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»Wir müssen den Alltag stören«

Ein Aktivist der Hamburger Ramazan-Avcı-Initiative erklärt, warum ein Streik gegen Rassismus notwendig ist

Interview: Nelli Tügel

Am 2. Juni 1993 streikten und demonstrierten Tausende in Hamburg gegen Rassismus. Foto: privat

Nach Hanau steht die Frage im Raum, was getan werden kann, um den Nazis und Rassisten endlich Wirksames entgegenzusetzen. Migrant*innen dürfen nicht mehr hinnehmen, dass Politiker*innen das Geschehen bestimmen und wieder zum Alltag zurückkehren, sagt Gürsel Yıldırım von der Hamburger Ramazan-Avcı-Initiative. Und: Auf die Straße gehen reicht nicht aus. Der Alltag, die Routinen in Deutschland müssen gestört werden.

Es kursiert ein Aufruf für einen Generalstreik am 8. Mai. Was ist der Hintergrund?

Gürsel Yıldırım: Es geht um einen Aufruf, der angelehnt ist an eine Rede, die ich im Namen der Ramazan-Avcı-Initiative in Hanau bei einer Kundgebung nach den rassistischen Morden vom 19. Februar am Samstag, den 22.02.20, gehalten habe. Wir als RAI haben dort den Vorschlag eines Tag des Streiks gemacht, und das wurde dann aufgegriffen und verbreitet sich jetzt. Wenn es so viele Klimastreiks gibt, warum soll dann nicht ein Generalstreik gegen Rassismus möglich sein, an dem alles stillgelegt wird?

Du hast in dieser Rede auf Erfahrungen aus den frühen 1990er Jahren verwiesen, etwa auf die Hamburger Widerstandsinitiative gegen Rassismus, damals gab es als Reaktion auf die rassistischen Morde in Mölln 1992 und Solingen 1993 selbstorganisierte Streikinitiativen. Was habt ihr genau gemacht?

Nach den rassistischen Anschlägen in Mölln und Solingen hat die Widerstandsinitiative gegen Rassismuss – Irkçılığa Karşı Mücedele Girişimi – Aktionen organisiert. Nach dem rassistischen Anschlag in Solingen haben wir für den 2. Juni 1993 zu einem Tag des Streiks aufgerufen und eine Kundgebung mit ca. 10.000 Menschen vor dem Hamburger Rathaus organisiert. Zu der Initiative gehörten nicht nur linksorientierte migrantische Vereine von Menschen aus der Türkei oder Kurdistan, sondern auch Studenten, Arbeiterinnen, Schüler, Selbstständige, gerade aus dem Bereich der Gastronomie. Sie haben nicht nur mit aufgerufen, sondern sich auch selbst organisiert und den Streik durchgeführt. Das war eine einmalige Sache: Während damals in Solingen über Differenzen, türkische Fahnen und so weiter diskutiert wurde, haben wir es in Hamburg geschafft, alle, die von Rassismus betroffen sind, anzusprechen und an den Aktionen zu beteiligen.

Mein Vorschlag, den ich in der Hanauer Rede gemacht habe, kommt also nicht aus heiterem Himmel. Wir haben diese Erfahrung gemacht, auch wenn viele sich heute nicht daran erinnern oder gar nicht wissen, dass es das gab 1993.

Gürsel Yıldırım von der Hamburger Ramazan-Avcı-Initiative. Foto: privat

Gürsel Yıldırım

ist studierter Soziologe, langjähriger Aktivist der Initiative zum Gedenken an Ramazan Avcı (gegründet 2010) sowie Mitbegründer der Initiative zur Aufklärung des Mordes an Süleyman Taşköprü und der Initiative in Gedenken an Semra Ertan.

Warum glaubst du, dass es gerade jetzt notwendig ist, daran anzuknüpfen?

Vor allem nachdem Rot-Grün 1998 an die Regierung gekommen war, war die antirassistische Szene vermehrt mit sich selbst beschäftigt. Es sind in dieser Zeit auch neue Gruppen entstanden – Kanak Attak beispielsweise, die gesagt haben, der Kampf gegen Rassismus auf der Straße bringt nicht mehr viel, wir müssen ihn auf die Bühne tragen. Kultur und Kunst wurden wichtiger. Kanak Attak haben ihr Manifest damals in der taz veröffentlicht, einer linksliberalen Zeitung, auch das war kein Zufall. Sie haben auch viel getan, was ich sehr schätze, aber der selbstorganisierte Widerstand von Migranten, People of Color, Schwarzen, all diese Bemühungen sind im Laufe der Zeit vergessen worden, und es waren eher akademisch orientierte, kunst- und kulturorientierte Veranstaltungen in geschlossenen Räumen, die an diese Stelle traten. Diese Strategie hat die ganz normalen Menschen auf der Straße aber nicht angesprochen. Und dann war da noch die sogenannte Integrationskraft der Schröder-Fischer-Regierung, die antirassistische Aktivisten auch teilweise eingebunden hat und ihnen den Weg in die Institutionen geebnet hat. Das hat viele Aktivisten, die auf der Grundlage der Selbstorganisierung und Selbstverteidigung unterwegs waren, im Laufe der Zeit »integriert«.

Und was braucht es jetzt?

Ich sehe das ganz pragmatisch: In Mölln sind drei Menschen von uns ermordet worden, in Solingen fünf, dann war Lübeck, NSU, zuletzt Halle und nun Hanau … Die völkische Bewegung hat es geschafft, in den vergangenen Jahren sich mit der AfD eine Struktur, eine Partei zu schaffen, die ohne Hemmung rassistische und antisemitische Hetze verbreitet. Wir hingegen sind nur damit beschäftigt zu reagieren, und die Reaktionen bleiben zu schwach. In Chemnitz etwa haben die Rechten vergangenes Jahr ihre Macht demonstriert. Was passierte dann: Es wurde ein Konzert organisiert mit 50.000 Menschen und behauptet: Wir sind mehr als die, wir sind die Gesellschaft der Vielen und so weiter. Ich glaube, darüber lachen die Nazis! Sie haben eine Strategie, sie machen einen Schritt nach dem anderen. Die Morde hören nicht auf. In Hanau sind nun neun Menschen von uns ermordet worden und deswegen müssen wir jetzt über das Gewöhnliche hinausgehen, den Alltag stören. Es reicht nicht, in geschlossenen Räumen Veranstaltungen zu machen nach dem Motto: »Lass uns über Rassismus reden«, oder Konzerte oder die gleichen Reaktionen wie in den vergangenen Jahren abzuspulen – nein. Migrantinnen und Migranten sind der schlafende Riese, und der muss jetzt geweckt werden.

Aber es gab ja durchaus auch Initiativen in den vergangenen Jahren, die auf die Straße mobilisiert haben: Unteilbar beispielsweise …

Wir möchten gerne unteilbar sein, aber wir sind es nicht! Natürlich sind wir mehr, aber wieviele sind dann auch tatsächlich auf der Straße, wenn es darauf ankommt, sich an die Seite der Betroffenen zu stellen? Was bringt es, wenn wir zu solchen Events gehen, dann nach Hause fahren und unsere Seele gereinigt haben? Nichts. Moralische Reinwaschung reicht nicht aus. Es braucht vielmehr eine ernsthafte langfristige antirassistische Strategie. Selbstverständlich gehen wir dabei mit den Angehörigen gemeinsam vor und reden nicht nur davon, wir müssten die Angehörigen »in den Mittelpunkt« stellen. Und wie gesagt: Über das bisher Gewöhnliche hinausgehen, deshalb der Streik. Darüber sind wir im Austausch mit den Angehörigen in Hamburg und so weit wie möglich auch in Hanau.

Dieses Schild hing am 2. Juni 1993 in vielen Hamburger Geschäften.

In Deutschland einen Generalstreik auszurufen, ist tatsächlich ziemlich ungewöhnlich – politische Streiks sind formal und de facto verboten. Haben sich Gewerkschaften schon bei euch gemeldet, seit der Aufruf kursiert?

Von den Gewerkschaften gab es ja die zehnminütige Arbeitspause am 4. März, wer weiß, vielleicht war das schon eine indirekte Reaktion auf unsere Initiative. Darüberhinaus: Nein, sie haben sich noch nicht gemeldet, aber sie werden es tun, wenn Betroffene anfangen, sich auf der Straße zu bewegen, geschlossen Stärke zu demonstrieren und Druck auf ihre Organisationen zu machen. Nicht nur auf die Gewerkschaften, auch auf die bundesweit organisierten türkeistämmigen Dachverbände, damit auch diese sich anschließen und es endlich eine wirkliche Reaktion gibt auf das Treiben der Nazis. Der Bruder von Gökhan Gültekin hat in Hanau gesagt: »Passt bitte auf euch auf, wir sind im Stich gelassen worden. Gebt auf euch Acht, es wird nicht aufhören. Es wird noch schlimmer«. So denken viele von uns, und wir können nicht einfach weiter warten, bis es die nächsten Angriffe gibt. Das »Passt auf euch auf« habe ich als Appell an die von Rassismus Betroffenen verstanden, sich selbst zu verteidigen. 

Nelli Tügel

ist Redakteurin bei ak.