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Wir fragen immer noch

Ein Jahr nach Hanau bleiben viele Versäumnisse ohne Konsequenzen

Von Dîlan Karacadağ

Warum war der Notausgang der Arena-Bar versperrt? Warum gingen Notrufe ins Leere? Gedenkveranstaltung in Hanau am 22. Februar 2020. Foto: ak

Am 19. Februar 2020 wurden neun junge Menschen aus rassistischen Gründen in Hanau erschossen. Ein Jahr ist vergangen, die Ermittlungen laufen noch. Diesen Vorwand nutzen die deutschen Sicherheitsbehörden, um keine konkreten Fragen, die die Tatnacht betreffen, zu beantworten.

Wir fragen: Warum war der Notausgang versperrt? Der Notausgang in der Arena-Bar, einem der Tatorte in der Hanauer Kesselstadt, soll auf polizeiliche Anordnung hin verschlossen worden sein. Zudem sind Kriminalbeamte erst mehr als vier Stunden nach dem Anschlag dort hin, um einen Tatortbefund zu verfassen. Wäre die Tür nicht verschlossen gewesen, wären Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović vielleicht noch am Leben.

Wir fragen: Warum gingen Notrufe ins Leere? Ein weiteres Versäumnis ist der Skandal um den nicht erreichbaren Notruf in der Tatnacht, der immer noch nicht aufgeklärt ist. Als Vili Viorel Păun den Täter verfolgte, also etwa eine Minute, nachdem dieser zu schießen begonnen hatte (21:56 Uhr), versuchte er immer wieder, die Polizei zu alarmieren. Doch sowohl Vilis Notrufe als auch die anderer Zeug*innen gingen ins Leere. Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU) begründete dies später mit einem »Engpass«. Der Täter tötete Vili mit drei Schüssen durch das Fenster der Fahrertür auf dem Parkplatz vor der Arena-Bar. Warum wurden die Notrufe nicht abgenommen, warum nicht umgeleitet, warum rief keiner zurück?

Wir fragen: Warum erhielt der Täter einen Waffenschein? Obgleich er bis kurz vor dem Anschlag öffentlich als Rassist aufgefallen war, besaß er legal einen Waffenschein. Schon 2019 hatten 750 Rechtsextremist*innen und rund 500 Reichsbürger*innen eine Waffenbesitzkarte, erst kürzlich kam nach einer Kleinen Anfrage der Linksfraktion im Bundestag heraus, dass die Zahl der Rechtsextremist*innen mit Waffenerlaubnis 2020 noch mal um knapp 35 Prozent gestiegen ist. Im November 2019, ein Vierteljahr vor den Anschlägen, hatte der Täter von Hanau Anzeigen wegen angeblicher Überwachung durch einen ominösen Geheimdienst erstattet. Eine Anzeige ging an die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, eine an die Staatsanwaltschaft Hanau. Allein das hätte doch schon ein Grund für die Abnahme der Waffenbesitzkarte sein sollen.

Peu à peu kamen im zurückliegenden Jahr immer mehr Erkenntnisse ans Licht, die auf Versäumnisse der Sicherheitsbehörden verweisen und darauf, dass die Gefahr, die vom Täter ausging, durchaus hätte erkannt werden können.

Nicht nur bleiben Fragen unbeantwortet, auch die Forderungen der Hinterbliebenen wurden in diesem Jahr vielfach missachtet. Auf die Politik können sie sich eben so wenig verlassen wie auf die Ermittlungsbehörden. Umso wichtiger, dass unmittelbar nach dem Anschlag aus Eigeninitiative die Initiative 19. Februar und im November 2020 die Bildungsinitiative Ferhat Unvar gegründet wurden. Sie haben ein gemeinsames Ziel: Rassismus bekämpfen.

Dîlan Karacadağ

ist kurdisch-deutsche Journalistin. Seit dem Anschlag von Hanau war sie regelmäßig vor Ort, hat vielfach aus Hanau berichtet und die Hinterbliebenen und Überlebenden unterstützt.