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|ak 717 | Deutschland

Was die Volksseele zum Kochen bringt

Die schwarz-rote Koalition setzt auf Hass gegen Arme und die Demontage von sozialen Sicherungssystemen

Von Stefan Dietl

Spitzenpolitiker*innen von CDU und SPD, mittig Friedrich Merz mit dem Koalitionsvertrag in den Händen.
Grund zur Freude über das Ergebnis der Koalitionsverhandlung haben einzig die Kapitalverbände. Foto: Wikimedia Commons/Sandro Halank, CC BY-SA 4.0

Noch in diesem Jahr soll das Bürgergeld abgeschafft und durch eine »Neue Grundsicherung« ersetzt werden. Die den Abbau sozialstaatlicher Leistungen begleitende Propagandaoffensive läuft bereits auf Hochtouren. So kündigt Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) unlängst an, die Wohnkostenübernahme für die Empfänger*innen von Grundsicherung zu begrenzen, CSU-Vorsitzender Markus Söder will ukrainischen Geflüchteten den Zugang zu Sozialleistungen erschweren, und SPD-Sozialministerin Bärbel Bas (SPD) bedient im Interview mit dem Stern das Klischee von »mafiösen Strukturen« aus Osteuropa, die organisierten Sozialbetrug betreiben.

Die schwarz-roten Koalitionäre machen sich damit an die Umsetzung dessen, was bereits im Koalitionsvertrag vereinbart worden war. Schon als nur wenige Wochen nach der Bundestagswahl die Spitzen von Union und SPD vor die Presse traten, um ihre Koalitionsvereinbarung der Öffentlichkeit zu präsentieren, war klar: Grund zur Freude über das Ergebnis der Koalitionsverhandlung haben einzig die Kapitalverbände. Denn die Antwort der Bundesregierung auf die multiple kapitalistische Krise ist eine offensive Klassenpolitik von oben. Unter der Maxime der Haushaltskonsolidierung planen die Koalitionäre – angefeuert von Medien, Wirtschaftsinstituten und Arbeitgeberverbänden – den größten Angriff auf den Sozialstaat seit der rot-grünen Agenda 2010.

Im Wahlkampf bereits hatten sich SPD und Union einen regelrechten Schäbigkeitswettbewerb bei der Diffamierung von Sozialleistungsbeziehenden geliefert. Im Mittelpunkt stand dabei der Kampf gegen vermeintliche »Arbeitsverweigernde«. Diese existieren bei näherem Hinsehen zwar nur in der Fantasie – die Bundesagentur für Arbeit zählte für die ersten elf Monate 2023 bei 5,5 Millionen Leistungsberechtigten gerade einmal knapp 14.000 Fälle, in denen eine angebotene Arbeit abgelehnt wurde –, doch der Hass auf die Armen, bei gleichzeitiger Angst, bald selbst dazuzugehören, bringt seit jeher die deutsche Volksseele zum Kochen. Die Hetze gegen vermeintliche Totalverweigerer wurde zum Wahlkampfschlager.

Zwar hat, wer zum Mindestlohn schuftet oder von einer Armutsrente leben muss, nicht einen einzigen Euro mehr in der Tasche, wenn Bürgergeldempfangende sanktioniert werden, weil sie einen Termin verpassen, doch dem viel beschworenen »Gerechtigkeitsempfinden« ist Genüge getan. Dass gleichzeitig rund 800.000 Beziehende von Bürgergeld sogenannte Aufstockende sind, also zwar arbeiten, dabei aber so wenig verdienen, dass sie zusätzlich Bürgergeld beantragen müssen, spielt in der öffentlichen Wahrnehmung hingegen keine Rolle.

Sanktionen und Gängelung von Erwerbslosen

Nachdem die Ampelkoalition bereits im vergangenen Jahr zum kafkaesken Hartz-Sanktionsregime zurückgekehrt ist und die von ihr zu Beginn der letzten Legislaturperiode verabschiedeten, kleinen optischen Aufhübschungen in der Armutsgesetzgebung rückgängig gemacht hat, soll das Bürgergeld nun endgültig der Vergangenheit angehören. Man will »wirklich an die Substanz des Systems«, droht CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann. Konkret bedeutet das die Senkung des Schonvermögens, die Ausweitung des zumutbaren Arbeitsweges und schärfere Sanktionen und Kontrollen zur Gängelung Erwerbsloser bis hin zur Grenze der Legalität und im Zweifel darüber hinaus.

So soll die Mindestsicherung komplett entfallen, sollte jemand »grundsätzlich nicht bereit« sein, Arbeit anzunehmen. Wenn jemand ohne sachlichen Grund eine zumutbare Arbeit ablehne, müsse davon ausgegangen werden, dass dieser nicht bedürftig und – so die dahintersteckende Logik – daher auch nicht auf staatliche Leistungen angewiesen sei. Wer beispielsweise mehr als einmal zu Terminen des Jobcenters nicht erscheint, soll deshalb auch keine Leistungen mehr erhalten. Angesichts des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Grundsicherung ein kalkulierter Verfassungsbruch. CDU-Fraktionsvorsitzender Jens Spahn mahnte deshalb bereits im Wahlkampf eine Verfassungsänderung an, sofern »eine generelle Streichung durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht gedeckt ist.«

Die Antwort der neuen Bundesregierung auf die multiple kapitalistische Krise ist eine offensive Klassenpolitik von oben.

Ein weiterer Kernbestandteil der von den Kapitalverbänden vehement forcierten, klassenpolitischen Offensive ist der systematische Angriff auf grundlegende Arbeitnehmer*innenrechte. Die von der Union geplante Einschränkung des Streikrechts hat es zwar nicht in den Koalitionsvertrag geschafft, allerdings soll das Arbeitszeitgesetz ausgehöhlt und die tägliche Höchstarbeitszeit von acht Stunden durch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von maximal 48 Stunden ersetzt werden. Das bedeutet – wenn man die Vorschriften für Ruhezeiten berücksichtigt –, dass zukünftig eine Tagesarbeitszeit von zwölf Stunden und 15 Minuten erlaubt ist. (Siehe ak 716)

Rütteln an den Grundfesten der Arbeitsbeziehungen

Mit dem Achtstundentag nimmt die schwarz-rote Koalition die wohl größte Errungenschaft der Gewerkschaftsbewegung ins Visier. Über Generationen hinweg bewegte der Kampf für den Achtstundentag weltweit die Arbeiter*innenbewegung: Von Melbourne über Chicago bis Berlin protestierten immer wieder Hunderttausende für die Begrenzung des Arbeitstags. Selbst der 1. Mai, der wichtigste Gedenk- und Feiertag der Gewerkschaftsbewegung, geht auf die Auseinandersetzung um den Achtstundentag zurück.

In der Novemberrevolution 1918 erkämpft, von den Nationalsozialisten zu Kriegsbeginn beseitigt und 1945 von der Alliierten Kontrollkommission wieder in Kraft gesetzt, gilt er seitdem als Symbol für die Erfolge der Gewerkschaftsbewegung und die Integration der Arbeiter*innenschaft in den bürgerlichen Staat.

Die Abschaffung der Tageshöchstarbeitszeit rüttelt an den Grundfesten der Arbeitsbeziehungen im Nachkriegsdeutschland und am gewerkschaftlichen Selbstverständnis. Mit der Debatte um die Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes könnte zudem bald noch mehr zur Disposition stehen. So drängt das Kapital beispielsweise drauf, die gesetzlich vorgeschriebene Ruhezeit von mindestens elf Stunden zwischen zwei Arbeitstagen zu schleifen.

Abgeschafft wird auch das Lieferkettengesetz, für das sich die Gewerkschaften jahrelang eingesetzt hatten. Es verpflichtet Unternehmen zur Einhaltung und Prüfung menschenrechtlicher Mindeststandards in der gesamten Produktionskette – aus Sicht der neuen Bundesregierung offenbar ein nicht hinnehmbarer Eingriff in die unternehmerische Freiheit.

Zum Ziel gesetzt haben sich die Koalitionäre vor allem, die Zugriffsmöglichkeiten des Kapitals auf die Ware Arbeitskraft zu erweitern. Dazu dienen sowohl die Aufweichung des Arbeitszeitgesetzes als auch die steuerliche Begünstigung von Überstunden und die als »Aktivrente« bezeichneten, deutlich höheren Steuerfreibeträge für Erwerbsarbeit im Ruhestand. Hinzu kommt der erhöhte Druck auf Erwerbslose, jede Arbeit anzunehmen.

Wenig Gegenwehr von Gewerkschaften

Die Gewerkschaften haben diesem schwarz-roten Frontalangriff auf die Rechte der Lohnabhängigen derzeit nur wenig entgegenzusetzen. Seit Jahren sinkt die Tarifbindung kontinuierlich und mit ihr die betriebliche und tarifliche Durchsetzungsfähigkeit. Bei den jüngsten Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst konnten die Gewerkschaften ihre Forderung nach mehr Freizeit nicht durchsetzen und mussten stattdessen hinnehmen, dass Beschäftigte künftig auf freiwilliger Basis 42 Stunden pro Woche arbeiten können. Ähnliches ist auch bei anderen Tarifvereinbarungen zu befürchten.

Es wäre jedoch verfehlt, die derzeitige Offensive des Kapitals als Ausdruck der Stärke zu interpretieren. Im Gegenteil steckt das »Modell Deutschland« tief in der Krise. Ging man in der Finanz- und Staatsschuldenkrise noch als Sieger aus der Weltmarktkonkurrenz hervor, scheint man den multiplen Krisen der Gegenwart nicht gewachsen. Die Veränderung der globalen Handelsbeziehungen und die Zuspitzung der Handelskonflikte erschüttern die exportorientierte deutsche Wirtschaft. Zugleich wachsen die Konflikte unter den verschiedenen Kapitalfraktionen. Die Widersprüche zwischen einer rigiden Haushaltspolitik oder Investitionen in die Modernisierung der Industrie, zwischen der Verteidigung traditioneller Industriezweige oder der ökologischen Transformation der deutschen Wirtschaft, lähmen die politische Handlungsfähigkeit und verschärfen die Krise.

Einzuhegen versucht die neue Bundesregierung diese Widersprüche mit einer Krisenlösungsstrategie, auf die sich die verschiedenen Kapitalfraktionen einigen können und die schon in der Vergangenheit von Erfolg gekrönt war: die Abwälzung der Krisenkosten auf die Lohnabhängigen durch Sozialabbau und Entrechtung in der Arbeitswelt.

Stefan Dietl

arbeitet als freier Journalist und Buchautor zu sozial- und gewerkschaftspolitischen Themen.

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