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|Thema in ak 668: Erinnerungspolitik

Versteckte Briefe und Reden im Exil

Der Umgang mit den Möllner Brandmorden von 1992 ist ein Lehrbeispiel – für offizielle Ignoranz wie auch die Selbstorganisierung von Hinterbliebenen

Von Johannes Tesfai

In der Möllner Mühlenstraße zeugt ein Mahnmal von den rassistischen Morden. Foto: Jean Pierre Hintze /Flickr, CC BY-SA 2.0

Es sind Schriftstücke der Solidarität, die 27 Jahre im Verborgenen blieben. Mehrere hundert Menschen hatten sie nach dem rassistischen Brandanschlag in Mölln vom 23. November 1992 verfasst. Damals zündeten Neonazis das Haus der Familie Arslan mit Molotowcocktails an. Die zehnjährige Yeliz Arslan, die 14-jährige Ayşe Yılmaz und die 51-jährige Bahide Arslan starben, weitere Mitglieder der Familie wurden schwer verletzt. Die nun aufgetauchten Solidaritätsbekundungen zeigen, wie viele Menschen damals an die Betroffenen gedacht und ihnen Unterstützung angeboten haben. Junge Menschen, die sich vom tödlichen Rassismus erschüttert zeigten, aber auch die Lagergemeinschaft Ravensbrück, die ihre Solidarität mit den Opfern ausdrückte und einen Austausch anregte.

Ibrahim Arslan überlebte als Siebenjähriger den Anschlag nur, weil seine Großmutter ihn in Handtücher wickelte und er so nach mehreren Stunden von der Feuerwehr aus dem gelöschten Haus gerettet werden konnte. Seine Schwester, seine Großmutter und seine Cousine starben in den Flammen. Er hat diese Briefe nun von der Stadt Mölln zurückgefordert und betont, dass diese »Briefe ein Zeichen der Solidarität der Mehrheitsgesellschaft sind, die uns damals nicht erreicht hat.«

Dabei wären nicht nur die Beileidsbekundungen und solidarischen Worte zur Bewältigung der Situation für Ibrahim Arslan und seine Familie wichtig gewesen: In einigen Briefen ging es auch um konkrete Hilfsangebote, die die Überlebenden nicht erreichten. Damit sei es viel schwieriger gewesen, ein eigenes Netzwerk aufzubauen, sagt Arslan heute. Denn die Stadt Mölln selbst war nicht willens, den Betroffenen viel Unterstützung zu geben. So stellte sie die Überlebenden der Familie vor die schlechte Wahl, entweder in eine Geflüchtetenunterkunft zu ziehen oder ins Brandhaus zurückzukehren. Arslan sagt hierzu: »Wenn ein weißer Deutscher betroffen wäre, genau wie wir betroffen waren, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass man ihn nicht in ein Haus stecken würde, wo ihm das ganze Leid zugefügt wurde.« Dass dieser Umgang System hat, stellt er in diesem Kontext fest: »Das ist kein Fehler, sondern definitiv ein rassistischer Umgang mit den Geschehnissen.«

Ein Verdacht, den auch die Geschehnisse in Sommer 1992 in Rostock-Lichtenhagen nahelegen. Denn nur wenige Monate vor dem Neonazi-Angriff auf das Haus der Arslans in Mölln war es dort zu tagelangen neonazistischen Pogromen gekommen, bei denen Neonazis das sogenannte Sonnenblumenhaus mit Molotowcocktails in Brand steckten. Auf dem Höhepunkt der rassistischen Eskalation zogen sich Polizei und politisch Verantwortliche völlig zurück und überließen die rund 100 Bewohner*innen des Sonnenblumenhauses dem tobenden Mob. Die Begleitmusik dazu lieferte eine politische Kampagne gegen Geflüchtete, um eine Grundgesetzänderung zuungunsten von Asylbewerber*innen zu erreichen. Der Unwille von Politik und Polizei, der rassistischen Gewalt entgegenzutreten, trat ganz offen zutage. Im Fall des rassistischen Brandanschlages von Mölln jedoch zeigte sich auch bundespolitisch völlige Gleichgültigkeit gegenüber den von Neonazis Ermordeten und ihren Angehörigen.

Auf die Frage, warum Kanzler Helmut Kohl nicht zur Trauerfeier nach Mölln komme, antwortete sein Pressesprecher, die Bundesregierung werde nicht in »Beileidstourismus ausbrechen«. Kein Wort über Schuld, Verantwortung oder Konsequenzen. Kein Wort über Unterstützung oder Gedenken.

Das zeigte sich auch kurz nach den Morden an Yeliz Arslan, Ayse Yilmaz und Bahide Arslan, deren Leichen vom Hamburger Flughafen aus in die Türkei überführt werden sollten. Als die Särge der Ermordeten am Hamburger Flughafen eintrafen, fand sich dort eine Trauergemeinde ein, die Abschied nehmen wollte. Die Hamburger Polizei sperrte daraufhin die Eingangshalle des Flughafens ab und griff die Trauernden mit Schlagstöcken an. Unter den Verletzten des Polizeieinsatzes fand sich auch Faruk Arslan, dessen Tochter, Nichte und Mutter bei dem Brandanschlag starben. Im weiteren Verlauf wurden seitens der Polizei Warnschüsse abgegeben, als eine Person in ihrem Auto verhaftet werden sollte, in dem sich zu diesem Zeitpunkt auch deren Kinder befanden.

Die Ereignisse erschütterten die Öffentlichkeit so stark, dass sogar der Personalrat der Referendar*innene am Hanseatischen Oberlandesgericht in einer Presseerklärung den Rücktritt des Hamburger Innensenators Werner Hackmann forderte. Eine ungewöhnliche Allianz bildete sich um diesen Personalrat: Gemeinsam mit türkischen, linken Strukturen sowie der Eisenbahnergewerkschaft wurde daraufhin eine Pressekonferenz abgehalten. Schon hier zeigten sich Ansätze einer gemeinsamen Vernetzung von unten, die aufzeigte, dass es jenseits der Regierungserklärungen eine Zivilgesellschaft gab, die selbst bei staatlichen Übergriffen uneingeschränkt solidarisch war und die das Problem sehr deutlich benannte, den ein Polizeiapparat darstellt, der trauernde Migrant*innen als Sicherheitsrisiko ansieht.

Selbstorganisiertes Gedenken

Ibrahim Arslan stellt klar, dass es in erster Instanz gar nicht darum gehe, »dass staatliche Institutionen sich mit uns solidarisieren sollen. Unsere Forderung geht an die Mehrheitsgesellschaft, an Leute, die wir an unsere Seite bekommen wollen.« Seit vielen Jahren versuche er mit anderen, ein bundesweites Netzwerk aufzubauen, in dem sich Betroffene von antisemitischer und rassistischer Gewalt organisieren könnten. Schließlich zeigt die Möllner Erfahrung, dass staatliche Stellen in der Aufarbeitung und dem Gedenken vor allem ein Hemmschuh waren. Gleichzeitig werden den Betroffenen viele Steine in den Weg gelegt, wenn sie selbst tätig werden und Forderungen stellen.

Indem sich Familie und Unterstützer*innen nicht auf die staatlichen Institutionen verlassen, schaffen sie auch etwas anderes: Sie gewinnen Handlungsfähigkeit zurück. Und dies hat im Kleinen bereits begonnen: Die Stadt Mölln veranstaltete jährlich eine Gedenkveranstaltung anlässlich des rassistischen Brandanschlags. Viermal wurde bei dieser offiziellen Veranstaltung die sogenannte »Möllner Rede« gehalten. Die Redner*innen waren von der Familie Arslan ausgewählte Personen, die sich einer kritischen Bestandsaufnahme zu gesellschaftlichem Rassismus, Neonazismus und dem Umgang mit Gedenken widmete.

Doch als sich Familie Arslan Beate Klarsfeld, die ihr Wirken besonders der Aufdeckung von NS-Karrieren einflussreicher Personen gewidmet hatte, als Rednerin wünschte, war das offenbar ein bisschen Kritik zu viel für die Stadt Mölln. Ohnehin wollte sie die Überlebenden lieber in der Statistenrolle des Gedenkens sehen. Seitdem betreibt die Stadt etwas, was symptomatisch für den Umgang mit Opfern rechter Gewalt scheint. Sie erteilt Rederecht bei einer Veranstaltung, die es nur wegen der Betroffenen gibt. Die Betroffenen haben durch ihr selbstorganisiertes Gedenken hingegen ihre Rolle als Statisten verlassen, wie Arslan schon 2013 betonte. Seitdem organisiert der Freundeskreis und die Familie die Veranstaltung »Möllner Rede im Exil« – und zwar in Eigenregie. Bekannte Persönlichkeiten, wie Esther Bejarano oder Idil Baydar, haben seitdem in diesem Rahmen gesprochen.

Neue Allianzen

Dieses selbstorganisierte Gedenken ist nicht nur viel wahrnehmbarer als das städtische Gedenken, sondern auch zu einem politischen Akt geworden. Für die Betroffenen bedeutet es nicht nur, die rassistischen Brandanschläge politisch aufzuarbeiten, sondern auch den gesellschaftlichen Umgang mit Rassismus und Antisemitismus in den Fokus zu rücken. Denn was Ibrahim Arslan über die verschollenen Briefe sagt, lässt sich auch auf den staatlichen Umgang mit den Opfern übertragen: »Wir möchten die Mehrheitsgesellschaft davon überzeugen, dass hier extrem respektlos mit Betroffenen und Angehörigen umgegangen wird und das nicht erst seit gestern.«

Arslan und seine Mitstreiter*innen verlassen die passive Rolle und bringen sich aktiv in die Auseinandersetzung ein. Hieraus ergeben sich neue Allianzen. 2020 beteiligten sich Überlebende und Angehörige des rassistischen Anschlags auf die Synagoge von Halle und den rassistischen Morden aus Hanau am selbstorganisierten Gedenken der Familie. So schafft es der Freundeskreis um die Familie immer wieder, Betroffene zu Wort kommen zu lassen, die ein ähnliches Schicksal teilen. Durch die verschollenen Briefe wurde den Möllner Überlebenden viel Solidarität und Beileid vorenthalten, aber auch Vernetzung unmöglich gemacht. Das holen sie spätestens seit 2013 nach und das in einer Gesellschaft, die oft nicht gewillt ist, Migrant*innen oder Jüdinnen und Juden zu schützen. Aus Gedenken ist politische Vernetzung geworden.

Johannes Tesfai

ist Redakteur bei ak.