Nachhut der Mobilmachung
Staat und Militär planen die umfassende Aufrüstung – von den Gewerkschaften kommt dröhnendes Schweigen
Von Malte Meyer

Regierungsformen kommen und gehen, Rheinmetall aber bIeibt. In der Lüneburger Heide, genau genommen in der Ortschaft Unterlüß, befinden sich seit Ende des 19. Jahrhunderts wichtige Produktionsstätten des Düsseldorfer Rüstungskonzerns. Um gegen die jüngsten Millioneninvestitionen in die Erweiterung seiner Munitionsherstellung zu protestieren, mobilisierte ein lokales Antikriegsbündnis Mitte April unter dem Motto »Tomaten statt Granaten« zu einer Ostermarschaktion nach Unterlüß – immerhin sollen auch Teile einer Kleingartenanlage dem Ausbau der Munitionsfabrik zum Opfer fallen. Wer aber kritisierte den Auftritt des DGB-Kreisvorsitzenden Charly Hübner auf der kleinen Kundgebung und seine für sozialökologische Rüstungskonversion Partei ergreifende Rede öffentlich? Ausgerechnet die Kolleg*innen von der Chemiegewerkschaft, zu deren Organisationsbereich das Werk des Börsenlieblings und neuerlichen BVB-Sponsors zählt. (ak 705) Dem Lokalblatt Cellesche Zeitung teilte die IG-BCE-Bezirksleitung mit, »dass sie für eine starke Rüstungsindustrie in Deutschland sei und die Investition von Rheinmetall in Unterlüß ausdrücklich begrüße«, Hübners Positionierung hingegen für ein »großes Ärgernis« halte.
Weil auch der DGB-Vorstand den »Ausbau der Verteidigungskapazitäten auf nationaler und europäischer Ebene und die Verbesserung der Ausrüstung der Bundeswehr« in einem Positionspapier zu den diesjährigen Ostermärschen für erforderlich erklärt hatte, taugt die kleine Szene aus der norddeutschen Provinz als Symbol für die innergewerkschaftlichen Debatten über Friedenspolitik und Kriegstüchtigkeit. Auf der einen Seite gibt es – an der aktiven Basis wie im unteren Funktionskörper – mehr oder weniger kleine Minderheiten linker Kolleg*innen, die die deutschen Gewerkschaften im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu kriegs- und aufrüstungskritischen Statements bewegen wollen. Ihnen gegenüber steht ein ungleich größeres und einflussreicheres Lager, das dem Militarisierungskurs, den alle Bundesregierungen spätestens seit der Münchener Sicherheitskonferenz von 2014 verfolgen, bereitwillig Flankenschutz leistet. Zur Stärke dieser Kräfte trägt bei, dass sie sich – zumindest bislang – auf das Desinteresse eines beträchtlichen Teils der Gewerkschaftsmitgliedschaft stützen können. Wie hat sich diese politische Auseinandersetzung in jüngster Zeit entwickelt und welche Schlussfolgerungen sind daraus für antimilitaristische Praxis zu ziehen?
Pflugscharen zu Schwertern
Beispiel Rüstungsindustrie: War von friedenspolitisch engagierten IG-Metall-Arbeitskreisen der 1980er Jahre Rüstungskonversion noch so verstanden worden, dass Waffenschmieden auf zivile Produkte umgestellt werden sollten, so lautet die Parole von »Zeitenwende«-Ideolog*innen seit einigen Jahren ganz unbiblisch »Pflugscharen zu Schwertern«. Von Entlassung bedrohte Arbeiter*innen des Automobilzulieferers Continental werden von Rheinmetall ebenso übernommen wie Bosch-Kolleg*innen vom baden-württembergischen Radarfabrikanten Hensoldt.
Und am ehemaligen Alstom-Standort in Görlitz produziert der Rüstungshersteller KNDS künftig Kampfpanzer statt S-Bahnen. »Die große industrielle Basis Deutschlands könnte so zur Grundlage für ein künftig auch militärisch potentes Europa werden«, freut sich nicht nur das »Industriemagazin« aus Österreich über solche kriegswirtschaftlichen Perspektiven. Auch aus Sicht der IG Metall sind das insgesamt gute Nachrichten für ihre ansonsten von Stellenabbau bedrohten Mitglieder: Zwar seien, so etwa der ostdeutsche Bezirksleiter Dirk Schulze über den Fall Görlitz, sicherlich »nicht alle glücklich über die Umstellung auf eine Fertigung von Wehrtechnik. Das kann ich verstehen. Unbestreitbar aber ist, dass wir – leider – in diesen Zeiten diese Produktion benötigen.« Sollte es unter Rheinmetall-Regie künftig sogar zu einem Umbau des Osnabrücker VW-Werks kommen, wäre ein anders lautender Tenor von IG-Metall-Statements mehr als überraschend – da hat nicht zuletzt das gemeinsam mit der Rüstungsindustrie und dem SPD-Wirtschaftsflügel veröffentlichte Positionspapier »für eine zukunftsfähige Sicherheits- und Verteidigungsindustrie« vom Beginn des Jahres 2024 vorgesorgt. (ak 704)
Friedensappelle kommen und gehen, die Kriegstüchtigkeit der Gewerkschaften aber bleibt.
Von der seit 2022 als »Zeitenwende« deklarierten Militarisierung Deutschlands ist aber weder nur der Organisationsbereich der IG Metall betroffen, noch beschränken sich deren Auswirkungen schon jetzt allein auf die Beschäftigtenzahlen. Wie das Ende Januar dieses Jahres veröffentlichte »Grünbuch Zivil-Militärische Zusammenarbeit 4.0« und Berichte über den als vertraulich eingestuften 1000-seitigen »Operationsplan Deutschland« der Bundeswehr vom Frühjahr 2024 verdeutlichen, handelt es sich bei der Militarisierung vielmehr um eine umfassend angelegte Mobilmachungsanstrengung, die den deutschen Staat und seine sogenannte Zivilgesellschaft gemäß der Leitlinie von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) bis spätestens 2029 »kriegstüchtig« machen soll.
Natürlich verfolgt die gezielte Einbindung in derartig geheimnisumwitterte Szenarien immer auch den Zweck, ein wichtigtuerisches Heer mittlerer Leitungspersonen zu willigen Multiplikator*innen fortzubilden. Antimilitarist*innen sollten diesen konzertierten Angriff auf zählebige Bestände nicht-militärischer Mentalität (auch in den Gewerkschaften) aber trotzdem nicht ignorieren. Immerhin handeln die Notstandspläne u.a. von einer wehrmedizinischen Zurichtung des Gesundheitswesens, vom Streikbrechereinsatz im gesamten Verkehrssektor, von der Kriegswichtigkeit medialer Spionagehysterien, vom Vorgehen gegen Antikriegsaktivist*innen sowie nicht zuletzt von als notwendig erachteten Grundrechtseinschränkungen.
Bislang indes ist aus den Gewerkschaften, die sich für die hiervon tangierten Bereiche öffentlicher und privater Dienstleistungen zuständig erklären, angesichts der ins Auge gefassten Kriegstüchtigkeit von Staat und »Zivilgesellschaft« kaum anderes zu vernehmen als dröhnendes Schweigen – von einem auch nur bescheidenen Versuch, sich an der gewerkschaftlichen Mobilisierung gegen die Notstandsgesetze Ende der 1960er Jahre ein Vorbild zu nehmen, gar nicht zu reden. Wie dominant hingegen die Linie gewerkschaftlichen Flankenschutzes für den Militarisierungskurs im Ganzen ist, zeigte sich zuletzt, als der Bundestag am 18. März mit einer bereits überholten Mehrheit aus CDU, SPD und Grünen beschloss, Militärausgaben in Zukunft von der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse auszunehmen.
Von der IG Metall (»Den jetzigen Vorstoß begrüßen wir daher klar«) über den DGB (»Befreiungsschlag für die Modernisierung unseres Landes«) und die NGG (»immens wichtiger Schritt«) bis hin zur IG BAU (»hohe Verteidigungsausgaben werden ob der weltpolitisch instabilen Lage als notwendig angesehen, sollten aber im europäischen Verbund geleistet werden«) freuten sich die Gewerkschaftsspitzen so sehr über das mit dem Beschluss gekoppelte Sondervermögen für die Infrastruktur, dass sie dafür auch den nunmehr ungebremsten Aufrüstungskurs in Kauf nahmen. Wer mochte da noch kleinlich auf Ressourcenverschwendung, Kriegs- und Inflationsgefahren sowie das Erzübel der Vaterländerei hinweisen, als der neue Außenminister Johann Wadephul (CDU) jüngst sogar einen Militäretat von fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts vorschlug, was rund der Hälfte des regulären Bundeshaushalts von 2024 entspräche?
Teil der Friedensbewegung?
Der allgemeine Trend zu »Kanonen statt Butter« (so der Zeitenwende-Ökonom Clemens Fuest in einer Talkshow) bedroht nicht nur sozialstaatliche Sicherungsstandards, sondern hat auch bereits deutliche Spuren in den zurückliegenden Tarifrunden hinterlassen. Während die Reallöhne trotz jüngster Steigerungen noch immer nicht wieder das Niveau von 2019 erreicht haben, sind für abgeschlossene Tarifverträge inzwischen Laufzeiten von deutlich über zwei Jahren üblich geworden, so dass z.B. im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen erst im Frühjahr 2027 wieder gestreikt werden könnte. Bis dahin aber dürften weder gegen eine Streichung von Feiertagen noch gegen die ebenfalls geplante Verlängerung der täglichen Höchstarbeitszeiten tarifpolitische Abwehrkämpfe geführt werden.
Überhaupt halten sich die Gewerkschaften nach wie vor mehr als zurück, wenn es darum geht, den einfachen Zusammenhang zwischen schuldenfinanzierter Militarisierung und steigenden Lebenshaltungskosten zu thematisieren. Vielmehr scheinen sie wider besseres Wissen an ein die arbeitenden Klassen ausnahmsweise einmal verschonendes Kriegswirtschaftswunder zu glauben. Angesichts enger gewerkschaftlicher Schulterschlüsse mit Rüstungsindustrie und Repressionsapparaten sowie epochaler Bundestagsbeschlüsse, mit denen der deutsche Staat von der Auf- zur Hochrüstung übergeht – Merz zufolge soll die Bundeswehr künftig die »konventionell stärkste Armee Europas« werden –, stellt sich die Frage, was eigentlich noch alles passieren muss, um das in den Gewerkschaften bislang angeblich bloß schlummernde friedenspolitische Gewissen wachzurütteln? Die Organisator*innen der nächsten (und inzwischen dritten) gewerkschaftlichen Friedenskonferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung Anfang Juli in Salzgitter haben zwar recht, dass Gewerkschaften bislang nicht zu den Stoßtrupps, sondern eher zur Nachhut der Mobilmachung gehören. Sie deshalb als »Teil der Friedensbewegung« anzusprechen, ist aber ebenso falsch, wie es das z.B. im Fall der olivgrünen Partei ohne Zweifel wäre. Friedensappelle kommen und gehen, die Kriegstüchtigkeit der Gewerkschaften aber bleibt.