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|ak 666 | Soziale Kämpfe

Brückenköpfe in der vorrevolutionären Gegenwart

Die Philosophin Eva von Redecker über Zwischenräume, Knallrevolutionen und intellektuelle deutsche Freudlosigkeit

Interview: Nelli Tügel

Die Philosophin Eva von Redecker. Foto: Marvin Ester

Eva von Redecker hat ein Buch über die zerstörerische Kraft des Kapitalismus, die schöpferische Kraft neuer sozialer Bewegungen und Revolution geschrieben – und damit offenbar einen Nerv getroffen. Während des Interviews, das an einem tristen Corona-Novembertag per Zoom geführt werden muss, klingelt im Hintergrund bei ihr immer wieder das Telefon. Irgendwann bittet sie um eine kurze Pause, um rangehen zu können – es ist der nächste Journalist, der ein Gespräch führen will. Er muss warten, denn es gibt einiges zu bereden.

Warst du dieses Jahr schon Pilze sammeln?

Eva von Redecker: Fürs Pilze sammeln ist bei mir ein Mitbewohner zuständig. Ich habe nur ein paar weggejätet aus einem Beet, wo sie meiner Meinung nach nicht hingehörten.

In deinem neuen Buch geht’s überraschend viel um Pilze und sowieso um Flora, die alte Eiche etwa, und um Fauna, zum Beispiel durch die häufige Verwendung des Attributs »viehisch«. Warum ist dir das wichtig?

Das Buch ist der Versuch, sowohl eine Entfremdungs- als auch Herrschaftskritik des Kapitalismus zu formulieren, die das Naturverhältnis mit einbezieht. Auf der Phänomen-Ebene ist es wichtig, die natürlichen Lebensgrundlagen mit zu erfassen, und deshalb will ich sie auch durch entsprechende Allegorien oder Metaphern vor Augen führen. Der Baum ist nicht »die Natur«, aber das Bild hilft, in die Richtung zu denken.

Die Pilze und das Viehische wiederum sind die Extrem-Pole der Naturmetaphern, die ich verwende. Das Viehische knüpft an den Gedanken »Sozialismus oder Barbarei« an – dient also als Chiffre für das Schlimmste, wozu menschliche Herrschaft und Verwertung Natur gemacht hat. Gleichzeitig ist es die Projektion der Gewalt, die Menschen selbst auf Natur und Tiere ausüben. Tiere an sich sind nicht viehisch, sondern einfach Tiere. So verwende ich den Begriff: Viehisch ist das System, das Vieh produziert. In den Pilzen versuche ich zweierlei zu symbolisieren, das in der Linken eine lange Tradition hat: Die Radikalität – die Wurzel der Verhältnisse – und die Idee des Graswurzelnetzes, des Rhizoms. An beidem habe ich aber auch etwas auszusetzen.

Was denn?

Ich glaube, dass Marx nicht vollständig recht hat, wenn er sagt: Die Wurzel des Menschen ist der Mensch selbst. Sondern ich glaube, dass wir tatsächlich noch auf eine grundlegendere Art die Regenerationskreisläufe, in die Menschen eingebunden sind, mitdenken müssen, auch in der Gesellschaftskritik. Deshalb: Nicht nur Mensch als Wurzel, sondern auch die Pilze zwischen den Bäumen. Und an der Rhizommetapher stört mich, dass Rhizome im Grunde kolonialistisch expandieren. Das Tolle an den Pilzwurzeln ist, dass sie eine Art von solidarischem Stoffaustausch vorführen. Deshalb ist es für mich das schönere Bild als das der Graswurzelrevolution.

Eva von Redecker

ist Jahrgang 1982 und Philosophin. Sie war zehn Jahre lang Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für praktische Philosophie/ Sozialphilosophie der Humboldt-Universität zu Berlin, hat ein Jahr freischaffend gearbeitet und nun ein Fellowship in Verona angetreten. Kürzlich erschien ihr Buch »Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen« (S. Fischer Verlag).

Wenn man über dich im Internet recherchiert, stößt man schnell auf die Info, dass du in einer Landkommune lebst. Ist das einer der Zwischenräume, über die du schreibst, in denen schon heute das »Neue« entsteht?

(Genervtes Stöhnen) Das mit der Kommune schreiben oft die Leute, denen ich das nicht sage. Ich sage immer: Ich wohne mit Freunden auf dem Land – und dann geht sofort die Fantasie durch. Ich hab nichts gegen den Begriff, aber wenn man es aus der linksinternen Perspektive betrachtet, dann ist das überhaupt nicht ambitioniert genug. Wir haben zum Teil Gütertrennung, also nix mit ordentlicher Kommune.

Ich hab das Buch unter anderem geschrieben, weil mich nach dem vorherigen Buch »Praxis und Revolution«, in dem es ebenfalls um Zwischenräume und die gewisse zeitliche Vorwegnahme nachrevolutionärer Muster geht, schockiert hat, dass so oft der Verdacht aufkam, dass ich mit den Zwischenräumen eigentlich mein Privatleben meine. Da hab ich gedacht, jetzt muss ich ein Buch über soziale Bewegungen schreiben und zeigen, dass ein Zwischenraum eher ist, wenn in Minneapolis im Powderhorn Park gemeinsame Atemübungen gemacht werden und danach besprochen wird, die Polizei abzuschaffen.

Trotzdem würde ich in alter feministischer Manier auch daran festhalten, dass man sich selbst und den Versuch, seine eigenen verinnerlichten Herrschaftsmuster umzuarbeiten, nicht ausnehmen soll aus dem linken Projekt. Und natürlich, wie alle Menschen, denke ich auch aus eigener Erfahrung heraus.

Lass uns noch ein bisschen bei den Zwischenräumen bleiben. Du siehst sie einerseits als Möglichkeit, den Kapitalismus abzuschaffen, dafür brauche es keinen großen Knall, heißt es in deinem Buch, also nicht die leninistische Revolution. Zum anderen erkennst du diese Zwischenräume in den Praxen neuer Protestbewegungen wie Black Lives Matter, der Klimabewegung oder der Bewegung gegen Femizide in Lateinamerika. Das klingt sehr hoffnungsvoll, aber zugleich sind die Zwischenräume ja immerzu bedroht, weil der Kapitalismus sich alles unterwirft, wie du auch in deinem Buch schilderst, und dafür Staatsapparate, Polizei, Gefängnisse und mächtige Ideologien zur Verfügung stehen. Kann der Kapitalismus wirklich verdrängt werden?

Das Buch hat im Grunde keine besonders optimistische Diagnose dahingehend, dass das gelingen kann oder wird. Und ich hab auch keine. Die Frage ist trotzdem: Was ist da? Als materialistische Linke finde ich es wichtig, sich das zu fragen und dann mit dem zu arbeiten, was da ist. Man kann sich immer den Hardcore-Klassenkämpferbonus erkaufen, wenn man an dieser Stelle auf die Kapitalinteressen verweist, die dem linken Projekt entgegenstehen und die es zu brechen gilt, da sonst gar nichts gehe. Aber das nützt ja erst mal gar nichts. Und ich finde zum Beispiel Programme wie Andreas Malms Öko-Leninismus auf eine Art viel fantastischer und idealistischer als jede Graswurzelrevolution, weil es die Trägerschaft dafür nicht gibt. Da kannst du hundertmal sagen, es sollten jetzt diese zehn Forderungen mit einer revolutionären Partei durchgesetzt werden. Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen? Zu Lenins Zeiten war, das hat er selbst ja auch so reflektiert, die Fabrikarbeiterschaft schon örtlich versammelt und hierarchisch vorstrukturiert, was sich gut übertragen ließ auf Räte und Parteiorganisation. Das ist heute anders. Deswegen braucht es einen begrifflichen Apparat, der zu den Mobilisierungen und Sehnsüchten, die es an der Basis gibt, passt. Was bei dieser Kritik an den Zwischenräumen außerdem oft ausgelassen wird, ist, dass die großen Knallrevolutionen ja auch kooptiert wurden. Und zwar vom Autoritarismus. Da haben wir also ein Patt.

Mich reizt einfach das Nachdenken über ein vielstimmiges, antiautoritäres Transformationsmuster. Auch weil ich selbst Rumkommandieren und Organisieren erschreckend gut kann. Also wenn das gefragt ist: kein Problem. Ich kann sogar schießen.

Mich reizt zudem einfach das Nachdenken über ein vielstimmiges, antiautoritäres Transformationsmuster. Auch weil ich selbst Rumkommandieren und Organisieren erschreckend gut kann. Also wenn das gefragt ist: kein Problem. Ich kann sogar schießen.

Kannst du erklären, wie du das dann mit den Zwischenräumen genau meinst?

Ich würde das immer zweistufig aufbauen. Die Zwischenräume sind eine notwendige Bedingung. Wenn du nicht schon was vorwegnimmst, teilweise einübst, bestimmte Rückzugsräume hast, dann könnte – selbst wenn der Kapitalismus zusammenbräche – nichts Neues gelingen. Dafür braucht es Brückenköpfe in der vorrevolutionären Gegenwart. Ich glaube aber, dass noch ein Übertragungsschritt dazukommen muss, die Übertragung der neuen Muster auf die allgemeine Ebene, und das kommt nicht von selbst dadurch, dass einfach immer mehr Zwischenräume entstehen. Natürlich gibt es da Widerstände. Und dann ist die Frage: Kann man bestehende zentrale Institutionen umfunktionieren, sich da reinzecken? Wir müssen Hebelpunkte finden, um das Bestehende umzuwälzen.

Was kann man sich darunter vorstellen, dass neue Ordnungen in den Protestbewegungen vorweggenommen werden?

Einerseits bin ich von manchen kleinen Praktiken fasziniert und begeistert, sei es die Bezugsgruppenbildung bei Ende Gelände oder das Nachdenken über Regenerationsräume im Protest bei Black Lives Matter. Das sind für sich genommen schon wichtige Kenntnisse, die eingeübt werden. Zudem mache ich in dem Buch eine Art spekulierende Deutung, indem ich versuche zu zeigen, dass man sich sogar die gesellschaftlichen Grundbereiche wie Arbeiten und Güterzirkulation im Licht bestimmter Anliegen und Organisationweisen sozialer Bewegungen ganz neu vorstellen kann. Dass das die Fantasie beflügelt. Ein Beispiel: Die Art, wie in den Frauenstreiks über Streik und Arbeit nachgedacht wird, verweist schon darauf, dass Arbeit aus dem Verständnis als Lohnarbeit gelöst und als Arbeit für das Leben, als Reproduktionsarbeit verallgemeinert werden müsste. Oder dass indigene Formen der Eigentumskritik, die auf ein sorgendes, verantwortliches Weltverhältnis hinauslaufen, die Krise, in die das moderne Eigentum geraten ist, überschreiten.

Eine weitere These in deinem Buch ist, dass das Neue an den neuen Protestbewegungen sei, dass sie um das Leben selbst kämpfen. Zunächst klingt das plausibel, teils tragen sie das wie bei Black Lives Matter und Ni una Menos ja sogar im Namen. Aber die Geschichte zeigt, dass man dieses Motiv sehr oft findet: Die Parole Land, Brot, Frieden der Russischen Revolution etwa ist doch keine einfache Umverteilungsforderung: Ging’s da nicht auch ums Leben?

Ehrlich gesagt: Es wäre das Beste, wenn jemand jetzt ein Buch über die letzten 200 oder 400 Jahre schreibt und zeigt, dass ich nicht Recht habe und man frühere Kämpfe als Kämpfe für das Leben verstehen kann.

Ich hatte aus einer gewissen festgefahrenen, auch sehr deutschen Debattenkonstellation heraus, in der ständig die soziale Frage gegen Identitätspolitik ausgespielt wird, die Motivation, diese Neuheit zu behaupten. Also dass es, insofern es um Identitätspolitik geht, um eine sehr materialistisch verstandene Identitätspolitik geht, die nicht den liberalen Besitz an Eigenrechten, sondern das Leben und Atmen können zum Ausgangspunkt nimmt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, es füllt einen Raum, wenn man sagt: Schaut mal, das ist weder die Fantasie einer nackten sozialen Frage, noch sind das einfach Bürgerrechtsbewegungen, da passiert was Neues und es passt auf eine Art zusammen, die einem sonst vielleicht nicht aufgefallen wäre.

»Die Erkenntnis, die gesellschaftlichen Verhältnisse gestalten zu können, ist keine einmalige Einsicht, es ist eher eine Erfahrung, die sich im Zuge des Aufbegehrens und der Selbstregierung einstellt und rückblickend verfestigt«, schreibst du . Das ist ein alter Gedanke auch aus der Arbeiterbewegung. In »Massenstreik, Partei und Gewerkschaften« etwa zitiert Rosa Luxemburg eine schwedische Sozialdemokratin mit den Worten: »Ein mit Kraft und Solidarität durchgeführter politischer Streik ist immer unverloren.« Ein schöner Gedanke! Aber zugleich dominiert in den vergangenen Jahrzehnten eher die Erfahrung, dass auch große Bewegungen kaum etwas gestalten können. Selbst so was wie 1989 in der DDR ging für viele am Ende schlecht aus. Man muss also auch mal gewinnen, damit die Erkenntnis, gestalten zu können, sich verfestigt und nicht in ihr Gegenteil, nämlich triste Hoffnungslosigkeit, umschlägt, oder?

Ja. Und ich bin an dieser Stelle außerdem allergisch gegen eine fail-fail-better-Scheiternsromantik. Aber an Luxemburgs Idee, dass irgendetwas unverloren bleibt, möchte ich gern festhalten. Doch damit ist die Frage nach dem »Was« des Bewahrens erst gestellt. Wovon bleibt wirklich etwas übrig? Wenn ich sage, man muss auch die Erfahrung des Gestaltens machen, dann geht das einen Schritt weiter, als sich organisiert zu haben und im Kampf zu unterliegen. Die Tradition des rebellischen Universalismus, die ich aufrufe, ist eine, der es stark darum geht, dass man sich auch Weltbestandteile aneignen muss. Dann merkt man, dass man sich nicht nur kurz zusammentun kann, sondern auch darauf einigen, was man dann mit den Gütern macht, derer man sich annimmt. Der Begriff der Selbstermächtigung – so wichtig er zum Beispiel für Ende Gelände auch ist – verweist eigentlich nur auf die Schwäche, nichts mehr im Kampf zu besitzen als sich selbst. Scheitern ist nur dann produktiv, wenn man darin mehr Erfahrungen sammelt, als dass man es versucht hat, nämlich dann, wenn zumindest eine Weile lang auch etwas geklappt hat.

Der Begriff der Selbstermächtigung – so wichtig er zum Beispiel für Ende Gelände auch ist – verweist eigentlich nur auf die Schwäche, nichts mehr im Kampf zu besitzen als sich selbst.

Eine Bewegung ist also kein Selbstzweck, von der immer auch was Gutes bleibt?

Naja, oft bleibt halt auch Schlechtes: Zerbrochenes Geschirr, Burnout, faschistisch durchgepeitschter Backlash. Und dennoch: Auch wenn man am Großen scheitert, aber zum Beispiel merkt, wir konnten eine Aktion machen, haben uns geholfen und zusammengehalten, dann ist das auch etwas Besonderes, das sofort beglückend und bestärkend sein kann. Das unterschätzen wir Linken oft. Wir wissen, dass wir Recht haben, weil wir uns in linken Räumen bewegen, in denen manchmal auch was funktioniert. Viele Leute haben so eine Erfahrung noch nie gemacht. Wenn man es schafft, Menschen solche Erfahrungen zu ermöglichen, so ist zumindest das nicht verloren. Aber mein Gott, ja, vom Sieg der Revolution ist man dann noch sehr weit entfernt.

Was wünschst du dir, was mit deinem Buch geschieht?

Das Buch läuft gerade besser, als ich mir hätte träumen lassen. Das ist toll. Aber die Freude über eine gute Rezension oder Verkaufszahlen verfliegt auch schnell wieder …

(Zögert) Manchmal erhalte ich Feedback in Gestalt von Nachfragen, Gedanken, Assoziationen. Das ist, als bekäme man eine Postkarte von den eigenen Gedanken, nachdem man sie weggeschickt hatte. Ich höre auch von Lesegruppen, zum Teil intergenerationellen, und frage mich, ob es daran liegt, dass ich das Buch ein Stück weit für mein 18-jähriges Ich geschrieben habe. Viele der Sachen, die ich zusammentrage, sind Dinge, zu denen man, wenn man bereits in der Bewegung ist, auch so Zugriff hätte. Es ist nur vielleicht auf eine Art verdichtet, die man besser weiterreichen kann.

Aber ein Stück weit ist auch etwas Tristes daran – ich meine: scheiß Uni! Wo ein Großteil dieser Sachen nicht unterrichtet wird. Daraus speist sich der Lesehunger ja auch. Ein Stück weit ersetzt das Buch also etwas, von dem ich finde, es sollte viel institutionalisierter stattfinden.

Und schließlich hoffe ich, dass es Menschen Freude macht beim Lesen. Die deutsche intellektuelle Kultur hat so ein perverses Verhältnis zu Freudlosigkeit, nach dem Motto: Nur wer sich quält, hat gut nachgedacht; wenn sich jemand dabei gut fühlt, dann ist es nur Ringelpietz. Mich hat neulich eine Moderatorin gefragt: Wie streikst denn du? – anknüpfend an die Thematisierung von Streik in meinem Buch. Da hab ich geantwortet: Indem ich versucht habe, ein Buch zu schreiben, das seine Leser nicht quält.

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.