasen nicht zum gleichmäßigen Schmelzen des Eises eines Gletschers führt. Stattdessen gibt es Punkte, ab denen selbstverstärkende Prozesse einsetzen, wodurch sich das gesamte System relativ abrupt verändert. Diese Veränderungen – das Abschmelzen eines Gletschers zum Beispiel – setzen sich durch die Rückkopplungen auch dann fort, wenn der ursprüngliche Auslöser wegfällt. Es ist schwer bis unmöglich, das System wieder in seinen vorherigen Zustand zurückzuversetzen.

Was wissen wir eigentlich über Kipppunkte?

Klimawissenschaftler*innen haben in den letzten Jahren immer eindringlicher gewarnt, dass weltweit Systeme existieren, die durch die derzeitige Erwärmung in einen Zustand gebracht werden, der nicht mehr umkehrbar ist – und einige dieser Punkte bereits überschritten sein könnten. Eines der bekanntesten Beispiele ist das grönländische Eisschild, bei dem in den letzten Jahren ein immer stärkeres Abschmelzen gemessen wurde, sowie das westantarktische Eisschild, bei dem weiter steigende Temperaturen ebenfalls ein Abschmelzen auslösen könnten. Allein das Abschmelzen des Grönland-Eises würde den Meeresspiegel um mehrere Meter erhöhen.

Eines der prominentesten Beispiele für Kipppunkte ist die atlantische Umwälzbewegung (Atlantic Meridional Overturning Circulation, AMOC), ein System von Meeresströmungen, zu denen der Golfstrom gehört, der warmes Wasser an die Nordostküste der USA und die Westküste Europas bringt. Das Horrorszenario eines Abreißens des Stroms wurde bereits in Hollywood-Filmen wie »The Day after Tomorrow« verarbeitet. Tatsächlich gab es während der letzten Eiszeiten immer wieder Phasen, in denen sich die Strömung veränderte oder umkehrte. Die Erwärmung des Meeres könnte, so die Befürchtung, zusammen mit dem vermehrten Eintrag von Süßwasser aus der Gletscherschmelze eben dies auslösen – und dazu führen, dass es in Europa sehr viel kälter werden würde. Weitere häufig genannte »Kipppunkt-Systeme« sind Korallenriffe, von denen, so die Vorhersagen, bei einer Erhöhung der globalen Temperatur um mehr als 1,5 Grad kaum welche überleben würden, oder der Amazonas-Regenwald.

Das Beispiel Amazonas zeigt aber auch, dass sich solche Vorhersagen kaum auf das Klima allein beschränken lassen. Zwar trägt der Klimawandel sehr wahrscheinlich dazu bei, dass sich Dürren und sehr nasse Jahre im Gebiet des Amazonas-Regenwaldes abwechseln und das Ökosystem belasten. Hauptprobleme sind jedoch Abholzung, Waldbrände und die Zersplitterung des Waldgebietes. Forscher*innen haben berechnet, dass bereits 17 Prozent der Waldfläche verloren gegangen seien, und warnen, dass das Ökosystem ab einem Verlust von 25 Prozent zusammenbrechen und zu einer Savanne werden könnte – was die globale Erwärmung weiter verstärken würde.

Ob sich das Ende des Amazonas-Regenwaldes tatsächlich an einer solchen Zahl festmachen lässt, ist jedoch fraglich. Wie bei den meisten anderen Kipppunkten handelt es sich eher um Schätzungen oder eine Spanne an möglichen Werten, die Computermodelle ermittelt haben, nicht um einen eindeutigen Wert. Hatten Klimaforscher*innen wie Stefan Rahmstorf noch bis vor wenigen Jahren erklärt, die Klimaforschung wisse um mögliche Kipppunkte, könne aber nicht genau sagen, wo sie liegen, so lässt sich in der Klimakommunikation zuletzt ein radikaler Wandel beobachten: Jüngste Studien warnen in immer kürzeren Abständen nicht nur, die Kipppunkte lägen wahrscheinlich sehr viel niedriger als noch vor wenigen Jahren gedacht, sondern auch, mehrere davon könnten bereits überschritten sein.

Hitze, Dürre, steigender Meeresspiegel

Dazu trägt zum einen bei, dass sich die Erde in den letzten Jahren stärker erwärmt hat als zuvor angenommen – auch, weil es bisher nicht gelungen ist, die Emissionen zu senken. Laut Weltklimarat hat sich die Erde gegenüber der vorindustriellen Zeit bereits um 1,1 Grad erwärmt. Bis Ende des Jahrhunderts werden es derzeitigen Prognosen zufolge zwei bis drei Grad sein. Das in Paris 2015 gefasste Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, dürfte kaum noch zu erreichen sein.

Für rund ein Drittel der Menschheit wird der Anstieg des Meeresspiegels verheerende Folgen haben – niedrig liegende Gebiete, Städte und Inseln werden, wenn sie nicht geschützt werden können, im Meer versinken.

Auch die Folgen des Klimawandels sind bereits eindeutig nachweisbar: Hitzewellen und Starkregen treten häufiger auf. Indien hat seit März mehrere Hitzewellen erlebt, mit kurzzeitig über 50 Grad Celsius – solche extremen Hitzewellen, so haben Forscher*innen berechnet, seien durch die erhöhten globalen Temperaturen mindestens 30-mal wahrscheinlicher geworden. Auch schwere Überflutungen wie letztes Jahr in Pakistan, bei der mindestens 1.500 Menschen starben und 30 Millionen vor den Folgen fliehen mussten, sind durch den Klimawandel wahrscheinlicher geworden; ebenso schwere Dürren und andere extreme Wetterereignisse. Durch die rasche Erwärmung sind zudem bereits jetzt zahlreiche Tier- und Pflanzenarten ausgestorben, nimmt sie weiter zu, könnten ganze Ökosysteme zusammenbrechen.

Besonders dramatische Auswirkungen – das lässt sich bereits sicher sagen – wird der Anstieg des Meeresspiegels haben. Bis 2100 dürfte er den letzten Prognosen des Weltklimarates zufolge zwischen 30 Zentimeter und einem Meter steigen, bis 2150 könnten es bei fortgesetzt hohen Emissionen bis zu zwei Meter sein. Und der Anstieg wird sich, weil sich das warme Wasser weiter ausdehnt, noch Tausende Jahre fortsetzen. Für rund ein Drittel der Menschheit, das in Küstengebieten wohnt, wird das verheerende Folgen haben – niedrig liegende Gebiete, Städte und Inseln werden, wenn sie nicht geschützt werden können, im Meer versinken.

Dass die Warnungen zunehmend dramatisch ausfallen, dürfte aber auch politische Gründe haben – mit durchaus problematischen Effekten. Es ist verständlich, wenn Wissenschaftler*innen, die seit Jahrzehnten, meist vergeblich, vor den Folgen eines ungebremsten Klimawandels warnen, mit dramatischeren Prognosen die Dringlichkeit erhöhen. Kipppunkte zu betonen, als »Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen«, mag da eine Strategie sein.

Das Problem mit den Katastrophenszenarien

Solch einer Strategie liegt allerdings die – durchaus naive – Annahme zugrunde, dass es sich bei fehlendem Klimahandeln um ein Wissensproblem handelt. Dass der menschengemachte Klimawandel stattfindet und verheerende Folgen hat, ist aber seit Jahrzehnten bekannt und wird von niemandem mehr ernsthaft bezweifelt. Dass die Emissionen dennoch nicht gesunken sind, sondern immer weiter steigen, liegt nicht daran, dass die Dringlichkeit nicht klar wäre – sondern dass dem systemische Ursachen entgegenstehen, allen voran der ökonomische Wachstumszwang des kapitalistischen Systems. Das ist allerdings ein Aspekt, den die Wissenschaftler*innen, die die drohenden Kipppunkte betonen, konsequent ignorieren.

Warnungen vor der kommenden Katastrophe bergen immer die Gefahr zu depolitisieren, und sie verschleiern häufig Ungleichheiten. Das gilt auch für die Debatte um die Kipppunkte und die um »planetare Grenzen« und das Anthropozän. Beide Diskurse sind verbunden – die Autor*innen, die sie bekannt gemacht haben, sind mehr oder weniger identisch. 2009 haben 29 Expert*innen, fast ausschließlich Naturwissenschaftler*innen, überwiegend Männer, alle aus dem Globalen Norden, eine Liste planetarer Grenzen vorgelegt und mögliche Kipppunkte des Systems Erde beschrieben. Das Konzept der planetaren Grenzen hat sich seither rasant verbreitet.

Warnungen vor der Katastrophe bergen die Gefahr zu depolitisieren, und sie verschleiern Ungleichheiten. Das gilt auch für die Debatte um Kipppunkte.

Der Anspruch, »sichere« Bereiche zu definieren, in denen die Menschheit ohne die Gefahr abrupter klimatischer Umbrüche leben kann, mag nachvollziehbar klingen. Doch längst nicht bei allen der beschriebenen Systeme handelt es sich um Prozesse, die unumkehrbar sind, die Grenzwerte basierten ausschließlich auf der Einschätzung der beteiligten Expert*innen. So wundert es nicht, dass Kritik genau hier ansetzt: Wessen Kipppunkte sind das, wer legt die Grenzen fest? Warum geht es nur um den Planeten als Ganzen, nicht um den ungleichen Verbrauch der Ressourcen? Was ist mit jenen, die längst jenseits der »Grenzen« leben, für die die Katastrophe nicht in der Zukunft liegt, sondern längst da ist? Schließlich: Welche Politik folgt aus den intensivierten Warnungen, planetare Grenzen seien bald oder bereits überschritten?

Politische Auswirkungen hat dieser Diskurs nämlich durchaus. Bei vielen, auch mächtigen Akteuren, git es inzwischen ein Bewusstsein, dass eine Krise bevorsteht oder bereits im Gange ist, und es wird um Wege gerungen, wie diese zu bearbeiten ist. Dabei lassen sich derzeit vor allem zwei Reaktionen erkennen: Kritische Akteure wie die britische Wissenschaftlerin Kate Raworth haben die proklamierten planetaren Grenzen zum Anlass genommen, auf soziale Untergrenzen hinzuweisen, also das Minimum zu betonen, das Menschen für ein würdevolles Leben benötigen. Und Wissenschaftler*innen wie Jason Hickel haben vorgerechnet, dass der Globale Norden seinen Rohstoffverbrauch drastisch senken muss, wenn eine Chance bestehen soll, solche Grenzen einzuhalten.

Klimaschutz im Kapitalismus

Die Vertreter*innen der Planetare-Grenzen-Theorie gehen in eine andere Richtung. Seit 2019 forschen sie als Earth Commission, finanziert von der Global Commons Alliance, geben Berichte heraus und publizieren in wissenschaftlichen Zeitschriften. Die Global Commons Alliance ist ein Netzwerk großer Unternehmensstiftungen und Institutionen, darunter das World Economic Forum, das jährlich das Wirtschaftstreffen in Davos organisiert, und der Global Environment Facility der Weltbank. Es verwundert daher nicht, dass sich das Konzept der planetaren Grenzen unter anderem gezielt an Unternehmen richtet und diesen Wege zeigen soll, wie sie mit den Herausforderungen bestmöglich umgehen. Die Klimamodelle, die das ebenfalls beteiligte Forschungsinstitut IIASA in Österreich erstellt, basieren auf ökonomischen Modellen, die vor allem auf der Grundlage von ökonomischer Rationalität und Kosten-Nutzen-Optimierung kalkulieren.

Je reicher desto CO2: Wer den Klimawandel anheizt


Hitzewellen in Indien und China, Waldbrände in Kanada, Überschwemmungen durch Starkregen in Italien und Kongo: Die Katastrophenmeldungen über Extremwetterereignisse sind in diesem Sommer bereits unüberschaubar geworden. Inzwischen ist klar: Dass solche Ereignisse gehäuft – und immer heftiger – auftreten, ist eine Folge der Erderwärmung. Weniger bekannt ist, wie krass ungleich die Verantwortung für den Klimawandel in der Welt verteilt ist. Im Zeitraum von 1850 bis 2015 waren die USA allein für nicht weniger als 40 Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich, die Länder der EU für 29 Prozent. Der Globale Norden insgesamt, der nur 19 Prozent der Weltbevölkerung ausmacht, hat 92 Prozent der durch den Klimawandel verursachten Schäden verursacht. Was im globalen Maßstab gilt, stimmt auch individuell: je reicher desto klimaschädlicher. Aktuell sind einer Oxfam-Studie zufolge allein 125 Milliardär*innen im Durchschnitt für so viele Emissionen verantwortlich wie eine Million Menschen aus den ärmeren 90 Prozent der Weltbevölkerung. Das reichste eine Prozent der Menschheit – weniger Menschen als Deutschland Einwohner*innen hat – emittieren deutlich mehr als die ärmere Hälfte (ca. 4 Milliarden Menschen) zusammen. Und blickt man auf den Globalen Norden, so ist auch hier eine extrem ungleiche Verantwortung auszumachen. Während die ärmere Bevölkerungshälfte in Deutschland 2019 etwa sechs Tonnen CO2 pro Jahr emittiert, waren es beim reichsten Prozent etwa 105 Tonnen – fast das 18-fache. Die reichsten 0,001 Prozent in Deutschland, etwa 800 Menschen, emittieren tausendmal so viel Treibhausgase wie der Durchschnitt: 11.700 Tonnen. Überraschung: Seit 1991 ist die Emissionsungleichheit noch deutlich gestiegen. All das wird in der gegenwärtigen Klimapolitik nicht berücksichtigt. Die Folgen der Erderwärmung treffen dagegen vor allem die Länder des Globalen Südens und dort vorwiegend wiederum die Ärmeren.

Die Earth Commission und ihre Organe haben sich damit zu einer alternativen, nicht-gewählten Struktur entwickelt, jenseits der UN-Strukturen, in denen, so bürokratisch und träge deren Institutionen sind, die Länder des Globalen Südens zumindest eine aktive Rolle und ein Mitspracherecht haben. Auch wenn jüngste Berichte zumindest formell den Aspekt »Gerechtigkeit« aufgenommen haben, spielen Fragen nach struktureller Ungleichheit, den Folgen des Kolonialismus oder dem Wirtschaftssystem nach wie vor keine Rolle.

Dafür hat die Earth Commission sich zuletzt immer deutlicher für ein aktives Erdmanagement ausgesprochen: Um zu verhindern, dass der Planet durch das Zusammenspiel selbstverstärkender Prozesse zu einem »Treibhaus Erde« wird, wie die Autor*innen in einer Studie von 2018 warnen, sei eine »wirksame Verwaltung des Planeten« (effective planetary stewardship) nötig, um die Erde aktiv in einem für die Menschen geeigneten Temperaturbereich zu halten: durch Reduktion der Emissionen, Ausbau der Kohlenstoffsenken und gezieltes »Modifizieren der Energiebilanz der Erde«, sprich: Geoengineering. Wer festlegt, was genau die »richtige« Temperatur der Erde ist und welche Maßnahmen ergriffen werden, darüber schweigt sich die Earth Commission aus. Fest steht: Radikale Vorschläge, die tatsächlich Emissionen reduzieren und die Zukunft gerecht gestalten können, werden aus dieser Ecke nicht kommen.

Höchste Zeit also, dass die Linke sich aus ihrer Schockstarre löst, beginnt, Wissen wieder zu politisieren und eigene Modelle und Ansätze zu entwickeln, die zugleich größer und kleiner als die Warnung vor dem Ende der Menschheit sind. Zum einen, indem sie die wirtschaftlichen Strukturen berücksichtigt, die bisher verhindert haben, dass ökologische und soziale Probleme ernsthaft angegangen werden. Und zum anderen, indem sie in die mühselige, alltägliche Kleinarbeit geht und erprobt, wie jenseits abstrakter Warnungen vor dem Untergang des Planeten der Umbau hin zu einer gerechteren Welt konkret aussehen kann.

Juliane Schumacher

ist Wissenschaftlerin und Journalistin mit den Schwerpunkten Umwelt, Klimawandel und soziale Bewegungen.

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