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|Thema in ak 675: Ist die Zeit der Utopien vorbei?

Eichelkaffee und Apokalypse

Was wir aus der Kontroverse zwischen Donna Haraway und Sophie Lewis über postkapitalistische Mensch-Natur-Verhältnisse lernen können

Von Eva von Redecker

Zeichnung eines Skeletts, das in einer Wasserlache lieht und ein Smartphone in der Hand hält
Illustration: Maik Banks

Neulich hat mich meine Mitbewohnerin angeschrieen, weil ich morgens in der Küche angefangen habe, von Eichelkaffee zu reden. Also davon, dass es mich ärgert, dass ich wegen zu viel Stress in 2018 nicht dazu gekommen bin, das mit dem Eichelkaffee mal auszuprobieren. 2018 gab es Unmengen von Eicheln, sie lagen zentimeterdick unter den Bäumen, ich hatte so etwas noch nie gesehen. Und ja, man kann sie trocknen und rösten und mahlen. Weißt du, sagte ich, es ist ja nicht ausgemacht, ob wir in der Postapokalypse noch an echte Kaffeebohnen rankommen werden. Da hat sie mich fassungslos angeguckt und mir bis auf Weiteres verboten, ohne Vorwarnung vom Weltuntergang zu reden.

Meine eigene Apokalypse-Angstfreiheit, die mich so unbekümmert über Kaffeeersatz plaudern lässt, ist sicher zum Teil ein Defekt. Aber zu einem anderen Teil lässt sie sich damit erklären, dass ich die kolonial-kapitalistische Gesellschaftsform, in der wir leben, sowieso schon für eine akute Katastrophe halte. Wir brauchen eine wirklich andere Art, unseren Stoffwechsel mit der Natur zu gestalten. Und wirklich anders ist mehr als das reformistische Bild der bestehenden Verhältnisse mit angezogener Handbremse, also Klimaschutzmaßnahmen oder Green New Deal.

Die Natur bildet keine beliebig verfügbaren Ressourcen. Das tut nur durch die Brille des modernen Eigentums betrachtete Natur.

Eine lehrreiche Kontroverse darum, wie so ein ökokommunistisches Naturverhältnis aussehen könnte, spielt sich zwischen Donna Haraway und Sophie Lewis ab, zwei der spannendsten radikalen Denkerinnen der Gegenwart. Haraway schlägt eine Revision vor, die unser gesamtes Weltverhältnis betrifft. Statt vom monolithischen Kapitalozän oder vom apokalyptischen Anthropozän will sie vom »Chthuluzän« ausgehen.

Der zungenbrecherische Begriff ist eine kreative Fabulation: Haraway benutzt den lateinischen Namen einer bestimmten Spinnenart (Pimoa cthulhu) und fügt noch ein »h« mehr ein, um näher am griechischen Adjektiv für »unterirdisch« zu sein und sich zugleich von dem Monster des rassistischen Science-Fiction-Autors HP Lovecraft, »Chutlu«, abzugrenzen. Es geht Haraway um einen Assoziationsraum des erdgebundenen Netze-Spinnens, eine Sphäre inniger und spannungsreicher Verwobenheit von Lebewesen, die einander Antwort schulden und sich Beziehungen erarbeiten können. Modelle für solche Beziehungen sind Fadenspiele, bei denen immer neue Muster, und Kompostierungsprozesse, bei denen neue Bodennährstoffe entstehen. Das »Chthuluzän« ist also, wie Katharina Hoppe in ihrem kürzlich erschienenen Buch zu Haraways Gesamtwerk schreibt, »weniger eine Gegenwartsdiagnose als ein Modus des In-der-Welt-Seins«. Die große Aufgabe der menschlichen Chthuluzän-Bewohner*innen sieht Haraway im Sich-verwandt-Machen mit Genoss*innen anderer Arten.

Make kin, not babies?

Ihrer Meinung nach wäre es dabei hilfreich, wenn nicht mehr so viele Menschenbabys produziert würden. Das Plädoyer »make kin, not babies« (Macht euch verwandt, nicht Babys) ist Zielscheibe der explosiven Replik von Sophie Lewis. Wo nicht mehr die Unfreiheit, sondern die Existenz von Menschen zum Problem werde, sei das revolutionäre Projekt verraten. In Lewis’ eigener Arbeit führt die Überwindung biologischer Verwandtschaft in eine reproduktive Kommune, die der Tatsache gerecht wird, dass wir einander wechselseitig hervorbringen. Eine Politik der Bevölkerungsminderung hat in diesem Bild keinen Platz und lässt sich laut Lewis auch nie hinreichend gegen rassistische Regresse abgrenzen. Haraway sei in ihrer neueren Arbeit deshalb »zu pessimistisch, um eine Genossin zu sein«.

Mir scheint aber, dass man Lewis’ apodiktischen Appell, die eigenen Gattungsgenoss*innen zu lieben, noch besser füllen müsste. Denn nicht vom Töten zu träumen, macht ja noch keine materialistische Position aus. Vielleicht liegt Haraways eigentlicher Ergänzungsbedarf weniger bei der ökokommunistischen Menschenliebe, als beim ökokommunistischen Arbeits- und Geschichtsverständnis.

Haraway bezieht sich in ihrem Text durchweg mit umgekehrten Eigentumszuschreibungen auf Kreaturen: die Tauben und ihre Leute. Die Schweine und ihre Bauern. Das ist irgendwie inspirierend, aber es überspringt doch die eigentliche Arbeit, nämlich die Verhältnisse wirklich umzubauen. Mal abgesehen davon, dass ich keinem Schwein gehören will, gehören auch die so beschriebenen Schweine weiter den Bauern, die wiederum von Märkten und deren Infrastrukturen abhängig sind.

Wie kann man die basalen Beziehungen aber anders als eigentumsförmig gestalten? Haraway ist zu romantisch, aber nicht, weil sie harmonistisch wäre, sondern weil sie die Natur im Grunde stets als Anschauungsobjekt konzipiert. Von den »chthonischen« Verbindungen, die sie herausarbeitet – »Fadenspiele«, »Kompostierung« oder eben »Verwandt-Werdung« – wird keiner satt. Aber können wir überhaupt in Kooperation mit der Natur unsere Bedürfnisse erfüllen? Ist nicht jeder menschliche Hunger zerstörerisch (was dann doch wieder hieße, dass weniger Leute weniger kaputt machen würden)?

Kapitalistischer Reichtum und Naturzerstörung

Kapitalistischer Reichtum verdankt sich einem Vorgehen, das die Natur ignorant und gewaltsam mit den Produktionsabsichten der Gegenwart synchronisiert. Tausendjährige Wälder, urzeitliche Kohle- und Mineralvorräte, aber auch die Regenwolken, Humusböden und kühlen Nächte der Zukunft werden zusammengezogen auf den einen Punkt, an dem eine Ware entsteht. Das ist beindruckend produktiv, wenn man nur den einen Punkt anguckt. Je weiter man die Zeitspanne zieht, desto unergiebiger wird die Sache aber. Deshalb ist ja, allen liberalen Märchen zum Trotz, dieser Fortschritt auch nicht verallgemeinerbar. Kapitalistischer Fortschritt ist nicht bloß partiell, er ist toxisch. Das heißt, dass wir ihn nicht in die sozialistische Zukunft verlängern dürfen. Ganz im Gegenteil: Wir werden noch genug damit zu tun haben, seine Schäden und Traumata zu reparieren. Depropertisierung, also die Befreiung aus der Eigentumsform, heißt, die Natur anders zu verstehen und anders in ihr zu arbeiten.

Die Natur bildet Gezeiten, nicht beliebig verfügbare Ressourcen. Das tut nur abgetötete, durch die Brille des modernen Eigentums betrachtete Natur. »Freie« Natur besteht aus Regenerationskreisläufen: ein in Jahrmillionen der Evolution ausdifferenziertes und eingependeltes Zusammenspiel von Zyklen, die ineinandergreifen und sich lebendig halten. In so verstandener Natur zu arbeiten, bedeutet nicht, alles so zu lassen, wie es ist – das gerade wäre wieder romantische Kontemplation –, sondern in unserem Stoffwechsel mit der Natur die Gezeiten mit zu berücksichtigen. Unsere Tätigkeit so mit den natürlichen Zyklen zu verknüpfen, dass sie weiter im Überfluss tragen.

Manchmal heißt das einfach, weniger zu tun. Jedes dritte Jahr Brache, damit die Würmer und Wildkrautwurzeln Zeit haben, ihre Arbeit zu machen. Manchmal mehr: Wer jätet, statt Pestizide zu spritzen, hat vielleicht erstmal Rückenschmerzen, aber die Grundwasserqualität und Insektenvielfalt der Zukunft auf seiner Seite. Der Großteil des Lebens auf der Erde reproduziert sich bereits auf regenerative Weise. So gesehen vergrößert sich die Basis für das antikapitalistisches Projekt erheblich. Das heißt freilich nicht, dass es im Machtkampf gegen diejenigen, die ihre Extraktionsgewinne brutal weiterverfolgen, rosiger aussähe – ein Streik der Natur träfe schließlich die in ihr Verwurzelten unmittelbarer als die Superreichen in ihren Bunkern. Die Zwischenräume befreiter Gezeiten sind trotzdem eine wichtige Etappe im Kampf – mal als Rückzugsräume (etwa in Krisen wie der aktuellen Kaffeebohnenverteuerung), mal als Labore für das Wissen, dessen es nach jedweder gelungenen Vergesellschaftung bedürfte.

1,5 Milliarden Menschen auf der Welt sind Kleinbäuerinnen. Viele von ihnen kämpfen in der Organisation La Via Campesina gegen die neoliberale Verödung des Landes und ihre eigene Verelendung. In Deutschland entscheiden sich Bio-Bäuerinnen gegen die Kompromisse in der profitorientierten Produktion und organisieren sich in Solidarischen Landwirtschaften, die genossenschaftlich von den Konsument*innen mitgetragen werden.

Es ist ein breites Spektrum an Wissen, das regenerierendes Wirtschaften ermöglicht. Immer bessere naturwissenschaftliche Modelle klären über die Bedingungen von Biodiversität und Klimastabilität auf. Ihre Forschungsergebnisse werden inzwischen weltweit von der Klimagerechtigkeitsbewegung politisiert.

Haraway benutzt oft die Formel, dass es wichtig sei, mit welchen Ideen man Ideen denke. Das stimmt. Aber es ist auch wichtig, welche Lebewesen man das Leben lehren lässt. Meine Schwester Sophie (Landwirtin und Theoretikerin) verdeutlicht eine solche Haltung in Analogie zu Gayatri Spivak oft mit der Frage »Can Nature Speak?«. Die Antwort ist: Nein. Aber du kannst lernen, ihr zuzuhören.

Ein Vorrat an Solidarität

Für diese Kunst gibt es in indigenen Überlieferungen einen besonders reichen Schatz an Anleitungen. Das liegt nicht darin, dass first nations irgendwie ursprünglicher wären, sondern dass sie bereits 400 Jahre darin geübt sind, ein Verständnis von Natur als Nicht-Eigentum gegen koloniale Besiedlung und kapitalistische Ausbeutung zu verteidigen. Robin Wall Kimmerer, eine US-amerikanische Biologie-Professorin aus der Citizen Potawatomi Nation, beschreibt, dass von der Natur immer schon eine Gabenökonomie ausging. Wir erhalten ständig Geschenke. Die kapitalistische Ökonomie, die darauf mit Plünderung reagiert, verkennt, dass die Essenz des Geschenks eine ganze Reihe von Beziehungen und Reziprozitätsangeboten sind. Wer letztere eingeht, sorgt dafür, dass die Fülle anhält.

Wir müssen keine Fäden spinnen. Sie sind schon da. In jedem Stück Natur überkreuzen sich planetare Zusammenhänge. Wir müssen keine Verwandten werden. Wir können selbst als anonyme Genoss*innen kooperieren und in unserem Tun die Regenerationszyklen füttern, die sich uns anvertraut haben.

Das ist mein Ding mit den Eicheln. Sie erlauben mir, jetzt schon ein bisschen vom Kommunismus zu kosten, und das beglückt mich mit einer Intensität, der selbst die Tatsache, dass Eichelkaffee vermutlich komisch schmeckt, keinen Abbruch tut. Aber wen das schreckt, oder wer annimmt, dass wir uns selbst in Reproduktionszyklen außerhalb der Lohnarbeit weiter nach Koffeinzufuhr sehnen: keine Angst! Menschentiere können mit der Solidarität weitermachen und sie nicht nur unterm Nachbarbaum finden. Wir können Verbindungen stiften mit Genoss*innen in allen Klimazonen und Anbaugebieten und mit denen, die dazwischen Transportwege organisieren. Denn das ist linkes Preppen: einen Vorrat an Solidarität anzulegen.

Eva von Redecker

ist Philosophin – zurzeit mit einem Forschungsprojekt zu Autoritarismus an der Uni Verona. Ihr Buch »Revolution für das Leben« (S. Fischer 2020) handelt von kapitalistischer Zerstörung und vom Protest dagegen.

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