analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 713 | Deutschland

Zurück zur Kriegsfähigkeit

Die neue Aufrüstungsrunde reagiert auf die drohende Implosion der Nato

Von Axel Gehring

Fünf Herren in Anzug vor einem Panzer.
Das dürfte es in Zukunft des Öfteren geben: Zivile Werke werden (wie hier in Görlitz durch KNDS) durch Rüstungsbetriebe übernommen. Foto: Bundesregierung/Guido Bergmann

Die Verhandlungen zwischen den USA und Russland über die Ukraine bedeuten ein wahrscheinlich baldiges Ende des Krieges dort. Trotz der jüngsten US-Forderung an Russland nach einem Waffenstillstand zeichnet sich ab, dass die gewaltförmigen Verschiebungen der ukrainisch-russischen Grenze nun durch einen Vertrag kodifiziert werden sollen. Durch Krieg verschobene Grenzen zu legalisieren, unterminiert die Glaubwürdigkeit des Souveränitätsprinzips und des Angriffsverbotes der UN-Charta. Noch nicht einmal die ukrainische Regierung darf über die Grundlinien des kommenden, de facto US-russischen Abkommens mitreden. Auch die restlichen europäischen Staaten sehen sich bei der (Neu-)Ordnung Europas an den Rand gedrängt. Ihre Rolle wird darauf zurechtgestutzt, hinterher begleiten zu dürfen, was die USA und Russland beschließen – wahrscheinlich die Bewachung einer sehr konfliktträchtigen Demarkationslinie durch eigene Truppen.

Es war absehbar, dass dies ein neues Wettrüsten in Europa auslösen würde – schlicht, weil es der herrschenden Logik staatlichen Handelns entspricht, das Sicherheitsversprechen einer erodierenden Ordnung durch eigene Rüstung zu kompensieren. (ak 711) Anders als beim Rüstungsschub von 2022, der sich als Teil gemeinsamer Nato-Anstrengungen verstand, dürfte es beim neuen nicht vorrangig darum gehen, den eigenen Nato-Beitrag zu vergrößern, sondern eine befürchtete Implosion der Nato schrittweise zu kompensieren.

Abschied von der alten transatlantischen Ordnung

Die demonstrative Nichtabstimmung der Trump-Regierung mit der EU wird in Europa als Indiz gewertet, dass die USA im Falle eines Angriffs von außen nicht zwingend Artikel 5 des Nato-Vertrages aktivieren würden, um ihren europäischen Bündnispartner*innen beizustehen. Bislang fand die technisch-militärische Verzahnung der unterschiedlichen Nato-Armeen wesentlich unter Führung der USA statt. Ohne sie können die verbliebenen Nato-Staaten nicht gleichermaßen eng koordiniert als Rest-Nato zusammenwirken.

Daher dürfte sich der neue Rüstungsschub vom jenen aus dem Jahr 2022 in vielerlei Hinsicht unterscheiden: Dies gilt zum Beispiel für die Bundeswehr, deren Etat laut CDU-SPD-Sondierungsergebnissen nur zu einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts unter die Schuldenbremse fallen soll. Alles darüber hinaus soll von der Schuldenbremse ausgenommen werden, sprich mit Schulden finanziert werden. Große Beschaffungsvorhaben (»whatever it takes«, Friedrich Merz) sollen so realisiert werden. Noch haben Die Grünen der Verfassungsänderung nicht zugestimmt – sie fordern unter anderem den Begriff der Verteidigung etwas weiter zu fassen und das ebenfalls geplante 500-Milliarden-Euro Infrastruktursondervermögen, streng als zusätzliche Investition zu definieren.

Trotz des Sondervermögens von 2022 hatte sich die Rüstungsindustrie geweigert, ihre Produktion im möglichen Umfang auszuweiten. Begründung: Weitere Aufträge seien mittel- und langfristig nicht garantiert. Mit den neuen fiskalischen Maßnahmen könnte die Profitabilität der neuen Fabriken somit längerfristig gesichert werden.

Wie steht es um die Bundeswehr?

Verantwortlich für den Zustand der Bundeswehr sind im Wesentlichen zwei Variablen: Auslandseinsatzorientierung und Neoliberalisierung. Voraussetzung für die Orientierung auf sogenannte out-of-area-Einsätze war die westliche Hegemonie unter Führung der USA nach dem Ende der Blockkonfrontation 1990. Klassische Staatenkriege fanden kaum noch statt und wurden von den planenden Militärs und Politiker*innen nicht mehr als realistisches Szenario gesehen. Streitkräfte sollten verlegefähig sein, um als bessere Kolonialpolizei und Grenztruppe innerstaatliche Konflikte in den Winkeln des kapitalistischen Empires befrieden. Die Bundeswehr hatte dabei zumeist die Rolle der Nachhut der USA. Spätestens seit dem Überfall Russlands 2022 wurde eine Umrüstung zurück auf Staatenkriege angestoßen – das meint der viel bemühte Begriff »Zeitenwende«.

Die Rüstungsplanenenden wollen, dass die EU bzw. Deutschland über alles verfügen muss, um einen groß angelegten Verteidigungskrieg führen zu können.

Zudem ist die Bundeswehr neoliberalen Managementparadigmen unterworfen worden. Der Trend zu sinkenden Militärausgaben war nicht nur eine Folge westlicher Hegemonie ohne ebenbürtige Konkurrenz, sondern ebenso der Krise des Steuerstaates insgesamt geschuldet. Daher sollte die Bundeswehr wenig kosten und hocheffizient auf ihre Einsatzanforderungen zugeschnitten sein. Vollausstattung wurde primär nur für jene Truppenteile im Einsatz und für wenige Übungszentren als erforderlich angesehen.

Die Bundeswehrführung bemühte sich dennoch darum, in der Breite das ganze Spektrum für eine konventionelle Kriegsführung aufrechtzuerhalten: von allem etwas, aber aufgrund der politischen Vorgaben in geringerer Stückzahl. Dies wirkte sich unmittelbar auf die deutsche Rüstungsindustrie aus, die den Charakter einer Manufaktur annahm; Panzer wurden zum Beispiel pro Jahr im einstelligen Bereich produziert. Neue Rüstungsprojekte gab es weiterhin. Trotz geringer Stückzahlen waren sie immens teuer, weil hohe Kosten für Forschung und Entwicklung ohnehin anfallen. Dem neoliberalen Organisations-Paradigma folgend sollten neue Waffen möglichst flexibel unterschiedlichsten Anforderungen gerecht werden. In der Folge wurden sie noch teurer, komplizierter und störanfällig.

Konventioneller Staatenkrieg

Obwohl der Anteil des Bundeswehretats am BIP seit Mitte der 2010er Jahre wieder leicht anstieg, sollte erst das 100-Milliarden-Sondervermögen von 2022 die Bundeswehr wieder auf das Szenario eines konventionellen Staatenkrieges zuschneiden, sprich »kriegsfähig« machen. Das Szenario prägt heute wieder die Militärdoktrinen fast aller Länder in Europa. Trotzdem rissen Klagen über mangelnde Ergebnisse nicht ab. Sie verkennen aber die Dauer von militärischen Beschaffungen: Neuentwicklung, Auslieferung und sogar das Ordern von Waffensystemen kann Jahre dauern. Denn die Anpassung der Militärdoktrin auf klassische Staatenkriege ist eine komplexe organisatorische Aufgabe auf Basis aktueller militärwissenschaftlicher Erkenntnisse – und politisch umkämpft.

Ansätze aus dem Kalten Krieg können nicht einfach neu aufgelegt werden, weil sich die Kriegsführung gewandelt hat und es eine andere geopolitische Konstellation gibt. So braucht die Neuentwicklung von Konzeptionen zum Massenkrieg im Drohnenzeitalter ihre Zeit, die Erfahrungen des Ukrainekrieges werden dabei intensiv ausgewertet.

Und schließlich hat die Bundeswehr zahlreiche ihrer Bestände an die Ukraine abgegeben. Mit dem Sondervermögen wurden indirekt auch einige dieser Lücken wieder geschlossen. Hinzu kommt: Die Beschaffungen aus dem Sondervermögen waren noch vor dem Hintergrund des Glaubens an das US-Beistandsversprechen und das Funktionieren der Nato insgesamt getätigt worden. Zudem spielte auch die aktuelle Nato-Strategie eine Rolle, die nicht nur Bündnisverteidigung, sondern auch die Teilnahme an der indopazifischen Konkurrenz vorsieht.

Daraus ergeben sich nun erhebliche Ungleichgewichte: So dient zum Beispiel die Bestellung der F-35-Bomber primär der Sicherung der nuklearen Teilhabe. Sie allein macht rund zehn Milliarden des 100-Milliarden-Euro-Topfes aus. Inzwischen ist jedoch mehr als fraglich, ob die nukleare Teilhabe im Kriegsfall funktionieren würde. Es ist aber davon auszugehen, dass die Rüstungsplaner*innen bereits jetzt die Notwendigkeit sehen, dass die EU bzw. Deutschland über das gesamte Spektrum an Fähigkeiten verfügen muss, um einen groß angelegten Verteidigungskrieg allein erfolgreich führen zu können. Der Kauf von den F-35-Bombern ist insofern versenktes Geld. Sinn macht er nur bei einer engen Arbeitsteilung mit den USA, selbst wenn sie konventionell eingesetzt werden. Erst wenn Militärplaner*innen davon überzeugt sind, dass sie in der Lage sind, Luftverteidigung durch Jagdflugzeuge und bodengestützte Abwehr sicherstellen zu können, machen offensivere Systeme Sinn. Doch genau davon sind sie zurzeit nicht mehr überzeugt.

Es zeichnet sich ein größerer Zielkonflikt ab: Die Bestrebungen, die EU zu einer stärkeren globalen Akteurin zu machen, basierten auf der transatlantischen Ordnung, wie wir sie kannten. Ebenso basierten die jüngeren Rüstungsentscheidungen darauf und waren nicht rein kontinental, sondern auch maritim ausgerichtet. Allerdings haben die EU-Staaten ihre Kapazität für überseeische imperiale Abenteuer zuletzt immer weiter verloren. Ohne (auch nukleares) US-Backing werden sie diese tendenziell weiter einbüßen. Infolge ihrer schleichenden wirtschaftlichen Peripherisierung im Weltsystem sowie realer De-Globalisierungstendenzen werden sie machtpolitisch stärker auf den europäischen Kontinent und dessen unmittelbare Nachbarschaft zurückgeworfen. Deutschland und die EU scheinen ihre Position dort nunmehr im Fall der Fälle auch ohne US-Unterstützung gegenüber Russland sicherstellen zu wollen. In diesem Sinne dienen die neuen Gelder auch der Korrektur der Fehleinschätzungen des alten Sondervermögens, das auf den Schultern der transatlantischen Ordnung formuliert worden war. Die anstehende Lockerung der Schuldenbremse und auf EU-Ebene der Maastricht-Kriterien deutet darauf hin, dass die heimischen Industrien gestärkt und die Rüstung insgesamt stärker mit der Technologiepolitik verzahnt werden soll, um in eine bessere wirtschaftliche Wettbewerbsposition gegenüber den USA und China zu kommen.

Axel Gehring

ist Politökonom und Konfliktforscher und arbeitet in der Bundesgeschäftsstelle der Linkspartei auf dem Feld der Außenpolitik.