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Im Wartezimmer der EU

Dass die Ukraine vollwertiges Mitglied im europäischen Club wird, ist auch nach Gewährung des Kandidatenstatus unwahrscheinlich

Von Axel Gehring

Euromaidan-Proteste 2013/2014. Das Verhältnis der Ukraine zur Europäischen Union war lange umstritten. Foto: Ivan Bandura/Flickr, CC BY 2.0 Deed

Als die UdSSR sich im Dezember 1991 auflöste, war die Ukraine die wirtschaftlich und industriell am höchsten entwickelte Unionsrepublik. Wichtige forschungsstarke Betriebe der sowjetischen Rüstung, Luft- und Raumfahrt waren dort angesiedelt. Seit den 2000er Jahren setzte deshalb Russland verstärkt wieder auf den repressiven Einbezug der noch verbliebenen ukrainischen Innovations- und Wertschöpfungsketten – um die eigene Ökonomie zu modernisieren und aus der Rolle des semiperipheren Rohstofflieferanten auszubrechen.

Eine politische Annäherung der Ukraine an die EU war vor diesem Hintergrund für Russland wahrscheinlich ein noch größeres Problem als eine ukrainische Nato-Mitgliedschaft. Als die stärker an Russland orientierte Regierung unter Wiktor Janukowytsch Ende 2013 die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU auf unbestimmte Zeit verschob, unterschätze sie allerdings die Unzufriedenheit der eigenen Bevölkerung.  Im Februar 2014 wurde sie durch die Maidan-Proteste gestürzt. Moskau intervenierte, annektierte die Krim und brachte die Separatistenrepubliken im Donbass unter seine Kontrolle.

Der Fall Türkei

Dies stärkte die Pro-EU-Fraktionen im ukrainischen Machtblock, denn wichtige Teile der nach Russland orientierten und im Osten der Ukraine angesiedelten Industrien waren nun besetzt, große Teile der russischsprachigen Minderheiten lebten in der abgespaltenen Ostukraine oder auf der russisch annektierten Krim. Im Frühjahr 2014 unterzeichnete die neue ukrainischen Regierung das Assoziierungsabkommen mit der EU. Doch auf Seiten der EU-Eliten verhielten sich die Dinge genau umgekehrt: Dort war in Folge der ersten russischen Invasion von 2014 überhaupt erst die sicherheitspolitische Tragweite der Assoziierung erkannt worden, und ein EU-Betritt der Ukraine wurde fortan von einigen Regierungen noch kritischer betrachtet.

Erst als Russland im Winter 2022 seinen Verlust an Softpower und Verhandlungsmacht gegenüber der Ukraine durch seinen Angriffskrieg zu kompensieren versuchte, wuchsen nun auch unter den Regierungen der EU jene Stimmen, die über eine Assoziierung hinaus einen Beitritt des Landes zur Union befürworteten. Im Juni vergangenen Jahres bekam die Ukraine schließlich offiziell den Status einer Beitrittskandidatin.

Wird die Ukraine also bald der EU beitreten? Oder wird sie zu einer zweiten Türkei, die schon seit Jahrzehnten auf eine Vollmitgliedschaft wartet? Die Türkei schloss ihr Assoziierungsabkommen bereits 1963 ab, damals noch mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG. Erst 1996 trat eine Zollunion zwischen der EU und der Türkei in Kraft. Das Beitrittsprojekt nahm erst wieder an Fahrt auf, als die deutsche und französische Regierung unter Jacques Chirac und Gerhard Schröder eine geopolitisch stärker unabhängige EU wollten und Großbritannien und die USA in der damals noch transatlantisch ausgerichteten Türkei eine Bündnispartnerin erblickten. 2004 erlangte die Türkei den Status einer EU-Beitrittskandidatin, gefolgt von zaghaften Beitrittsverhandlungen. Mit dem Wechsel westlicher Regierungen, den schwankenden geopolitischen Konjunkturen und der zunehmenden politischen Entfremdung angesichts der elektoralen Machtergreifung des politischen Islam, in Gestalt Recep Tayyip Erdoğans, in der Türkei, verschwand diese Beitrittsperspektive jedoch schon kurz darauf wieder.  

Noch nie ist ein Staat in einem laufenden Verteidigungskrieg der EU beigetreten.

Was lässt sich daraus für den Fall der Ukraine ableiten? Zunächst einmal, dass ein primär aus geopolitischen Erwägungen gewährter Beitrittskandidatinnenstatus leicht im Zwischenreich einer sogenannten privilegierten Partnerschaft enden kann, die einen Status unterhalb der Mitgliedschaft, aber oberhalb der Assoziierung, schafft. Mit Blick auf die Ukraine hängt zudem vieles vom Kriegsausgang ab. Noch nie ist ein Staat in einem laufenden Verteidigungskrieg der EU beigetreten, und diese kennt dafür kein Procedere. Ein Interesse daran ist auch fraglich, weil Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags eine gegenseitige Beistandsverpflichtung der Mitgliedsstaaten für den Falle eines Angriffs vorsieht. Soll dieser Paragraf glaubhaft bleiben, müsste er auch angewendet werden. Ein Beitritt der Ukraine ist also erst nach Kriegsende denkbar. Der Ausgang des Krieges ist jedoch mit der realen Option einer ukrainischen Niederlage verbunden, denn Russland hat konsequenter als die westlichen Staaten auf Kriegswirtschaft umgestellt, und das ist in einem industriell geführten Krieg die entscheidende Größe. Nicht zuletzt zeigt die westliche Unterstützung inzwischen erhebliche Risse.

Wahrscheinliches Szenario

Ein Beitritt der Ukraine in ihren völkerrechtlich anerkannten Grenzen ist heute also unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher wäre – wenn überhaupt – ein Beitritt jenes Teils der Ukraine, der am Ende eines ungleichen Verhandlungsfriedens nicht unter russische Okkupation gerät. Und im Falle ihres völligen militärischen Zusammenbruchs erübrigt sich die Frage eines EU-Beitritts.

Was aber wäre im Falle einer russischen Niederlage oder einer für die Ukraine gütlichen Verhandlungslösung? Bei der EU handelt es sich nicht primär um einen geopolitischen Zusammenschluss. Über die Frage, ob die EU sich stärker als eine stärker eigenständige geopolitische Akteurin positionieren oder aber in die transatlantische Ordnung einfügen sollte, besteht unter ihren Regierungen Uneinigkeit. Der höchste Grad an Geschlossenheit und Supranationalisierung – in Gestalt der handlungsmächtigen Europäischen Kommission  – herrscht auf dem Feld ihrer Wirtschaftspolitik.

Eine nicht zu unterschätzende Bedeutung hat dabei der Bereich der Landwirtschaft, denn knapp 30 Prozent des EU-Haushaltes werden in der gemeinsamen Agrarpolitik verausgabt, hinzu kommen knapp neun Prozent für die Entwicklung des ländlichen Raumes. Bereits im Falle der Türkei wurde ein Beitritt gerade deswegen als ein zu großes Wagnis für den Agrarhaushalt der EU angesehen. Ähnlich wie die Türkei wies die Ukraine vor Kriegsbeginn 2014 eine geografisch stark differenzierte Wirtschaftsstruktur auf: Neben den großen schwerindustriell geprägten und exportstarken Regionen im Osten, einer diversen Industrie- und Dienstleistungsstruktur in Städten wie Kiew, Charkiw, Odessa und weiteren gab es große ländlich geprägte Regionen. Der im Grunde seit 2014 laufende Krieg hat aber einerseits große Industrieregionen unter russische Herrschaft gebracht, beziehungsweise zerstört. Die Bedeutung der Landwirtschaft für die ukrainische Ökonomie dürfte insofern weiter steigen. Sollte die Ukraine der EU beitreten, dann müsste der Agrarhaushalt beträchtlich erweitert werden, um das aktuelle Niveau an Subventionen zu halten. Die jetzigen Mitgliedsstaaten stünden also vor erheblichen Beitragserhöhungen oder massiven Kürzungen der Mittel, die sie selbst aus dem EU-Haushalt beziehen.

Dennoch sind Fragen der EU-Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitiken nie primär auf fiskalische Aspekte zu reduzieren. Noch wichtiger sind Fragen der Kapitalverwertung. Bis zur Finanzkrise 2008/2009 war es für die EU attraktiv, sich im Rahmen ihrer Süd- und später Osterweiterung eine »innere Peripherie« zu schaffen. Dabei konnten die großen europäischen Konzerne sowohl von den günstigen Produktionsbedingungen Mittelosteuropas als auch von der Freizügigkeit der Arbeitskräfte dort profitieren. Die Eurokrise markierte jedoch auch den Beginn einer inneren Krise der neoliberalen Integrationsweise und zeigte die systemischen Grenzen einer stark neoliberalisierten Union und zwischen ihren höchst ungleichen Mitgliedsstaaten auf. Vor diesem Hintergrund werden die Risiken neuer (großer) Beitritte nunmehr möglichst umgangen, Vorteile ungleicher Marktintegration sollen aber genutzt werden. Periphere oder – aus der Perspektive des kapitalistischen Weltsystems – semiperiphere Staaten sollen durchaus enger an das lokale kapitalistischen Zentrum – die EU – gebunden werden,  aber ohne Mitgliedschaft. Auch auf eine Notwendigkeit der Verkürzung von Lieferketten und Reduktion der Abhängigkeiten von Ostasien wird verstärkt verwiesen, zum Beispiel mit Blick auf die Türkei. Die Ukraine müsste ihre Rolle in der Arbeitsteilung erst noch finden.

Das Maximum an Integration

Das 2014 unterzeichnete Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine sieht die schrittweise Integration des osteuropäischen Landes in den Binnenmarkt der Union vor: durch Errichtung einer Freihandelszone sowie die Annäherung der Rechtsvorschriften. Folglich beschäftigt sich das Gros der Paragrafen im Abkommen mit Fragen der Ökonomie. Auch Rechtsstaatlichkeit wird darin nicht allein als eine Frage von Grundrechten behandelt, sondern auch in den Kontext der Senkung von Markteintrittshemmnissen gestellt.

Ähnlich wie die Türkei, ist die Ukraine als Beitrittskandidatin von der innerhalb der EU geltenden Grundfreiheit der Personenfreizügigkeit ausgenommen und gehört nicht dem Gemeinsamen Agrarmarkt an. Zwar wurde der Ukraine für die Dauer des Krieges für spezifische Gütergruppen Zollfreiheit auf dem EU-Binnenmarkt gewährt; einen dauerhaften Binnenmarktzugang auch für sämtliche Nichtagrargüter erhielt das Land aber noch nicht. Über einen solchen verfügt die Türkei schon längst mit der EU-Türkei-Zollunion. Sie stellt das Maximum an Integrationstiefe mit der Union dar, die ein Nichtmitgliedsstaat erreichen kann. Wenn auch unter anderen Umständen entstanden, existiert damit bereits eine mögliche Blaupause für die weitere Entwicklung der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine: Eine Zollunion, die neben Freihandel auch gemeinsame Außenzölle umfasst, wäre ein nächster der Schritt im Beitrittsprozess. Deren Aushandlung und Umsetzung (nach Kriegsende) könnte gesichtswahrend als weiterer Schritt hin zu einem EU-Beitritt verstanden werden und diesen damit zugleich weiter hinauszögern. Auch im Falle einer Zollunion gilt übrigens das Prinzip der Personenfreizügigkeit nicht, freie Migration wäre damit ausgeschlossen.

Die zentrale Hürde für einen EU-Beitritt der Ukraine scheint aus heutiger Sicht allerdings noch nicht die Frage nach Personenfreizügigkeit oder Zollschranken zu sein, sondern die neoliberal-wettbewerbsstaatliche Integrationsweise der EU, die zwischen den Mitgliedstaaten eine wettbewerbsstaatliche Konkurrenz  etabliert. Zwar hat es erste Ansätze gegeben, diese zum Beispiel durch gemeinschaftlich aufgenommene Schulden (sogenannte Corona-Bonds) zumindest teilweise zu überbrücken. Auch das Projekt der Energiewende stellt letztlich ein Revival von gemeinsamer Industriepolitik dar. Doch diese Ansätze sind im Machtblock umkämpft. Mit der Aufnahme der hochverschuldeten und kriegszerstörten Ukraine würde der Rahmen der neoliberalen Integrationsweise vollends gesprengt. Egal, wie attraktiv die Ukraine für Landgrabbing durch internationale Fonds sein mag: Um die innere Peripherie des lokalen kapitalistischen Zentrums bilden zu können, bedürfte es umfassender öffentlicher Investitionen in die Bedingungen der Kapitalverwertung. Dafür kämen letztlich nur erhebliche Steigerungen der nationalen EU-Mitgliedsbeiträge oder eine umfassende transnationale Besteuerung durch die EU selbst in Frage.

Kriegsausgang entscheidend

Jedweder Versuch, dies einzuführen, würde sehr grundlegende Reformen der EU erfordern, denn in ihrer jetzigen Verfassung kann diese allenfalls noch kleine Staaten aufnehmen. Jene des Westbalkan befinden sich seit Jahren in einer Warteschleife. In diesem Sinne ist die EU aufgrund ihrer inneren Verfasstheit nicht aufnahmefähig und nicht aufnahmewillig.

Letztlich gibt es keine objektiven Kriterien, die festlegen, ob und wann ein Staat »beitrittsreif« ist. Ob und wie tief die Ukraine in den Rahmen der EU integriert wird, hängt also davon ab, welchen Ausgang der Krieg nimmt und ob es der EU gelingt, über die inneren Begrenzungen ihres neoliberalen Entwicklungsweges hinauszuwachsen – gegen den zu erwartenden Widerstand restneoliberaler und sozialchauvinistischer Kräfte.

Axel Gehring

hat als Fellow am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung den Strukturwandel von Ökonomie, Gesellschaft, Kriegführung und Rüstung analysiert.