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Politik der Doppelgänger

Bei den US-Wahlen im November wird wohl erneut Biden gegen Trump antreten – für die Demokraten könnte das schlecht ausgehen

Von Lukas Hermsmeier

Zu sehen ist Joe Biden, er spricht in ein Mikrofon und ballt dabei die Faust.
Der schon wieder. Foto: Gage Skidmore/ Flickr, CC BY-SA 2.0

Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, habe ich in den knapp zehn Jahren, in denen ich als Journalist in den USA arbeite, nicht eine einzige Person getroffen, die mit Begeisterung die Demokratische Partei wählt. Die »Yes, We Can«-Zeiten waren damals, 2014, als ich hergezogen bin, längst vorbei. Und wenn ich ehrlich bin, musste ich gerade googlen, was überhaupt Joe Bidens aktueller Wahlkampfslogan ist. »Let’s finish the Job«, okay. Ich wage die Behauptung, dass diese Parole bei der amerikanischen Bevölkerung bislang nicht angekommen ist. Oder doch, und das ist dann gerade das Problem. 

Es gibt sie natürlich, die Begeisterten. Über 80 Millionen Menschen haben bei der letzten Präsidentschaftswahl im Jahr 2020 für die Democrats gestimmt, und sicherlich nicht alle nur mit Schmerz und Zweifeln. Dass mir keine vergnügten demokratischen Wähler*innen über den Weg laufen, hat gewiss auch mit meiner Auswahl von Themen und Orten zu tun, damit, dass ich nicht im »Press Pool« des Weißen Hauses bin und nicht zu Biden-Fundraisern eingeladen werde. Abgesehen davon aber treffe ich dauernd normale Menschen, in normalen Berufen, quer durch alle Schichten und übers Land verteilt. Die Umfragen jedenfalls unterstützen meine Beobachtung: Es sieht düster aus für den US-Präsidenten, der allgemein und auch in den wichtigsten Bundesstaaten gegen Donald Trump derzeit zurückliegt. Dass Biden und die Demokraten wenig Euphorie auslösen, machte die New York Times neulich deutlich, indem sie einen ganzen Artikel der Tatsache widmete, dass Bidens Fans ein kurioses Nischenphänomen sind. »Ich habe das Gefühl, dass ich der einzige bin«, wurde ein 28-Jähriger darin zitiert. »Interessiert es irgendjemanden, dass ich existiere?« 

Das klingt traurig. Und etwas dramatisch. Und alarmierend. Schließlich geht es hier nicht um die Ultras einer obskuren Post-Metal-Band, die sich mehr Aufmerksamkeit für ihre Idole wünschen. Es geht darum, dass die USA vor einer Welt-wichtigen Wahl im November stehen, bei der, wenn nicht noch irgendetwas sehr Außergewöhnliches passiert, zum zweiten Mal in Folge Biden und Trump gegeneinander antreten, und während auf der einen Seite das faschistoide Projekt immer konkreter geplant und vorangetrieben wird, wäre es eben nicht verkehrt, wenn die andere Seite etwas überzeugender wäre. Oder ist es dafür schon zu spät? 

Groteske Spiegelbilder

Die kanadische Autorin Naomi Klein geht in ihrem neuesten Buch »Doppelganger« der Beobachtung nach, dass rechte Verschwörungsnarrative oft wie groteske Spiegelbilder linker Analysen wirken. Als Beispiele nennt Klein unter anderem die diversen Verschwörungstheorien aus der Pandemie, sei es zu Impfungen oder Masken oder anderen Maßnahmen, von denen viele auf vage Weise einer berechtigten Kapitalismus- und Staatskritik ähnelten, aber diese so verzerrten, dass am Ende vor allem Ressentiment und Geraune übrigbleibe. 

Klein kommt in dem Buch immer wieder auf ihre eigene Doppelgängerin Naomi Wolf zurück, eine Autorin, die früher als Feministin gefeiert wurde, aber über die Jahre zur Steve-Bannon-Alliierten abgedriftet ist, weshalb die häufige Verwechselung für Klein besonders quälend sei. Mit Drang zur Selbstkritik stellt sich Klein die Frage, was sie mit Wolf – neben dem Vornamen und mancher Oberflächlichkeit – verbindet, und davon abgeleitet, warum Faschismus eben nicht nur am Rand, sondern auch im Herzen liberaler Gesellschaften gedeihen kann. »In Doppelgängergeschichten geht es nie nur um sie; es geht immer auch um uns«, schreibt sie. 

Ich musste ein paar Mal an Kleins Doppelgänger-Untersuchung denken, als ich am 7. März Bidens Rede zur Lage der Nation schaute. Ich habe mich gefragt, ob rechte Kräfte die Ansprache des Präsidenten sehen und, ähnlich wie Klein bei Wolf, nur eben politisch umgekehrt, Versatzstücke ihrer eigenen Analyse und Agenda erkennen. 

Zunächst kann man festhalten, dass der 81-jährige Biden an diesem Abend unter dem Strich überraschend vital wirkte, es unterliefen ihm keine krassen Versprecher oder Aussetzer; das ist zumindest etwas. Inhaltlich machte Biden manchen soliden Punkt, zum Beispiel als es um die Bedeutung von Gewerkschaften für den Aufbau der USA ging. Auf den oberen Rängen saß Shawn Fain, Präsident der Gewerkschaft der United Auto Workers, die im vergangenen Sommer die drei großen Unternehmen General Motors, Ford und Stellantis fulminant bestreikt hatte und dadurch die Arbeitsbedingungen von Hunderttausenden Beschäftigten verbessern konnte. Dass Biden den linken Fain als »großen Gewerkschaftsführer« lobte, demonstriert, dass die Arbeiter*innenklasse in den USA tatsächlich in manchen Bereichen Macht aufbaut. 

52 Prozent der Amerikaner *innen wollen, dass die USA die Lieferung von Waffen an Israel einstellt, solange Gaza weiter zerbombt wird.

Die Doppelgänger-Gedanken kamen mir an anderer Stelle, als Biden nämlich beim Thema Immigration von »Illegalen« sprach und betonte, dass die USA längst ein schärferes Grenzgesetz hätten, wenn die Republikanische Partei es nicht im Repräsentantenhaus geblockt hätte. Biden hielt dabei einen Anstecker hoch, den er vor der Rede von der rechtsradikalen Kongressabgeordneten Marjorie Taylor Greene in die Hand gedrückt bekommen hatte. Auf dem Anstecker stand der Name einer getöteten Studentin aus dem Bundesstaat Georgia, Laken Riley, deren Fall große Aufmerksamkeit bekommen hat, weil der Hauptverdächtige ein venezolanischer Immigrant ist. 

Biden entschuldigte sich zwar ein paar Tage später in einem Fernsehinterview für die Verwendung des entmenschlichenden Begriffs »Illegale«. Die ganze Szene aber machte deutlich, dass sich die beiden Parteien beim Thema Grenzschutz ähnlicher sind, als es viele Demokraten zugeben wollen. Während Biden im Wahlkampf 2020 noch versprach, Trumps Mauer zu Mexiko »keinen Fuß« weiter zu bauen, ist in den vergangenen Jahren genau das passiert: Die Mauer wurde im südlichen Texas verlängert. Was die Gesamtzahl der Abschiebungen betrifft, liegt Biden sogar deutlich vor Trump. Ob nun aus Angst, Wähler*innen zu verlieren, oder schlichtweg aus Überzeugung, ist eigentlich egal: Die Demokraten werden auf diesem politischen Feld zu Doppelgängern der Republikaner. 

»Unentschlossen«

»Kein Kind sollte in diesem Land hungern müssen«, sagte Biden an anderer Stelle. Ein schwer zu verdauender Satz auch deshalb, weil man weiß, dass im Gazastreifen derzeit Kinder an Hunger sterben, da Israel dort – mit finanzieller und militärischer Unterstützung der USA – den Großteil der Infrastruktur zerstört hat. Es dauerte lange, bis Biden den Krieg selbst kommentierte, zunächst das Massaker der Hamas am 7. Oktober, bei dem die Terrororganisation etwa 1.200 Israelis getötet hat, dann die seither stattfindende Offensive in Gaza, bei der das israelische Militär mehr als 30.000 Palästinenser*innen getötet hat. Israel habe das Recht, die Hamas zu bekämpfen, sagte Biden, aber zugleich die Verantwortung, unschuldige palästinensische Zivilist*innen zu schützen. Er setze sich für eine sechswöchige Waffenpause ein, um die von der Hamas entführten Geiseln zu befreien und den Hunderttausenden leidenden Menschen in Gaza zu helfen. Zudem kündigte Biden den Bau eines vorübergehenden Hafens an, um Nahrungsmittel, Wasser, Medizin und andre Hilfsgüter auf dem Seeweg liefern zu können. 

»Die Substanz der Politik hat sich nicht wirklich geändert, nämlich die fortgesetzte US-Finanzierung von Waffen für eine Operation, die nicht zu rechtfertigen ist«, kommentierte der demokratische Stratege Waleed Shahid gegenüber The New Republic. In der Tat lässt sich der fatale Aberwitz schwer ignorieren, der darin besteht, dass die USA einerseits einen Krieg, der von vielen Expert*innen als genozidal eingestuft wird, materiell ermöglichen und andererseits die Opfer dieses Kriegs auf chaotische Weise versuchen zu versorgen. 

Die offenbar bedingungslose Unterstützung Israels ist einer der Gründe, warum Biden im eigenen Land so unbeliebt ist. Laut einer neuen YouGov-Umfrage wollen 52 Prozent der Amerikaner*innen, dass die USA die Lieferung von Waffen einstellt, solange Gaza weiter zerbombt wird. In den demokratischen Vorwahlen von Michigan und Minnesota, wo viele Muslim*innen und Amerikaner*innen arabischer Herkunft wohnen, stimmten zuletzt Zehntausende für »unentschlossen« und drückten dadurch ihren Unmut aus. Vor allem der Swing State Michigan ist für die Democrats von großer Bedeutung. Sollte Biden dort verlieren, stehen seine Gesamtchancen schlecht. Auch Bidens Alter und die prekäre finanzielle Lage werden weiterhin als zentrale Kritikpunkte angeführt. (ak 695) Da hilft es nur bedingt, wenn der Präsident fortlaufend die ökonomische Stärke der USA betont. Stimmt zwar in mancher Hinsicht. Aber vielen Leuten geht es halt trotzdem dreckig. 

Wie erklärt sich eigentlich, dass Biden – trotz allem – wieder der Kandidat der Demokraten ist? Hatte er im Wahlkampf 2019/2020 nicht selbst angekündigt, dass er nur eine »Brücke« zu einer neuen Generation von »Anführer*innen« sei? Gibt es wirklich keine besseren Optionen?

»Wenn Trump nicht antreten würde, bin ich mir nicht sicher, ob ich kandidieren würde. Aber wir können ihn nicht gewinnen lassen«, sagte Biden bei einer Veranstaltung in Boston im Dezember. Nur er, und niemand anderes, könne Trumps Rückkehr ins Weiße Haus aufhalten, so die unmissverständliche Botschaft. Wem etwas an der Demokratie liege, der müsse ihn also unterstützen. Eine Art von Doppelgänger-Politik findet sich auch in dieser beschworenen Alternativlosigkeit, denn auf ähnliche Weise erledigte sich Biden ja schon 2020 der parteiinternen Konkurrenz, und auf ähnliche Weise erklärte auch Hillary Clinton 2016, dass sie, und nur sie, Trump schlagen könne. Die Muster spiegeln sich. 

Lukas Hermsmeier

arbeitet als freier Journalist in New York.