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Rechte Polizeinetzwerke, Drohbriefe, Naziterror: Warum die Antifa die NSU-2.0-Ermittlungen an sich ziehen muss

Von Jan Ole Arps

Mehrere Polizisten in Uniform und Helm stehen drohend in einer Reihe, im Hintergrund ist Qualm zu sehen
Wofür gibt es eigentlich die Polizei? Foto: ak

Seit mehr als zwei Jahren schreiben Neonazis mit Hilfe von Informationen aus Polizeicomputern Drohbriefe, oft unter dem Titel »NSU 2.0«. Das vorläufig letzte bekannte neonazistische Drohschreiben wurde am 17. September 2020 verschickt. Die Ermittlungen verlaufen schleppend und fallen durch eine bemerkenswerte Häufung von Pannen und Versäumnissen auf. Damit erinnern sie an jene zu der Serie rechter Brandanschläge in Berlin-Neukölln. In beiden Fällen scheint die Verstrickung von Polizist*innen in rechte Umtriebe den Ermittlungseifer massiv zu dämpfen. Inzwischen gibt es sogar Hinweise auf Verbindungen zwischen beiden Komplexen.

Unter dem Label »NSU 2.0« wird meist ein Bündel neonazistischer Drohschreiben von unterschiedlichen Absendern zusammengefasst, die seit August 2018 an Personen des öffentlichen Lebens verschickt werden: Anwält*innen, Journalist*innen, Politiker*innen, mehrheitlich Frauen, ein großer Teil von ihnen mit Migrationsgeschichte. Viele enthalten Todesdrohungen inklusive detaillierter Vergewaltigungs- oder anderer Gewaltfantasien, extrem misogyne und rassistische Beleidigungen, manche auch Geldforderungen. (1) Auch wenn die Fälle in der Öffentlichkeit oft als ein großer Komplex erscheinen, gibt es unterschiedliche Absender, und es ist von mehreren Urhebern auszugehen, die nicht zwingend alle miteinander in Verbindung stehen müssen.

Es kann fast als sicher gelten, dass hessische, vermutlich auch Berliner Polizist*innen in einen Teil der Taten verwickelt sind.

Die Drohschreiben enthalten ein knappes Dutzend unterschiedlicher Signaturen: Schreiben, die mit »Die Musiker des Staatsstreichorchesters« unterzeichnet sind, werden seit April 2018 verschickt. Andere häufig verwendete Signaturen sind »NSU 2.0«, »NationalSozialistische Offensive«, »SS-Obersturmbannführer« oder »Wolfszeit 2.0«. Seit August 2018 greifen einige Schreiben auf Informationen aus polizeilichen Datenbanken zurück, die zum Teil erst kurz vor dem Versand der Morddrohungen in hessischen – und wie Ende August bekannt wurde: auch in Berliner – Polizeirevieren abgerufen wurden. Es kann somit fast als sicher gelten, dass hessische und vermutlich auch Berliner Polizist*innen zumindest in einen Teil der Taten verwickelt sind.

Was ist bisher bekannt?

Die erste mit »NSU 2.0« unterzeichnete Todesdrohung wurde am 2. August 2018 per Fax an die Kanzlei der Frankfurter Anwältin Seda Başay-Yıldız versendet, die im Münchner NSU-Prozess Nebenklagevertreterin der Familie von Enver Şimşek war. Ihre Daten waren nur eineinhalb Stunden vor Versand des Faxes von einem Polizeirechner im 1. Revier in Frankfurt abgerufen worden.

Am 20. Dezember 2018 erhielt Başay-Yıldız den zweiten Brief, zehn weitere (meist Faxe) folgten. Das zweite Schreiben enthielt neben Drohungen auch die – im Melderegister gesperrte – Wohnanschrift von Başay-Yıldız sowie die vollen Namen ihrer Eltern und ihrer Tochter und nahm Bezug auf die zwischenzeitlich in Frankfurt entlassenen »Polizeikollegen«.

Soweit bisher bekannt, wurden in zwei weiteren Fällen Informationen aus Polizeidatenbanken verwendet. Das betrifft die Kabarettistin İdil Baydar, deren Daten am 5. März 2019 sowohl im 4. Revier in Wiesbaden als auch in zwei Polizeirevieren in Berlin (in den Bezirken Spandau und Neukölln) abgerufen wurden, und die Daten der hessischen Linkspartei-Politikerin Janine Wissler, abgerufen im Februar 2020 im 3. Revier in Wiesbaden, kurz bevor die erste NSU-2.0-Drohmail bei Wissler einging. İdil Baydar wurde seither mehr als ein Dutzend Mal bedroht, teils per Mail, teils per SMS, fast immer unterzeichnet mit »SS Obersturmbannführer«. Baydar hatte schon vor Bekanntwerden der Berliner Datenabfragen den Verdacht geäußert, dass der Urheber der Drohschreiben aus Berlin sein könne, weil der erste Brief eine Anspielung auf ein Plakat enthalten habe, das zu dem Zeitpunkt in Berlin hing.

Janine Wissler erhielt die ersten Drohmails im Februar 2020. In ihnen erweckt der Verfasser den Eindruck, selbst Polizist zu sein. Laut Berichten der Frankfurter Rundschau »spricht er von angeblich innerdienstlichen Erkenntnissen und beschimpft eine Gruppe von Beamten, die sich in einer internen Aufklärungsgruppe mit rechtsextremen Vorfällen bei der hessischen Polizei befassen«.

Janine Wissler erhielt die ersten Drohmails im Februar 2020. Der Verfasser erweckt den Eindruck, selbst Polizist zu sein.

Der Fall Wissler, der im Juli bekannt wurde, hatte den Rücktritt von Landespolizeipräsident Udo Münch zur Folge, der im März über die Datenabfrage bei Janine Wissler informiert worden war, diese Information aber nicht ans Innenministerium des Landes weitergegeben hatte. In Frankfurt wurde daraufhin ein Sonderermittler eingesetzt.

Neben den drei Frauen, bei denen der oder die Verfasser auf Daten aus dem Polizeicomputer zurückgriff(en), sind noch Dutzende weitere Drohschreiben an Anwält*innen, Politiker*innen, Journalist*innen und andere Personen des öffentlichen Lebens verschickt worden. Viele Mails gingen in Kopie an Parteien, Medien oder Initiativen, die Opfer der NSU-Morde unterstützen.

Besonders brisant sind neben den Schreiben an Seda Başay-Yıldız, İdil Baydar und Janine Wissler die Drohmails an Anne Helm, die seit 5. Juli 2020 »alle paar Nächte« (so Helm gegenüber der taz) eingehen. Der Verfasser lässt eine regelrechte Obsession für Helm erkennen und kommentiert Äußerungen der Politikerin mitunter schon in derselben Nacht.

Anne Helm ist Fraktionschefin der Linkspartei im Berliner Abgeordnetenhaus und lebt im Bezirk Neukölln. Ein oder mehrere Schreiben an sie enthalten Informationen, die laut Helm nur durch Beobachtung ihres Wohnumfelds gewonnen werden konnten. Anne Helm äußerte den Verdacht, dass das Neuköllner Neonazinetzwerk, das für die Anschlagsserie im Stadtteil verantwortlich ist, die Daten ausgespäht und weitergegeben haben könnte. Helm war in der Vergangenheit mehrfach von Nazis aus Neukölln beobachtet und verfolgt worden; seit 2011 taucht ihr Name auf Listen der rechten Szene auf.

Was ergaben die Ermittlungen?

Die Ermittlungsergebnisse sind bislang dürftig. Am meisten ist noch im Fall der Drohschreiben an die Anwältin Seda Başay-Yıldız geschehen. Nach den ersten Faxen waren sechs hessische Polizeibeamt*innen ins Visier der Ermittlungen geraten. Eine Mitarbeiterin des 1. Frankfurter Reviers, Miriam D., war zum Zeitpunkt der Datenabfrage in den betreffenden Rechner eingeloggt, bestreitet aber, die Abfrage getätigt zu haben. Es sei üblich, dass ein*e Polizist*in sich im System anmelde und eingeloggt bleibe, während andere Beamt*innen den Rechner nutzten.

Auf dem Telefon von D. stießen die Ermittler*innen auf eine WhatsApp-Chatgruppe namens »Itiot«, in der Miriam D., vier weitere Polizisten des 1. Reviers, ein Polizist aus Marburg und eine weitere Person Nazisymbole und rassistische Nachrichten austauschten. Ende Oktober und Anfang Dezember 2018 wurden die Wohnungen der Polizisten in Darmstadt, Frankfurt, Kirtorf und Wetter (alles Hessen) durchsucht, kurz darauf die eines weiteren Beamten aus Kirtorf; er ist der Bruder des ersten Kirtorfer Verdächtigen. Bei ihm fand man Nazidevotionalien und mehrere Waffen. Die sechs Polizist*innen, alle um die 30 Jahre alt, wurden vom Dienst suspendiert, Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet. Bislang konnte ihnen eine Beteiligung nicht nachgewiesen werden; Angaben zu den Vorwürfen machten sie keine. Die Drohschreiben an Başay-Yıldız gingen nach der Suspendierung der Beamt*innen weiter, erneut gestützt auf Informationen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Polizeicomputern stammen. Auch in einer Drohserie an die taz, die seit 2018 läuft, wurden im Sommer 2020 Hinweise auf eine neue, öffentlich nicht bekannte Adresse von Başay-Yıldız eingeflochten.

Im März 2019 gab es eine weitere Durchsuchung bei einem Polizisten aus Alsfeld (Hessen), im Februar 2020 bei drei Polizisten aus Frankfurt und einem Beamten in Berlin, der kurz zuvor von Hessen nach Berlin gezogen war. Darüber, wo der Mann in Hessen zuvor eingesetzt war, sagte die Staatsanwaltschaft nichts.

Mittlerweile sind die Ermittlungen gegen alle bis auf einen Polizisten aus dem 1. Frankfurter Revier eingestellt: Der 31-Jährige, der in Frankfurt lebt und auch ein Haus in Kirtorf besitzt, wurde im Juni 2019 vorläufig festgenommen, aber wieder freigelassen. Sein Name ist laut einer Anfang September 2020 veröffentlichten taz-Recherche Johannes S., er gilt als der wahrscheinliche Absender der NSU-2.0-Faxe an Seda Başay-Yıldız. Ob er auch für die Drohmails verantwortlich ist, ließ sich, wie die taz berichtet, nicht erhärten. Diese werden meist über einen russischen Mailanbieter mit der Endung @yandex.com verschickt und können nicht zurückverfolgt werden. Gegen vier Polizisten aus Kirtorf und dem benachbarten Romrod wird zudem wegen Volksverhetzung und Verwendung verfassungswidriger Symbole weiter ermittelt.

Deutlich weniger Engagement zeigten die Ermittler*innen im Fall von Janine Wissler. Der Beamte, mit dessen Kennung die Daten im Februar dieses Jahres im 3. Revier in Wiesbaden abgerufen worden waren, bestritt, etwas damit zu tun zu haben. Das reichte den Ermittler*innen. Nicht einmal sein Telefon wurde überprüft.

Ähnlich im Fall von İdil Baydar. Dass die Daten der Kabarettistin im 4. Revier in Wiesbaden abgefragt wurden, ist laut dem hessischen Innenministerium seit Oktober 2019 bekannt. Allerdings wurden die Beamt*innen, die damals Dienst hatten, erst im Juni 2020 befragt. Mittlerweile wird der Polizist, der bei der Abfrage eingeloggt war, als Zeuge geführt – nicht als Verdächtiger. Auch er gibt an, nichts mit der Abfrage zu tun zu haben, auch bei ihm gaben sich die Ermittler*innen mit der Aussage zufrieden.

Im Zuge der Ermittlungen sind zahlreiche weitere Neonazi-Äußerungen und rassistische sowie kinderpornografische Delikte hessischer Polizist*innen ansLicht gekommen, auch eine weitere Datenabfrage eines Polizisten mit Bezug zur Naziszene. Mindestens ein Dutzend Beamt*innen sind noch vom Dienst suspendiert.

Ermittelt wurde bisher der mutmaßliche Verfasser einer anderen Serie von Drohschreiben, André M. aus Halstenbek bei Hamburg. André M. verschickte vermutlich von Oktober 2018 bis zu seiner Festnahme im April 2019 Drohmails, darunter 87 Bombendrohungen an öffentliche Einrichtungen. M. verwendete dabei meist das Pseudonym »NationalSozialistische Offensive«, soll aber auch Mails als »Staatsstreichorchester« verfasst haben. Nach seiner Verhaftung gingen die »Staatsstreichorchester«-Drohungen weiter.

Seit April dieses Jahres steht der 33-Jährige in Berlin vor Gericht. Wenige Minuten vor Prozessbeginn ging ein Fax mit einer Bombendrohung im Gericht ein. Kurz zuvor hatte auch die Linkspartei-Bundestagsabgeordnete Martina Renner, die Nebenklägerin im Prozess gegen M. ist, Morddrohungen per Mail erhalten, einige Wochen später die zuständige Staatsanwältin und die Ermittlerin im Berliner LKA. Beide Mails enthalten Details zum Prozess gegen M. und Justizjargon, was zu Vermutungen Anlass gibt, der Verfasser könne aus Kreisen der (Berliner) Justiz oder Polizei kommen.

Was weiß man über die Absender?

Nach wie vor ist nicht klar, wie groß der Kreis der Verfasser ist. Außer André M., der vor allem für die mit »NationalSozialistische Offensive« gekennzeichneten Mails und einige Schreiben des »Staatsstreichorchesters« verantwortlich gemacht wird, gibt es noch mindestens eine weitere Person, die häufig als »Staatsstreichorchester« schreibt.

Dieser Verfasser ist mutmaßlich auch Autor mehrerer mit »NSU 2.0« und eventuell der mit »Wolfszeit 2.0« unterzeichneten Schreiben und könnte auch einen Teil der übrigen Drohungen verfasst haben. Dafür sprechen unter anderem der prahlerische Ton, Rechtschreibung und Ausdrucksweise, die detaillierten Gewaltfantasien und die Angewohnheit, stets eine Reihe weiterer Empfänger (Medien, Parteien etc.) in CC zu setzen. Auch fordern mehrere Nachrichten von »Staatsstreichorchester« und »NSU 2.0« große Summen in Bitcoin als, Lösegeld, damit die bedrohten Adressat*innen nicht ermordet werden. »Staatsstreichorchester« hat zudem eine Art Online-Shop im Darknet aufgesetzt, in dem er Kopfgelder für die Ermordung mehrerer »migrationsfreundlicher« Personen auslobt.

Der Verfasser sieht sich selbst als eine Art Internetgenie, dem niemand je auf die Schliche kommen wird. In einer seiner Mails äußert er sich abfällig über die Dummheit der »Frankfurter«, die nicht gewusst hätten, dass ihre Datenabfragen gespeichert werden. Die Eitelkeit des Verfassers, der gern mit seinem technischen Knowhow angibt, wirkt authentisch. Vermutlich ist er nicht mit der Person identisch, die die Daten in Frankfurt abgefragt hat.

Tatsächlich sind die Drohschreiben auch wegen des Einsatzes von Tor-Verschlüsselung und der Nutzung von Maildiensten im Ausland schwer zurückzuverfolgen. Der Hauptautor des »Staatsstreichorchesters« verwendet gern eine Absendermailadresse (@nuke.africa) des in Bukarest ansässigen Email-Anbieters cock.li. Über diesen Betreiber versorgen sich Hunderte Hitlerfans und andere Rechte mit passenden Mailendungen; auch andere Drohmails kommen von cock.li-Adressen. (2) Für die NSU-2.0-Mails werden vor allem Adressen des russischen Anbieters Yandex.com verwendet.

Stecken also – abgesehen von André M. – einer oder mehrere Urheber hinter den neonazistischen Drohmails? Die Zeit-Redakteure Holger Stark und Fritz Zimmermann haben diese Frage an den Absender jener Yandex-Mail geschickt, über die zahlreiche NSU-2.0-Schreiben verschickt wurden. Der Verfasser antwortete: »Wir sind ein lockerer Zusammenschluss heimattreuer Elitekämpfer, die sich nur im Netz unter Pseudonym treffen.« Man kenne einander nicht persönlich, er wisse selbst nicht genau, wie viele Personen hinter den Mails stünden. Listen mit Informationen über die Empfänger*innen der Schreiben würden untereinander ausgetauscht. Ob das der Wahrheit entspricht, ist nicht klar.

Verbindung nach Berlin?

Neben diesem Absender, der bis zu dessen Festnahme offenbar auch in Kontakt mit André M. stand, muss derzeit davon ausgegangen werden, dass mindestens noch eine weitere Person – aus hessischen Polizeikreisen –, eventuell mehr beteiligt sind. Manches deutet zudem darauf hin, dass es auch aus Berliner Polizei- oder Justizkreisen Zuträger zu den Neonazi-Mails geben könnte. Hinweise sind etwa der Umzug eines verdächtigen Polizisten von Hessen nach Berlin oder die mit Justizjargon gespickten Drohmails rund um den Prozess gegen André M.

Angesichts des notorisch rechtslastigen Polizei- und Justizapparats der Hauptstadt wäre das keine Überraschung. Seit Jahren gibt es rechte Vorfälle in den Reihen der Berliner Polizei. Das LKA legt zudem eine erstaunliche Inkompetenz an den Tag beim Versuch, eine Serie neonazistischer Anschläge im Bezirk Neukölln aufzuklären. Und das, obwohl die mutmaßlichen Verantwortlichen, die Neuköllner Neonazis Sebastian Thom und Tilo Paulenz, seit Jahren bekannt sind.

Die Liste der Ermittlungspannen und Verstrickungen ist inzwischen so lang, dass es schwer fällt, den Überblick zu behalten: 2018 wurde der Brandanschlag auf den Neuköllner Linksparteipolitiker Ferat Kocak nicht verhindert, obwohl die Neonazis Thom und Paulenz von Mitarbeiter*innen des Berliner Verfassungsschutzes zwei Wochen vor dem Anschlag dabei beobachtet worden waren, wie sie Kocaks Wohnadresse auskundschafteten.

Wenige Wochen später observierten Verfassungsschützer*innen Thom erneut, in der Kneipe Ostburger Eck in Neukölln-Rudow. Dabei stellten sie zu ihrer Verwunderung fest, dass sich der Berliner LKA-Polizist W. zu Thom an den Tisch setzte. Ermittlungen gegen W. wegen des Treffens wurden eingestellt mit der Erklärung, die Verfassungsschützer*innen hätten ihn wohl verwechselt.

Anfang August dieses Jahres wurden dann zwei Staatsanwälte, darunter der als rechter Hardliner bekannte Leiter der Abteilung Staatsschutz, Matthias Fenner, und der mit den Neukölln-Ermittlungen betraute S. strafversetzt, weil Fenner dem Hauptverdächtigen Tilo Paulenz gegenüber Sympathien bekundet habe, wie dieser im Chat an einen Freund schrieb. Der Chat war abgehört worden, ein Eintrag dazu landete in den Akten. Staatsanwalt S. wiederum hatte den Eintrag gelesen, ihn aber nicht gemeldet.

Mitte August machte die Berliner Datenschutzbeauftragte bekannt, dass Polizist*innen unerlaubt Daten von zwei Betroffenen der Neukölln-Anschlagsserie abgefragt hatten.

Nur eine Woche später machte die Plattform Recherche030 bekannt, dass der Polizist Stephan Kollmann 2017 an einem rassistischen Angriff auf einen Mann aus Afghanistan beteiligt war. Kollmann gehörte jahrelang zur »Ermittlungsgruppe rechts«, bis diese 2016 aufgelöst wurde, und war in dieser Funktion auch Ansprechpartner für Opfer rechter Gewalt und in die Ermittlungen zu Naziaktivitäten in Neukölln eingebunden.

Mitte August machte die Berliner Datenschutzbeauftragte Maja Smoltczyk öffentlich, dass Berliner Polizist*innen unerlaubt Daten von mindestens zwei Betroffenen der Neukölln-Anschlagsserie abgefragt hatten. Smoltczyk kritisiert, dass sich die Berliner Polizei hartnäckig weigert, die Datenabfragen aufzuklären.

Und dann ist da noch Detlef Moritz. Detlef Moritz ist jener Polizist, der kurz nach dem Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz 2016 polizeiliche Informationen zum Anschlag in eine Chatgruppe der Neuköllner AfD postete. (3) In jener Chatgruppe war auch Tilo Paulenz, der sich mehrere Jahre gemeinsam mit Moritz im Neuköllner AfD-Kreisverband engagierte. Detlef Moritz arbeitet seit 1992 im Polizeiabschnitt 65, der zwar zum Bezirk Treptow-Köpenick gehört, »aber direkt an den Süden Neuköllns angrenzt, wo die Neuköllner AfD ihre Basis hat und wo sich ein Großteil der rechtsterroristischen Anschläge ereignete«, wie die taz schreibt.

Vor diesem Hintergrund können die mutmaßlich ausgekundschafteten Informationen, die in den »NSU 2.0«-Drohungen gegen Anne Helm auftauchen, zwar nach wie vor als Hinweis auf eine Verstrickung der Neuköllner Naziszene interpretiert werden. Ebenso denkbar ist aber, dass eine Person in den Sicherheitsbehörden diese Informationen beschafft hat.

Antifa, bitte übernehmen!

Angesichts der in den letzten Jahren bekannt gewordenen Preppernetzwerke und Schattenarmee-Keimzellen, die sich mit Todeslisten, Waffenlagern, Munitionsdepots und Leichensäcken auf einen »Tag-X« vorbereiten und in die bundesweit Dutzende Soldaten, Reservisten, und SEK-Polizisten involviert sind, sind solche Entwicklungen mehr als nur ein bisschen beunruhigend. Hier formieren sich Milieus, aus denen rechte Kräfte in Krisenzeiten Killerkommandos rekrutieren oder deren Mitglieder eines Tages auf eigene Faust losschlagen können.

Da den Ermittlungen der Polizei nicht getraut werden kann, ist mal wieder die antifaschistische Selbsthilfe gefragt. An vielen Orten haben Journalist*innen, antifaschistische Initiativen und Einzelpersonen bereits Material zu den Fällen zusammengetragen. Vielleicht ist es an der Zeit, eigene (migr)antifaschistische Ermittlungen ins Leben zu rufen, Erkenntnisse zu bündeln und Ermittlungshypothesen gezielt zu verfolgen. Die Oury-Jalloh-Initiative, die komplett auf sich allein gestellt die Ermittlungen zum Polizeimord an Oury Jalloh in Dessau vorangetrieben hat, ist ein Beispiel dafür, was selbstorganisierte Ermittlungen erreichen können. Erfolgsversprechender, als die Ermittlungen bei der Polizei zu belassen, ist dieser Ansatz allemal. Antifa, bitte übernehmen!

Jan Ole Arps

ist Redakteur bei ak.

Eine frühere Fassung des Artikels erschien in ak 662/ 17.8.2020. Der Text wurde Ende Oktober für das Sonderheft aktualisiert.

Anmerkungen:
1) Eine gründliche und ständig aktualisierte Übersicht zu den Drohbriefkomplexen bietet der Wikipedia-Eintrag zu »NSU 2.0«.
2) Cock.li-Betreiber Vincent Canfield war bis zu seinem Ausschluss Ende 2019 regelmäßiger Besucher das Chaos Communications Congress.
3) Von wo sie möglicherweise den Weg zu Pegida-Gründer Lutz Bachmann fanden, der nur zwei Stunden nach dem Anschlag twitterte: »Interne Infos aus Berliner Polizeiführung: Täter tunesischer Moslem«.