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|Thema in ak 691: Weltmacht China

Euer Krieg, nicht unserer

Pekings Nichteinmischung im Ukraine-Krieg erfährt viel Kritik im Norden, Lob im Süden

Von Hauke Neddermann

Illustration: Donata Kindesperk

Es scheint »eine ›unsichtbare Hand‹ zu geben, die auf Verlängerung und Eskalation des Konflikts drängt und die Ukraine-Krise für geopolitische Ziele nutzt«: 60 Minuten dauert es, bis Chinas neuer Außenminister Qin Gang während seiner ersten Pressekonferenz Anfang März auf den Krieg zu sprechen kommt, der seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ein Jahr zuvor im fernen Europa tobt. Nur weil der Globale Norden die eigene Sicherheitsarchitektur wieder einmal in blutige Fetzen reißt, bedeutet das für China noch keine Zeitenwende. 

Natürlich sei der Krieg eine »Tragödie« mit »schmerzhaften Lektionen für alle Beteiligten«. Aber sein Land, darauf legt Qin Gang Wert, habe keinen Anteil an dem Konflikt, man habe ihn nicht gewollt, seine Zuspitzung nicht verursacht, die Eskalation nicht befördert. Auch werde er von anderen munitioniert. Wen der Außenminister für die Handlanger des Krieges hält, führt er nicht weiter aus. Ihm genügt die schneidende Bemerkung, es seien dieselben, die Chinas »Vorschläge für eine politische Beilegung der Ukraine-Krise«, unterbreitet am Jahrestag des Kriegsbeginns, torpediert hätten.

Dass Peking im Februar 2022 an einem russisch-ukrainischen Krieg kein Interesse haben konnte, gestehen selbst seine Gegner*innen zu. Es gilt: Jede geopolitische und weltwirtschaftliche Turbulenz, zumal eine so massive, bremst Chinas Wiederaufstieg zur Weltmacht, für den es ein stabiles, berechenbares Umfeld braucht.

Zwar hatte Staatspräsident Xi Jinping bei einem Gipfeltreffen mit Russlands Präsident Wladimir Putin am Rande der Olympischen Winterspiele in der chinesischen Hauptstadt, keine drei Wochen vor der Invasion, die »unendliche Freundschaft« seiner Volksrepublik mit dem russischen Nachbarn beschworen. Die beiden BRICS-Großmächte, die der US-geführte Westen als auszubremsende »Systemkonkurrenten« sieht, waren zuletzt als Sicherheits-, Handels- und Energiepartner mit einer gemeinsamen Grenze über 4.000 Kilometer näher zusammengerückt.

Im Dilemma

Doch auch um die Ukraine war China, seit Jahren deren größter Handelspartner, erkennbar bemüht: 2013 sollen chinesische Agrarkonzerne exklusive Nutzungstitel für rund neun Prozent aller ukrainischen Ackerflächen, vorrangig im Osten des Landes, erworben haben. Die Umschlagkapazität des Überseehafens von Mariupol am Asowschen Meer wurde mithilfe chinesischer Staatsinvestitionen verdreifacht. Ein Großteil der Gerste- und Maisernten aus der einstigen Kornkammer der Sowjetunion wurde in die VR China verschifft. Bis zum Ausbruch des Krieges setzte China auf Lieferketten aus der Ukraine, um unabhängiger von US-amerikanischen Agrarimporten zu werden. Und so kam dem osteuropäischen Staat auch im Bemühen Pekings um ein auf eigene Bedürfnisse zugeschnittenes weltweites Transportrouten-Netz, das Projekt Neue Seidenstraße, eine Schlüsselrolle zu.

Der russische Einmarsch in die Ukraine stürzte die chinesische Regierung in ein Dilemma – und zwar in mehrfacher Hinsicht. Dass die Invasion alle völkerrechtlichen Grundsätze nationalstaatlicher Souveränität und territorialer Integrität verletzte, also das Nichteinmischungs-Kardinalprinzip chinesischer Außenpolitik untergrub, war erschreckend eindeutig– nicht zuletzt mit Blick auf die Taiwan-Frage, bei der Peking (in seiner Selbstwahrnehmung: wie Kiew) auf uneingeschränkte Souveränität pocht.

Jede geopolitische Turbulenz bremst Chinas Wiederaufstieg zur Weltmacht.

Ebenso eindeutig stand aus chinesischer Perspektive jedoch fest, dass nationale Sicherheitsbedürfnisse, gerade in den Grenzräumen geopolitischer Interessenszonen, ihre Berechtigung haben, also zu achten und multipolar auszutarieren sind – unter dieser Prämisse jedenfalls wird über die antichinesische Einkreisung der Volksrepublik hinter hunderten US-Militärbasen und schwerstem Kriegsgerät diskutiert. Chinabeobachter*innen weisen darauf hin, dass in der Staatsführung 2022 offenbar monatelang um eine kohärente Position zum Ukraine-Krieg gerungen wurde. Im Ergebnis wurden Xi Jinping und seine Regierungsmannschaft auf die seither gültige Linie eingeschworen, China als »verantwortungsvolle Großmacht« jenseits der osteuropäischen Fronten zu positionieren, in blockfreier Distanz zu sämtlichen Kriegsparteien – in chinesischer Analyse: zu Russland wie zur Ukraine, aber auch zum US-geführten Westen.

Das ist ein heikler Drahtseilakt. Olaf Scholz’ westlich-deutsches »Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren« ist auf Chinesisch zu erweitern um den unausgesprochenen Zusatz »und Russland auch nicht«. In Anbetracht der inakzeptablen Kosten eines fortdauernden Krieges, aber – in chinesischem Kalkül – auch jedes erdenklichen Siegfriedens, setzt Peking daher auf ein Einfrieren des Konflikts und die Suche nach politischen Kompromissen. Dabei tritt China nicht als Makler auf, sondern als Anrainer, der im Konflikt stets auch um seine eigenen Interessen fürchtet. Die chinesische Position lässt sich also als aktive Neutralität beschreiben, die nicht Nichtstun ist, sondern Gesprächs- und Kooperationsbereitschaft gegenüber allen Seiten – auch in Antizipation einer Nachkriegsordnung und des eigenen Platzes darin.

So konnte China im ersten Kriegsjahr, als indirekter Nutznießer des westlichen Sanktionsregimes, nicht nur seine Handelsbeziehungen zu Russland ausbauen – gleichzeitig blieb es mit Abstand vor Polen der wichtigste Wirtschaftspartner der Ukraine und will sich in Zukunft am Wiederaufbau des Landes beteiligen. 

Keine Verurteilung, keine Unterstützung

China, lässt Peking im Oktober 2022 verlautbaren, »krempelt nicht die Ärmel hoch und wartet den Gang der Dinge ab oder kippt Öl ins Feuer«. Stattdessen sei man »stets um eine friedliche Lösung der Krise« bemüht. Wer die chinesische Geschichte kennt, weiß um die große Tradition solcher Balance-Diplomatie. Seit Jahrhunderten prägt sie Chinas Umgang mit der Welt. Bis heute begründet sie so manches Veto, so manche Stimmenthaltung der VR China im UN-Sicherheitsrat. Seit Beginn des Ukraine-Kriegs steht der Weltöffentlichkeit nun erneut vor Augen, was das chinesische Nichteinmischungs-Axiom in der politisch-diplomatischen Praxis bedeutet: keine Verurteilung und keine Unterstützung des Angreifers wie des Angegriffenen, etwa durch Erklärungen und Resolutionen; keine Parteinahme, weder direkt noch indirekt, sei es durch Waffenlieferungen, Sanktionen, Blockbildungen oder sonstige Kriegsbeteiligungen; keine Anerkennung völkerrechtswidriger Grenzverschiebungen. Dieser Krieg ist kein chinesischer Krieg – und er soll es nach dem Willen der chinesischen Staatsführung auch nie werden, wenngleich sie sich von vielen Seiten, auch von einer militant antiwestlichen (Netz-)Öffentlichkeit im eigenen Land, zum Kriegseintritt gedrängt sieht. 

Im Getöse des westlichen Kriegsfurors, in dem allzu leichtfertig einem Zivilisationskampf Autokratie versus Demokratie das Wort geredet wird, geht unter, dass China mit seiner Weigerung, sich parteiisch zu positionieren, im Globalen Süden keineswegs isoliert dasteht.

Titelseite des Sonderhefts. Titel: Ukraine-Krieg. Unterzeile: Russlands Invasion und die Debatte um Imperialismus und Internationalismus

ak Sonderheft zum Ukraine-Krieg

Wie verändert Russlands Angriff auf die Ukraine die internationale Politik und das linke Verständnis von Imperialismus und Internationalismus?

Vielmehr findet seine Position auch jenseits des vermeintlichen Lagers der Demokratiefeinde Zustimmung: Aus Indien ist zu vernehmen, Europa solle »aus der Denkweise herauswachsen, dass die Probleme Europas die Probleme der Welt sind«. In Südafrika will man sich nicht auf eine »feindselige Haltung gegenüber Russland« festlegen, es brauche »Dialog«, nicht »Schreierei«. Und für Brasilien stellt Präsident Lula da Silva klar, dass es »ein Land des Friedens« sei und »keinerlei Beteiligung an diesem Krieg« wolle.

Mit den »Positionen zur politischen Lösung der Ukraine-Krise« bringt China sich Ende Februar 2023 als Vermittler für einen russisch-ukrainischen Friedensprozess ins Spiel. Das Zwölf-Punkte-Papier schlägt einen Waffenstillstand und diverse »Zumutungen« für alle Kriegsparteien vor. Doch die Friedensinitiative wird abgewürgt, bevor sie beginnt: Washington verweist auf – unbewiesene und wenig plausible – »Erkenntnisse«, nach denen China künftig mit Waffenhilfen auf russischer Seite ins Kriegsgeschehen eingreifen könnte, und beschädigt so Pekings Glaubwürdigkeit als Friedensstifter.

Doch der chinesische Ruf nach Kompromissen, der in weiten Teilen des Globalen Südens anschlussfähig ist, wird im Norden auch in der Substanz zurückgewiesen: Ein Waffenstillstand nutze womöglich (auch) der Gegenseite. Ein ungerechter Frieden verdiene seinen Namen nicht. Die Kriegsparteien setzen weiter auf Sieg. 

»Anders als die europäische Siegerlogik kennt die chinesische Geschichtserfahrung Kompromisse und Praktiken, die in Europa nicht selten als ›Scheinfrieden‹ bezeichnet werden«, hatte der Shanghaier Kulturwissenschaftler Hu Chunchun kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges bemerkt. Und die Frage in den Raum gestellt: »Wird einem chinesischen Friedensvorschlag in Europa Sympathie entgegenschlagen oder Verachtung?«

Epilog. Im März sieht es ganz danach aus, als sei es Peking gelungen, eine Normalisierung der vergifteten Beziehung zwischen dem Iran und Saudi-Arabien anzubahnen. Deren blutiger Stellvertreterkrieg im Jemen dauert inzwischen fast zehn Jahre an.

Hauke Neddermann

ist Sinologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Institut für kritische Theorie (InkriT).