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|Thema in ak 674: Linke & Regierungen

Türöffner oder Kapelle auf der Titanic?

Sollen linke Parteien regieren? Braucht es überhaupt Parteien? Und was sind die Lehren aus Syriza, Sanders und Corbyn? Vier linke Aktivist*innen streiten miteinander

Interview: Lene Kempe und Nelli Tügel

Vier Personen im Porträt
Regierungen mit linker Beteiligung oder sogar Mehrheit: Nützen sie den Bewegungen, oder richten sie nur Schaden an? Das haben wir vier Aktivist*innen gefragt: Ines Schwerdtner, John Malamatinas, Alina Lyapina und Andreas Blechschmidt (von links nach... naja, auch links). Fotos: ak

Kurz vor den Bundestagswahlen ist – trotz geringer Chancen dafür – die öffentliche Debatte um ein rot-grün-rotes Bündnis voll entbrannt. Koalitionsfarbenspiele interessieren uns als ak nur bedingt, doch eine grundsätzliche Diskussion über Sinn und Unsinn sogenannten linken Regierens und die Erfahrungen der letzten Jahre erscheint uns überfällig. Daher haben wir Anfang September Ines Schwerdtner, Alina Lyapina, Andreas Blechschmidt und John Malamatinas eingeladen, mit uns und miteinander ins Gespräch zu kommen. 

Geht ihr eigentlich wählen?

Ines Schwerdtner: Ja, definitiv. Fünf Kreuze ohne große Motivation und ein spicy Kreuz für die Vergesellschaftung von Wohnungskonzernen. 

Andreas Blechschmidt: Ich werde auch wählen gehen, aber nicht, weil ich glaube, dass ich damit irgendetwas politisch bewirke, sondern um die Wahlbeteiligung zu erhöhen, da eine niedrige Wahlbeteiligung die Rechten in der Regel stärkt. 

Alina Lyapina: Ja, ich werde taktisch wählen gehen – ohne große Liebe für irgendeine Partei, dafür mit einem fetten Kreuz für Vergesellschaftung. Ich werde in Berlin wahrscheinlich Die Linke wählen, auf der Bundesebene weiß ich es noch nicht. 

John Malamatinas:  Ich komme eigentlich aus der Fraktion der notorischen Nichtwähler*innen. In den letzten Jahren wurde ich oft geblamed dafür, mit dem Argument, das Andreas gerade genannt hat. Deswegen gebe ich jetzt die Bundesstimme immer an jemanden ab, die nicht wählen darf, die Kommunalwahlstimme gebe ich selbst ab. Und an Referendas beteilige ich mich auch – tatsächlich war das erste Mal, das ich in meinem Leben gewählt habe, das Oxi in Griechenland.

Lange sah es nicht danach aus, doch nun könnte auch eine rot-grün-rote Bundesregierung zumindest rechnerisch möglich sein. Wie verfolgt ihr die Diskussion darum? Löst das was in euch aus – Hoffnung, Skepsis, Gleichgültigkeit?

Ines Schwerdtner: Ich verfolge die Diskussion natürlich, und einerseits ist es schön, dass es tendenziell eine Vergrößerung für Mitte-Links gibt im Verhältnis zur CDU, klar. Aber ich spüre keine große Euphorie was Rot-Grün-Rot angeht. Weder die Grünen noch die SPD wollen das, und aus Sicht der Linkspartei ist es, denke ich, nicht sinnvoll, die um eine Koalition anzubetteln, denn ich weiß gar nicht, was sie unter den jetzigen Kräfteverhältnissen bewirken wollen, mit sechs, sieben Prozent. Ich sehe weder, wie damit Schlimmes verhindert werden soll, noch wie sie unter diesen Bedingungen sozialpolitisch was reißen wollen. Das ist kein linkes Hegemonieprojekt. Ich setze da nicht darauf und denke, Die Linke würde mittelfristig dabei verlieren. Wir sollten nicht darauf hoffen und lieber einen sozialistischen Pol jenseits einer Koalition aufbauen. 

Rot-Grün-Rot ist kein linkes Hegemonieprojekt.

Ines Schwerdtner

Alina Lyapina: Also große Begeisterung löst das bei mir auch nicht aus, ich glaube aber mit Blick gerade auf die jetzigen Bundestagwahlen – wir stehen kurz vor der Klimakatastrophe und damit vor einer existenziellen Gefahr –, dass eine rot-grün-rote Bundesregierung schon wichtiger denn je ist. Wir brauchen beispiellose Klimamaßnahmen, die wird es mit der CDU nicht geben. Aber auch für die Frage, ob es mehr oder weniger Aufnahme von Geflüchteten in Deutschland gibt, macht es einen Unterschied, wer regiert. Aber klar, eine Regierungsbeteiligung der Linkspartei kann keine radikalen Veränderungen garantieren. Daher: Ich kann auf die Frage, Regierung oder nicht, nicht mit ja oder nein antworten; es kommt darauf an, was man sich davon verspricht. 

Von links oben nach rechts unten: Andreas Blechschmidt, Alina Lyapina, John Malamatinas, Ines Schwerdtner. Fotos: ak

Die Interviewpartner*innen

Andreas Blechschmidt ist seit 1989 in der Roten Flora und der linken Szene Hamburgs aktiv, bezeichnet sich, wenn es sein muss, als Postautonomer und schreibt hin und wieder Texte. Alina Lyapina ist Antira-Aktivistin. Sie lebt in Berlin, kommt aber eigentlich aus Hamburg, wo sie die Seebrücke mitgegründet hat. Seit drei Jahren ist sie auch in der überregionalen Seebrücke aktiv. Auch sie gehört keiner Partei an. John Malamatinas lebt seit 14 Jahren primär in Deutschland. Dennoch, oder gerade deswegen, hat er sich in den letzten Jahren intensiv mit der Krise in Griechenland beschäftigt, sowohl aktivistisch als auch publizistisch. Er ist u.a. aktiv im Bündnis Ums Ganze! und unterstützt Arbeitskämpfe. Ines Schwerdtner ist Chefredakteurin beim deutschsprachigen Jacobin Magazin und aktiv bei Deutsche Wohnen und Co. enteignen. Sie gehört einer Gewerkschaft, aber keiner Partei an. 

Andreas Blechschmidt: Die Frage, wie das gesellschaftliche Klima sich weiterentwickelt hängt natürlich mit davon ab, ob ein Merz oder ein Laschet die politischen Richtlinien bestimmen oder ob es eine Regierung von SPD, Grünen, vielleicht FDP oder wirklich ein rot-grün-rotes Bündnis gibt. Aber ich mache mir überhaupt keine Hoffnungen, dass das in den zentralen inhaltlichen Fragen – Klimapolitik, Flüchtlingspolitik, gesellschaftliche Verteilung des Reichtums, Rüstungs- und Militärpolitik – was bewirkt: Da wird sich substanziell gar nix ändern. Man erinnert sich: Es war eine rot-grüne Bundesregierung, die den ersten deutschen Angriffskrieg seit 1945 geführt und die Agenda 2010 als neoliberales Projekt durchgesetzt hat; Castortransporte störten die Grünen damals plötzlich auch nicht mehr so sehr – deswegen habe ich unter realpolitischen Aspekten echt überhaupt keine Hoffnung, sondern halte das eher unter dem Aspekt des gesellschaftlichen Klimas, in dem wir für bestimmte politische Projekte streiten können, für relevant.

John Malamatinas: Hm, alle nicht so euphorisch hier offenbar. Ich bin die letzten zwei, drei Wochen ja schon euphorischer geworden – Realpolitik zu verfolgen ist wie einen schlechten Krimi schauen, obwohl ich mit Wählen nicht so viel zu tun habe, hat es ja trotzdem mit unserer Politik enorm viel zu tun, was da passiert. Ich freue mich, wenn Laschet es nicht wird. Darüber hinaus ist es einfach interessant zu verfolgen, wie die herrschende Politik vor unseren Augen crasht. Wer das Triell gesehen hat, konnte das spüren: Das war inhaltlich ein Desaster. Von rechts wird jetzt gegen ein Linksbündnis gehetzt – das eröffnet Möglichkeiten für einen Diskurs. Und egal welche Koalition am Ende gewinnt: Wir sind gefordert, Druck zu machen, um die Themen, die du, Alina, angesprochen hast, zu stärken.

Egal welche Koalition gewinnt: Wir sind gefordert, Druck zu machen.

John Malamatinas

Alina Lyapina: Ja, so sehe ich das auch – wenn wir Parlamente als Machtorte verstehen, dann würde ich sagen: Klar, eine rot-grün-rote Bundesregierung würde vielleicht auch mehr Räume öffnen für linke Mehrheiten in der Gesellschaft und die Etablierung einer linken Erzählung. Das ist nicht zu unterschätzen. 

Ines, du hast gesagt, bei den jetzigen Kräfteverhältnissen würdest du eine Regierungsbeteiligung der Linken nicht begrüßen. Welche Bedingungen müssten denn erfüllt sein, damit eine linke Partei sich an einer Regierung beteiligen könnte?

Ines Schwerdtner: Wir sind heute in einer anderen historischen Situation als damals unter Rot-Grün: Durch die Klimakrise und die Pandemie sind wir in einer Umbruchphase, es muss viel investiert werden, Biden in den USA muss andere Politik machen als Clinton in den 1990ern, und auch Scholz würde nicht einfach dieselbe Politik machen wie Schröder. Die ökonomische Lage bietet sogar eher Räume für linke Politik, die objektiven Bedingungen für ein linkes Projekt sind eigentlich nicht schlecht. Aber politisch hätte das anders vorbereitet werden müssen: konzeptuell, personell – jemand wie Scholz kann einfach nicht für ein linkes Bündnis stehen, der steht für das Zentrum wie kein anderer – und auch programmatisch. Da gibt es im Moment keine Polarisierung, die drei großen Parteien haben sich so sehr einander angeglichen, dass keine von ihnen einen wirklichen Unterschied macht. Und wenn dann eine linke Partei bei sechs, sieben Prozent steht, was soll sie da ausrichten, wen sollen sie mobilisieren, wenn dieser Block – der, mit Nuancen, für die jetzigen Politik steht – dagegensteht?

Aber wann wären die Bedingungen denn dann gut für eine Regierungsbeteiligung? 

Ines Schwerdtner: Die Linke selber müsste stärker, ein richtiger Machtfaktor sein. Es müsste von den Kräfteverhältnissen quasi ausgetauscht sein mit den Grünen, so dass man sagen kann: Also ohne uns geht hier gar nichts, wir sind die Partei des Zeitgeistes und haben gesellschaftliche Mehrheiten hinter uns. Aber man kann auch nicht nur auf eine Partei schauen, sondern muss natürlich auch gucken, unter welchem Druck die anderen Parteien stehen, damit sie ein bestimmtes Regierungsprojekt verfolgen.

Alina, du hast gesagt, dass sich »Räume öffnen« könnten durch eine rot-grün-rote Regierung. Die historischen Erfahrungen zeigen aber, dass sich auch Räume schließen können durch Regierungsbeteiligungen linker Parteien.

Alina Lyapina: Für mich sind mit einer Regierungsbeteiligung die Aufgaben der außerparlamentarischen Bewegungen noch lange nicht erledigt. Als Beispiel kann man sich die Zusammenarbeit von Seebrücke mit Rot-Grün-Rot auf Landesebene ansehen. Da gibt es Aufnahmeprogramme in Berlin und Bremen und neuerdings auch in Thüringen für Geflüchtete aus Afghanistan. Dass es überhaupt den Druck gab, diese Programme zu starten, hängt wesentlich mit der Seebrücke zusammen. Wenn es also um die Frage geht, ob sich Räume schließen oder öffnen, liegt es auch an uns, mit einer proaktiven Machtpolitik dafür zu kämpfen, dass die Räume für linke Politik geöffnet werden und offen bleiben. 

Schauen wir mal über Deutschland hinaus: Die Syriza-Regierung in Griechenland von 2015 bis 2019 zählt sicherlich zu den wichtigsten linken Regierungsprojekten der vergangenen Jahre. War das Projekt von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil die Sachzwänge und der Druck zu hoch waren, oder hat Syriza eine historische Chance verspielt?

Andreas Blechschmidt: Ich glaube, dass dieser Frage ein großes Missverständnis zugrunde liegt. Bei der Frage nach den Möglichkeiten linker Regierungen innerhalb der parlamentarischen Demokratie schwingt ja immer die Vorstellung eines Idealzustandes mit, als wäre da ein politischer Rahmen, in dem man eigentlich gute Politik machen könnte. Aber die bürgerliche parlamentarische Demokratie hat vor allem die Sicherung kapitalistischer Verwertungspolitik zum Ziel, mittlerweile in der neoliberalen globalen Variante. Das ist gesetzt. Deshalb sprechen wir – etwas zugespitzt gesagt – darüber, ob die Linke nicht eigentlich nur die Kapelle auf der Titanic ist. Auch wenn sie vielleicht die bessere Musik spielt, der Laden geht trotzdem unter. Das kapitalistische System ist gerade so runtergewirtschaftet, dass es an allen Ecken und Enden knallt, aber das heißt nicht, dass wir eine realistische Option auf eine Veränderung der Verhältnisse durch Regieren haben. Sowohl Syriza, als auch Podemos in Spanien, sind daran gescheitert, dass es ihnen nicht gelungen ist, die Systemfrage zuzuspitzen und eine Debatte um eine wirklich andere Gesellschaft zu eröffnen. 

Die Tsipras-Regierung war die richtige Regierung, nur im falschen Land.

Alina Lyapina

Alina Lyapina: Ich sehe das anders. Wir als gesellschaftliche Linke werden niemals irgendwas gewinnen, wenn wir uns mit der Staatsfrage nicht beschäftigen. Wir brauchen eine Staatsstrategie, und deshalb müssen wir auch Parteipolitik machen. Ich würde auch nicht sagen, dass Syriza ein Beispiel für linkes Scheitern ist. Das ist vielleicht eine steile These, aber ich denke, es war die richtige Regierung, nur im falschen Land. Denn es waren ja vor allem Gründe außerhalb Griechenlands, nämlich die hegemoniale Position und die Blockade Deutschlands in der EU, die den Versuch Syrizas zum Scheitern verurteilt haben. Meine Lehre daraus ist, es nächstes Mal besser zu machen, anstatt sich nun für immer und ewig mit der Opposition und der Beobachter*innenrolle zufrieden zu geben. 

Andreas Blechschmidt: Aber das ist doch genau der Punkt: Wenn es in Griechenland ein Klima des Aufbruchs gibt, wird eben im Zweifelsfalls global interveniert. Deshalb glaube ich, dass jede richtige Regierung immer im falschen Land sein wird, solange die neoliberale kapitalistische Hegemonie nicht durchbrochen werden kann. Ich finde Projekte wie Seebrücke dennoch gut und wichtig. Aber man muss sich darüber im Klaren sein, wie limitiert und begrenzt diese Art von Realpolitik mit Blick auf eine wirklich emanzipatorische Perspektive ist. 

Jede richtige Regierung wird immer im falschen Land sein, solange die neoliberale Hegemonie nicht durchbrochen werden kann.

Andreas Blechschmidt

Alina Lyapina: Aber die wichtigste Lehre aus Griechenland ist doch: Wir müssen hier bei uns für Aufbruch sorgen, um es unseren griechischen Genoss*innen leichter zu machen. Deshalb ist mir deine Position nicht kämpferisch genug.

John Malamatinas: Ich würde Alina zustimmen – das war linkes Regieren in einer Extremsituation. Und das Verhältnis von hier nach Griechenland war immer sehr paternalistisch. Aber ich würde auch Andreas zustimmen: Der Kapitalismus ist per se krisenhaft, und es wird nie eine linke Regierung geben, die keine solchen großen Widerstände des Establishments produziert. Syriza hat unter diesem Druck die Rolle von Pasok ersetzt, sie haben gezeigt, was passiert, wenn man schnell die Macht erobert: Die Macht erobert dann einen selbst. Der Staat ist kein Fahrrad, auf das man steigen und einfach losfahren kann, wie Verena Krieger es formuliert hat. 

Es gab noch zwei – nicht realisierte – linke Regierungsprojekte, die uns in den vergangenen Jahren beschäftigt haben: Um Jeremy Corbyn im Vereinigten Königreich und Bernie Sanders in den USA. Beides hat nicht geklappt, in UK war die Niederlage sogar ziemlich groß. Was zieht ihr daraus für Schlüsse?

Ines Schwerdtner: Es hätte ernsthaft einen Unterschied gemacht – ob in zwei der größten Industrienationen der Welt ein Green New Deal umgesetzt wird oder nicht, macht einen Unterschied –, und es hat sich gelohnt, für beide Projekte zu kämpfen. Weil sich dahinter extrem viele Menschen versammelt haben, die politisiert wurden; so was wie Sozialismus durfte vorher gar nicht mehr gesagt werden, das hat sich geändert. Es gab wieder Hoffnung in einem Umfeld, das wirklich extrem neoliberal, antikommunistisch und sozialstaatlich kompletter Abfuck ist. Gleichzeitig haben wir uns die Frage gestellt, was wir tun, wenn wir tatsächlich gewinnen. Natürlich geht da niemand naiv ran, von wegen: Hej, wir kriegen den Staat geschenkt und schon wird alles super. Es war klar, dass es riesigen Druck geben würde. Aber ich finde es dennoch zynisch, von vornherein zu sagen: Das klappt sowieso nicht. Du kannst nicht Hunderttausenden Menschen sagen, wir können was bewegen – das ist jetzt bei Deutschen Wohnen & Co. enteignen genauso –, wenn mir dann andere Linke sagen: Wenn ihr gewinnt, schafft ihr es eh nicht das umzusetzen. Da kriege ich die Krise! Dann können wir auch gleich aufhören. Die Lehre aus den beiden Fällen ist allerdings, den – auch innerparteilichen – Druck nicht zu unterschätzen. Der war stärker, als ich es angenommen hatte.

John Malamatinas: Als ich 2010 in New York war, gab es ganz wenige Kämpfe. Zehn Jahre später war ich wieder da: Seitdem hatte sich so viel entwickelt! Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass etwas, was sich in der Gesellschaft bewegt, auch mal Realpolitik vor sich her treiben kann, einen Bernie überhaupt ermöglicht. Bei einigen Leuten hatte ich aber auch das Gefühl, für die waren die Wahlen das Endziel, vor allem bei den Anhänger*innen Corbyns.

Alina Lyapina: In Bezug auf Corbyn denke ich auch, es ist gescheitert, weil die Leute einfach alles auf diese Wahl gesetzt haben, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie sie ihr radikales Programm ohne Massenmobilisierung umsetzen können. Ja, es hat einen Unterschied gemacht, wir haben jetzt eine Generation von jungen Menschen, die sich als Sozialist*innen beschreiben, das ist viel mehr als in Deutschland. Aber: Der alte Sozialist Corbyn aus London mit dem posh Akzent hat einfach nicht genug Leute auf dem Land überzeugt, das müssen wir halt auch akzeptieren und daraus Lehren ziehen und zwar in Bezug darauf, wie wir ein Machtprojekt aufbauen. 

Wir müssen jetzt nochmal über die Landesregierungen reden, das bleibt sonst der Elefant im Raum. Es gibt ja in Deutschland drei Landesregierungen, an denen die Linkspartei beteiligt ist: Berlin, Bremen und Thüringen, wo die Linke sogar den Ministerpräsidenten stellt. Wie nehmt ihr diese Regierungsprojekte wahr?

Andreas Blechschmidt: Ich kriege aus Berlin mit, dass dort ständig Projekte geräumt werden und habe das Gefühl, dass die Linkspartei substanziell keine Verbesserung der Politik bringt. Ich finde allerdings richtig und wichtig – weil Landespolitik andere Räume, um das Stichwort nochmal aufzugreifen, eröffnen kann –, dass außerparlamentarische Initiativen wie die Seebrücke die Linkspartei in die Pflicht nehmen und versuchen, diese Räume zu öffnen, das ist der politische Nutzen solcher Konstellationen. Aber das sind eher taktische Manöver. Grundsätzlich kann ich keine politische Qualität in den Regierungsbeteiligungen erkennen, weil ich den Eindruck habe, dass, wenn es wirklich Spitz auf Knopf kommt, vormals nicht verhandelbare politische Positionen plötzlich doch dem Sachzwang, dem politischen Kompromiss und dem Koalitionsvertrag geopfert werden. Das ist ein Muster, das sich regelmäßig wiederholt.

Ines, du bist ja auch bei Deutsche Wohnen und Co. enteignen aktiv. Wie schaust du denn von da aus auf diese Frage?

Ines Schwerdtner: Die Linke ist in Berlin ja die einzige Partei, die das Volksbegehren vorbehaltlos unterstützt, die Grünen nur so halb, die SPD gar nicht, insofern ist es relativ eindeutig, auf wen man da zählen kann. Strategisch gesprochen würde ich daher sagen, dass es der Kampagne und dem Volksentscheid nützt, wenn Die Linke stark ist, weil sie die einzige ist, die dann wahrscheinlich daraus ein Gesetz machen wird. Und trotz aller Vorbehalte, die ich habe, würde ich auch sagen, dass Die Linke sozialpolitisch in Berlin viel umgesetzt hat: Kostenloses Schülerticket und kostenloses Schulessen für Grundschulkinder zum Beispiel. Wenn ich das mit anderen Städten vergleiche, merke ich einen Unterschied. Das macht nicht alles andere wett, aber mieten- und sozialpolitisch hat man die Beteiligung der Linkspartei an der Regierung in Berlin gespürt, und deswegen möchte ich das nicht verteufeln. 

In Berlin gab es allerdings früher auch schon zwei Regierungsbeteiligungen der Linkspartei bzw. der PDS – die rot-roten Sparsenate Anfang der Nullerjahre. Vieles von dem, was die Linke jetzt im Schulterschluss mit sozialen Bewegungen bekämpft, hat sie damals mitverantwortet. Heute sagt sie, sie hätte aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt – allerdings waren die Bedingungen in Berlin, zum Beispiel die ökonomische Situation, in der letzten Legislatur günstiger als Anfang der Nullerjahre, als der Spardruck noch viel krasser war. Was ist unsere Rückversicherung dafür, dass die Linkspartei unter härteren Umständen nicht wieder in das Kleinere-Übel- und Sachzwangmuster zurückfällt?

Ines Schwerdtner: Eine Rückversicherung haben wir nicht. Es kann tatsächlich so wieder kommen, die Gefahr sehe ich auch. Dabei glaube ich denen sogar, dass es Lerneffekte gab. Aber: Das ist keine Garantie, dass das so bleibt, und es ist dann unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass das nicht passieren kann. Insofern tragen wir als gesellschaftliche Linke da auch eine Mitverantwortung.

Alina, du hast vorhin schon angesprochen, dass die Seebrücke derzeit mit den Mitte-Links-Landesregierungen an Aufnahmeprogrammen für Geflüchtete aus Afghanistan arbeitet. Zugleich wurden aus Thüringen bis vor kurzem noch Menschen nach Afghanistan abgeschoben, und auch Berlin hat dieses Jahr Menschen nach Afghanistan abgeschoben. 

Alina Lyapina: Ja, right. 

Ist das etwas, wo man sagt: Ok, scheiße, aber trotzdem ist es gut, wenn es Mitte-Links-Regierungen gibt, dann kann man wenigstens auch Landesaufnahmeprogramme aufsetzen – oder ist der Preis, nämlich dass eine linke Partei das dann mitträgt, nicht doch zu hoch?

Alina Lyapina: Ich sehe bei der Landespolitik schon viele Spielräume. Was die Abschiebepolitik angeht, ist es etwas anders: Grundsätzlich liegt es in der Kompetenz der Bundesregierung, darüber zu bestimmen. Das entschuldigt natürlich nicht die Landesregierungen, sie könnten Abschiebungen dennoch stoppen, tun es aber nicht. Das ist für mich jedoch kein Argument gegen eine Beteiligung an Landesregierungen. Die Antwort darauf sollte sein, dass wir durch die Zusammenarbeit von parlamentarischer und außerparlamentarischer Linker Abschiebeverbote erzwingen. Die Antwort sollte nicht sein: Dann halt keine Regierungsbeteiligung. 

John Malamtinas: Ich stimme allen von euch gemachten taktischen Erwägungen zu. Niemand ist dagegen, Verbesserungen zu erreichen – wer gegen sowas wie ein kostenloses BVG-Ticket ist, hat sie nicht mehr alle. Ich unterstütze jeden realpolitischen Kampf, wie ich auch jeden Arbeitskampf unterstütze. Aber warum? Nicht, weil ich glaube, dass solche Errungenschaften dauerhaft sind, sondern weil in jedem Kampf auch Bewusstsein entsteht, Menschen sich weiterentwickeln, dazu lernen, neue Bündnisse entstehen. Was aber Quatsch ist, sind Vorstellungen davon, dass man einfach eins und eins zusammenzählen könne, nach dem Motto: Erst haben wir ne Halbinsel, dann eine ganze Insel und irgendwann den Bund. Das sind Träumereien. 

Aber Kämpfen nur um des Kämpfens willen bringt es doch auch nicht, wir müssen auch was gewinnen, oder? Wenn es nicht mit Regierungsbeteiligungen geht oder es da enge Grenzen gibt: Was ist dann die alternative linke Machtstrategie?

Andreas Blechschmidt: Ich bin seit über 30 Jahren Teil einer außerparlamentarischen, undogmatischen und linksradikalen Bewegung, mit allen Redundanzen, die es da gibt. Also: Typische Kampagnenpolitik, Selbstbezogenheit, fehlende Bündnisfähigkeit in die Gesellschaft hinein. All diese Makel sehe ich, und trotzdem ist dieser Politikansatz für mich alternativlos. Am Ende des Tages ist es ja doch so, dass man so etwas bewegen kann: Spielräume für Geflüchtete schaffen, solidarische Projekte an den Start bringen, den Kampf gegen militante Nazistrukturen koordinieren. Es gibt viele Punkte, wo die außerparlamentarische Linke in den vergangenen Jahrzehnten etwas erreicht hat. Deutsche Wohnen und Co. enteignen finde ich auch total richtig. Die – insgesamt ziemlich am Boden liegende – außerparlamentarische Linke muss sich allerdings wieder organisieren, muss sich vernetzen, besser darin werden, gesellschaftlich anschlussfähig zu sein. Und wenn man das primär verfolgt, dann kann man auch nochmal darüber nachdenken, inwieweit Anknüpfungspunkte an Parlamentarismus vorstellbar sind. 

John Malamatinas: Ich bin ja in antikapitalistischen Gruppen aktiv, was aber auch in den vergangenen Jahren – seit der EZB-Eröffnung – keine großen Erfolgsmomente geschaffen hat. Und was bleibt eigentlich von solchen Einzelevents wie damals in Frankfurt oder G20 in Hamburg? Ein einschneidendes Moment war für mich die Gelbwestenbewegung in Frankreich, die meinen kompletten politischen Kompass verändert hat. Deswegen distanziere ich mich immer mehr vom starren Organisationsaufbau, von der Vision, dass wir einfach was parallel zum Parlament aufbauen. Meine Hoffnung ist eher sowas wie die Gelbwesten, die unbeherrschbare Momente schaffen oder die junge Generation der Klimabewegung, von deren Transformationsradikalität wir noch viel mehr mitbekommen werden.

Ines Schwerdtner: Aber da kann man doch direkt sagen: Wenn jetzt Macron gegen Le Pen im Frühjahr wieder zur Wahl steht, hat man nix gewonnen. Ich fand die Gelbwestenbewegung auch total inspirierend, gerade auch in ihrer Spontaneität. Aber ich finde es schwierig, wenn sich das nicht verstetigt, daraus keine Politik gemacht werden kann. Es braucht eine Form. 100, 1.000 oder auch 100.000 Leute auf einer Demo machen den Unterschied noch nicht. Ne, du musst in die Gesellschaft viel mehr reinreichen. 

Wie schafft man das? 

Ines Schwerdtner: Es braucht planvolles Organizing, wir brauchen viel viel mehr Menschen hinter uns. Bewegungen können sehr flüchtig sein, vereinnahmt oder zerschlagen werden, es braucht eine Form, die robuster und widerständiger ist, die planvoll und organisiert vorgeht. Wenn dann eine Situation eintritt, in der spontan ganz viele zu uns kommen, super! Das wäre dann eine Art revolutionärer Moment. Aber darauf können wir ja nicht warten, da müssen schon vorher Strukturen da sein. Deshalb bin ich da für die alten Organisationsformen sozialistischer Politik: Gewerkschaften und Parteien. 

Alina Lyapina: Für mich ist das mit der Form die zentrale Frage, mit der wir uns beschäftigen sollten. Nicht regieren Ja oder Nein, sondern: Wie bauen wir Gegenmacht auf, welche Tools haben wir dafür? Wählen und Regieren ist eins davon, aber überhaupt nicht das wichtigste. Ich glaube, wir brauchen ein Machtprojekt bis zur nächsten Bundestagswahl, das lokal stark verankert ist, und es gibt keinen Weg, der an Massenorganizing vorbeigeht – in den Kiezen zum Beispiel, da ist Deutsche Wohnen und Co. enteignen bestes Beispiel dafür, was möglich ist. Aber auch am Arbeitsplatz: Wie können wir solche Organisierungen unterstützen und ausbauen? Das sind für mich spannende Fragen. Das alles braucht ein – da bin ich bei Ines – hohes Level an sozialistischer Organisierung. Da sollten wir vielleicht mal über eine neue Bewegungspartei sprechen, denn die Linkspartei ist das nicht, die ist nicht die Zukunft.

Ines Schwerdtner: Also ich würde jetzt keine Partei gründen, sondern strategisch eher versuchen, die Linkspartei dazu zu bringen, auf einen sozialistischen Gegenpol zu setzen und sich nicht anzubiedern. 

Uns passiert es in letzter Zeit erschreckend häufig, dass Menschen in unserem Umfeld sogar damit liebäugeln, aus taktischen Erwägungen heraus die Grünen zu wählen, um Laschet zu verhindern. Was würdet ihr denen sagen? 

Andreas Blechschmidt: Nein, Nein, Nein.

Ines Schwerdtner: Nein, auf keinen Fall. Nicht das kleinere Übel wählen, wenn es anders geht!

Alina Lyapina: Ich überlege selber, die Grünen zu wählen im Bund. Zum einen hat Die Linke ein ernsthaftes Rassismusproblem, weil sie gegen den Wagenknecht-Flügel nicht vorgehen will. Das und andere Fehler während der Wahlkampagne zeigen, dass diese Partei nicht lernfähig ist. Zum anderen, es könnte uns den Weg zu einer neuen Partei abkürzen, wenn die Grünen wie erwartet den Platz in der Mitte einnehmen und die Linke raus ist.

Ines Schwerdtner: Oh Gott, das wäre wirklich grauenhaft! Leute, die sich wünschen, dass die Linke untergeht, damit sie eine neue Linke bekommen, finde ich zynisch. Der Entstehungsprozess der heutigen Linken hat Jahre gedauert, das ist eine Errungenschaft gegenüber anderen europäischen Ländern, die keine Linkspartei haben.

Lene Kempe

ist Redakteurin bei ak.

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.

Thema in ak 674: Linke & Regierungen

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