analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 686 | International

»Heute propagiert Maduro privates Unternehmertum«

Die venezolanische Regierung vollzieht einen Rechtsruck, ökonomisch wie politisch, sagt der Soziologe Antonio González Plessmann

Interview: Tobias Lambert

Man sieht bunte, ärmliche kleine Hütten, die auf einen Hang gebaut sind.
Ein Barrio in Caracas. Besonders in den Armenvierteln nimmt staatliche Gewalt zu. Foto: Alexcocopro Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Als Reaktion auf die Wirtschaftskrise stärkt die Regierung von Nicolás Maduro seit einigen Jahren privates Unternehmertum, schränkt basisdemokratische wie liberaldemokratische Rechte ein und setzt zunehmend auf staatliche Gewalt, vor allem in den Armenvierteln. Damit stelle sie sich gegen die chavistische Tradition und schwäche deren Erbe, erklärt der Soziologe und Menschenrechtsaktivist Antonio González Plessmann.

Die venezolanische Regierung pflegt noch immer einen sozialistischen Diskurs. Linke Politikansätze spielen im Regierungshandeln jedoch kaum mehr eine Rolle. Wie kommt das?

Antonio González Plessmann: Unter der aktuellen Regierung gab es einen Rechtsruck im sozioökonomischen und ein autoritäres Abdriften im politischen Bereich. Um das zu verstehen, muss man den Kontext herstellen. Wir sind ein Land, das von außen blockiert ist. Die einseitigen Zwangsmaßnahmen, wie wir die Sanktionen der USA und in geringerem Maße auch der EU bezeichnen, sind kriminell und verletzten internationale Menschenrechtsabkommen (1). Sie treffen vor allem die Bevölkerung, haben aber – anders als vorgesehen – nicht die Regierung gestürzt. Erfolgreich waren sie dennoch. Denn sie haben die Regierung dazu gebracht, eine rechte Wirtschaftspolitik umzusetzen.

Inwiefern?

Nach Chávez’ Tod 2013, bis etwa 2015, hatte Maduro versucht, dessen Richtung beizubehalten. Doch ab 2016 setzte sich innerhalb des Regierungszirkels die Linie durch, dass ohne grundlegende Änderungen in der Wirtschaftspolitik tatsächlich ein politischer Machtverlust drohe. Auf die Bedrohung von außen reagierte die Regierung mit weniger Demokratie, weniger Basispartizipation und einer Stärkung privater Unternehmen. Chavismus bedeutet, öffentliche und kollektive Logiken in Wirtschaft und Gesellschaft auszuweiten. Die heutige Regierungspolitik fördert hingegen das Private.

Foto: Tobias Lambert

Antonio González Plessmann

ist Soziologe, langjähriger linker Menschenrechtsaktivist und Teil des Menschenrechtskollektivs Surgentes. Er war Vizerektor der Universität für Sicherheit (Universidad Nacional Experimental de la Seguridad) in Caracas und hat den Prozess der Polizeireform in Venezuela von 2006 bis 2013 begleitet.

Wie äußert sich das konkret?

Die Regierung verstärkt die Zusammenarbeit mit Teilen der traditionellen und einer durch Korruption neu entstandenen Bourgeoisie. Früher waren mobilisierte Unterschichten die Protagonisten des Wandels. Der Staat förderte Kooperativen sowie soziale und kommunale Unternehmen. Heute propagiert die Regierung privates Unternehmer*innentum. Sie strebt die Öffnung des Erdölsektors an und hat ein Gesetz über Sonderwirtschaftszonen beschlossen, in denen praktisch keine Arbeits- und Umweltrechte existieren. Auch treibt sie die Privatisierung staatlicher Unternehmen voran. Unter Chávez enteignete Ländereien werden den früheren Besitzer*innen zurückgegeben. Während der Staat früher auf Seiten der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern stand, unterstützt er nun die Großgrundbesitzer*innen, was auf dem Land zu einem Anstieg der Repression führt. Dasselbe gilt für Arbeiter*innen, die ihre Rechte einfordern. Diese werden nicht beachtet, der Mindestlohn gehört zu den niedrigsten der Welt. Hinzu kommt eine generelle Ausweitung der Repression in den Barrios, den Armenvierteln, wie etwa der Anstieg der extralegalen Hinrichtungen durch die Sicherheitskräfte belegt.

Unter Chávez enteignete Ländereien werden den früheren Besitzer*innen zurück gegeben.

In den ersten Jahren unter Chávez war die Repression in den Barrios deutlich zurückgegangen. Und 2007 begann eine ambitionierte Polizeireform, bei der die Menschenrechte im Fokus standen. Sie haben den Reformprozess damals begleitet. Wie kam er zustande?

Der Ausgangspunkt war, dass die Polizei in mehrere Entführungen und Tötungen verwickelt war, die große soziale Betroffenheit auslösten. Der damalige Innenminister berief daraufhin eine sehr pluralistisch besetzte Kommission ein, an der neben staatlichen Vertreter*innen auch Akademiker*innen, Menschenrechtsaktivist*innen, Teile der Kirche sowie ein Unternehmer beteiligt waren. Die Kommission erarbeitete eine umfassende Zustandsbeschreibung der Polizei und befragte die Bevölkerung, was für Sicherheitskräfte sie sich wünschte. Anschließend wurde ein neues Polizeimodell ausgearbeitet. Alles mit permanenter Konsultation der Bevölkerung, um Legitimität zu gewinnen.

Was beinhaltete dieses Modell?

Nach mehreren Wechseln an der Spitze des Innenministeriums wurde der Vorschlag erst ab 2009 wieder aufgenommen. 2010 wurden zwei Gesetze verabschiedet, um die menschenrechtszentrierte Reform umzusetzen und den zivilen Ansatz innerhalb der Polizei zu stärken. Mit der Bolivarischen Nationalpolizei entstand eine landesweite Polizei, die der Zentralregierung unterstellt ist. Eine neu gegründete Universität für Sicherheit sollte die Ausbildung von Polizist*innen verbessern. Bei der Rekrutierung, den Bedingungen für den Einsatz von Gewalt und der internen demokratischen Kontrolle wurden verbindliche Standards eingeführt. Chávez selbst war anfangs skeptisch, unterstützte den Vorschlag ab 2009 aber entschieden. Die Ausarbeitung neuer Gesetze, Standards und Vorschriften reichte jedoch nicht aus.

Woran scheiterte die Umsetzung?

Bis 2012 kam die Reform voran. Obwohl Chávez’ Diskurs sehr progressiv war, bestanden parallel dazu repressive Politiken fort. Nach seinem Tod 2013 gewannen die konservativsten und repressivsten Sektoren innerhalb der Institutionen an Boden. Der damalige Innenminister Miguel Rodríguez Torres kam aus dem Militär und den Geheimdiensten. Er vertrat eine Politik der harten Hand, die offen der Reform widersprach. Heute befindet sich Torres im Gefängnis, weil er sich mit der Regierung überworfen hat. Er wurde Opfer eines Strafsystems, das er selbst verteidigt hat. Mit Unterstützung Maduros begannen dann 2015 militarisierte Polizeioperationen, die einen Anstieg der Repression mit sich brachten.

Was ist von der Polizeireform letztlich geblieben?

Sie existiert nicht mehr. Ein Beispiel: Die Reform sah vor, dass alle Polizeichef*innen Zivilist*innen sind. Ab 2013 waren es nur noch Militärs. Auch sollte es innerhalb der Polizei keine Sondereinheiten geben beziehungsweise nur für besondere Situationen, wie die Befreiung von Geiseln. Unter Maduro wuchsen diese Gruppen immer weiter an bis zur Gründung der FAES, einer Spezialeinheit innerhalb der Bolivarischen Polizei, die heute eine große Mitverantwortung für extralegale Hinrichtungen in den Armenvierteln trägt. Das schlimmste Jahr war 2018, als der Staat laut offiziellen Angaben 5.287 Personen tötete, weil sie angeblich Widerstand gegen die Staatsgewalt geleistet hätten. Diese Zahl ist ungeheuerlich, das war ein Drittel der insgesamt in diesem Jahr registrierten Morde in Venezuela.

Im Zuge der wirtschaftlichen Krise unterstützten immer mehr Leute innerhalb des Staates den Einsatz tödlicher Gewalt. Und die demokratischen Räume wurden eingeschränkt. Das betrifft sowohl die liberale- als auch die Basisdemokratie.

Dass sich die rechte Opposition im Rahmen des Machtkampfes mit internationaler Unterstützung für transparente Wahlbedingungen einsetzt, ist allgemein bekannt. Inwiefern aber schränkte die Regierung die Basisdemokratie ein?

Dies zeigt sich etwa darin, dass die Regierung in den vergangenen Jahren Wahlen in den Kommunalen Räten (2) unterbunden hat. Oder dass Maduro das Lebensmittelprogramm CLAP, in dessen Rahmen die Regierung zu einem symbolischen Preis Kisten mit Grundnahrungsmitteln liefert, als Basismacht (Poder Popular) bezeichnet. Doch diese sind eine Politik von oben zur Lebensmittelverteilung. Eine andere Diskussion ist, ob sie notwendig sind oder nicht, aber sie schaffen keine Macht von unten nach oben. Damit schwächt die Regierung chavistische Ansätze. Dieselbe Regierung, die sich heute als chavistisch bezeichnet, verhält sich kaum anderes als die neoliberalen Regierungen der 1990er Jahre, gegen die der Chavismus aufbegehrt hat. Die Regierung von Rafael Caldera hat ab 1994 zunächst auch versucht, gegen den Neoliberalismus vorzugehen. Aber die Erdölpreise waren niedrig, und daher hat Caldera argumentiert, er sei dazu gezwungen, neoliberale Maßnahmen umzusetzen. Genauso klingt heute die Regierung Maduro. Chávez hingegen hat sich damals frontal gegen Caldera gestellt.

Welche Perspektiven haben die chavistischen Kräfte von unten?

Im Bezug auf die politische Elite gibt es keine Hoffnung. Sie verteidigt die derzeitige Politik als einen taktischen Richtungswechsel, um auf die Sanktionen zu antworten. Doch die Regierung hat ökonomische Interessen bei der neuen Bourgeoisie geschaffen, die längst Teil des Regierungsumfelds ist. Diese Interessen und die Korruption sind so groß, dass ein erneuter Linksschwenk ausgeschlossen scheint. Möglich ist aber, dass eine linke Bewegung aus den Unterschichten wieder erstarkt.

Gibt es dafür denn Anzeichen?

Nicht auf kurze Sicht, aber mittelfristig könnte im Land eine alternative linke Kraft anwachsen. In Umfragen bewertet mehr als die Hälfte der Bevölkerung Chávez als positiv, während Maduro nur auf etwa 15 Prozent kommt. Die Leute, die die Differenz ausmachen, sind heute demobilisiert. Aber sie haben die chavistische Erfahrung gemacht. Zurzeit übt die Regierung eine starke Kontrolle aus, doch sie hat keine starke Legitimität.

Tobias Lambert

arbeitet als freier Autor, Redakteur und Übersetzer überwiegend zu Lateinamerika.

Anmerkungen:

1) Seit 2015 haben die USA schrittweise Sanktionen gegen Einzelpersonen, im Finanzbereich sowie im Erdölsektor verhängt.

2) Basisdemokratische Strukturen, in denen unter anderem über die Verwendung öffentlicher Gelder entschieden wird.