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Kriegsgeschenk

Die Eskalation des Konflikts um Sheikh Jarrah hilft Netanyahu, Hamas und Erdoğan gleichermaßen

Von Thomas Schmidinger

Ein Offizier der israelischen Bereitschaftspolizei im Januar 2010 in Sheikh Jarrah. Der Konflikt um Eigentums- und Wohnrechte im Stadtteil zieht sich schon lange hin. Foto: Yossi Gurvitz /Flickr , CC BY-NC-ND 2.0

Der ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah war vor der Teilung der Stadt im Jahr 1948 ein gemischt arabisch-jüdisches Viertel, das erst Mitte des 19. Jahrhunderts vor der Altstadt Jerusalems entstand. Während sich hier muslimische und christliche Araber*innen niedergelassen hatten, die in der beengten Altstadt keinen Wohnraum mehr fanden, siedelten sich einige Jahre später Jüdinnen und Juden um das Grab von Shimon Ha Tzadik an. Dieser hatte im zweiten jüdischen Reich nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft eine wichtige politische und religiöse Rolle gespielt, was für eine Gruppe orthodoxer Jüdinnen und Juden Grund war, das Grab und das umgebende Land aufzukaufen und sich ab 1875 dort niederzulassen. Das kleine jüdische Viertel innerhalb Sheikh Jarrahs wurde überwiegend von frühen jüdischen Einwanderer*innen aus dem Jemen bewohnt, die bereits in den 1880er-Jahren nach Jerusalem gekommen waren und schon damals zu den ärmeren Bevölkerungsschichten des Jischuv, also der jüdischen Bevölkerung Palästinas, zählten.

Mit dem israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 kam Sheikh Jarrah als Teil Ostjerusalems unter jordanische Kontrolle. Im Zuge des Krieges kam es auf beiden Seiten zu Vertreibungen. Die jüdischen Bewohner*innen von Sheikh Jarrah waren allerdings, wie manch andere von Araber*innen umgebenen kleineren jüdischen Siedlungen, noch von den Briten zu ihrem Schutz aus ihren Häusern abgesiedelt worden. Die jordanischen Autoritäten, die nach der Eroberung der Westbank mit sehr vielen geflüchteten Palästinenser*innen aus den von den Israelis eroberten Gebieten konfrontiert waren und zugleich eine mögliche Rückkehr von Jüdinnen und Juden in die nun jordanischen Gebiete verhindern wollten, siedelten Flüchtlinge aus den israelisch eroberten Gebieten in den jüdischen Häusern an und übertrugen diesen die entsprechenden Eigentumsrechte.

Einige Brandstifter …

Als Israel 1967 Ostjerusalem und die Westbank eroberte, wurden diese jordanischen Eigentumsrechte vorerst nicht angetastet. Allerdings beschloss die Knesset ein Gesetz, dass Juden und Jüdinnen, die von den Jordaniern oder Briten aus ihrem Besitz im Westjordanland vertrieben worden waren, diesen bei Nachweis ihres Besitzes zurückerhalten könnten.

Dieses Gesetz wurde keineswegs immer von den früheren jüdischen Bewohner*innen genutzt, die nur selten ein Interesse an der Rückkehr in eine feindliche Umgebung hatten. Vielmehr kauften in den vergangenen Jahren immer wieder rechtsextreme Siedler*innen, die vielfach nicht einmal in Israel geboren sind und oft noch immer US-Pässe haben, die Eigentumsrechte der ursprünglichen jüdischen Bewohner*innen auf und versuchten dann vor Gericht, ihre Eigentumsrechte durchzusetzen. Deshalb tauchen in den Videos von Israelis, die nun »ihre« Häuser beanspruchen auch keine jemenitischen Juden und Jüdinnen auf, sondern national-religiöse US-Amerikaner*innen, deren Ansprüche mit der Unterstützung gut organisierter Siedlerorganisationen vor Gericht durchgesetzt wurden.

Zwar waren in Sheikh Jarrah nur einige wenige Häuser von solch einer »Rückstellung« an die jüdischen Besitzer*innen betroffen, von der palästinensischen Bevölkerung wird dies allerdings im Kontext der immer exzessiveren Siedlungsbestrebungen in der Westbank und der von eben diesen Siedlerorganisationen und rechtsextremen Parteien offen geforderten »Judaisierung« Jerusalems als Bedrohung der eigenen Existenz wahrgenommen.

Dass schließlich der Räumungsbescheid für vier Häuser in dem Viertel entsprechende Proteste auslösen würde, war abzusehen. Auch dass der massive israelische Polizeieinsatz während des Ramadan auf dem Gelände des Haram ash-Sharif, des Tempelbergs, direkt vor der al-Aqsa Moschee, diese Proteste weiter befeuern und geradezu dazu einladen würde, diese religiös zu deuten, kann niemanden überraschen. Erst der brutale Polizeieinsatz auf dem Haram ash-Sharif ermöglichte es schließlich der Hamas, sich mit einer islamischen Deutung der Ereignisse an die Spitze der Proteste zu setzen.

… und viele Verlierer*innen

Alles deutet darauf hin, dass sowohl der israelische Ministerpräsident Netanyahu als auch die Hamas ganz bewusst eine Eskalation herbeiführen wollten. Für Netanyahu, der mit seinem Korruptionsverfahren konfrontiert über keine parlamentarische Mehrheit mehr verfügt, ist der Krieg geradezu ein Geschenk, das ihn plötzlich wieder zum Heerführer des »bedrohten Israel« macht und ihm damit möglicherweise zu neuer Popularität verhilft. Für die Hamas, die Gefahr lief mit der selbstständig rebellierenden Jugend in Gaza eine Konkurrentin zu bekommen und die seit Jahren mit einer Legitimitätskrise konfrontiert ist, ergibt sich die Möglichkeit, sich mit ihren Raketen wieder an die Speerspitze des »Widerstands« zu setzen. Auch gegenüber der Fatah kann die Hamas wieder Boden gut machen. Der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde Abbas hatte erst Ende April die Wahlen, die ersten seit 2006, unter dem Vorwand des Konflikts mit Israel über Wahllokale in Ostjerusalem abgesagt. Nun geht die Hamas zwar nicht aus den Wahlen, sehr wohl aber aus dem Krieg gestärkt hervor.

Dass der Räumungsbescheid für vier Häuser in Sheikh Jarrah Proteste auslösen würde, war abzusehen.

Die Verlierer*innen dieses Krieges sind indes die Zivilist*innen in Israel und im Gaza-Streifen, die verzweifelt vor israelischen Luftangriffen oder Raketen der Hamas Schutz suchen.

Vom Krieg profitieren dürfte auch die Türkei, die sich unter den sunnitischen Staaten der Region am lautstärksten und verbalradikalsten zu Wort meldete. Präsident Erdoğan, der innenpolitisch stark unter Druck steht, kann sich in der Region einmal mehr als Patron der sunnitischen Musliminnen und Muslime aufspielen und damit sowohl gegenüber seinen Hauptrivalen Iran und Saudi-Arabien an Boden gewinnen, als auch das Jerusalem-Thema innenpolitisch ausnutzen. Während Saudi-Arabien und seine Verbündeten aufgrund der jüngsten Annäherung an Israel nicht in der Lage sind, sich glaubwürdig als Verteidiger der Palästinenser*innen in Szene zu setzen, nutzt die türkische AKP, die über die befreundete Muslimbruderschaft enge Verbindungen mit der Hamas unterhält, die Situation sowohl innen- als auch regionalpolitisch, um ihre angeschlagene Macht zu erhalten. Kaum nutzen konnte die Situation bislang der Iran: Dessen Führung versuchte zwar, entsprechenden Wortmeldungen der Türkei nachzueifern, doch allein schon aufgrund der konfessionellen Differenzen zwischen dem schiitischen Iran und den strikt sunnitischen Muslimbrüdern und der AKP dürfte es hier für Teheran weniger zu gewinnen geben als für Ankara.

Thomas Schmidinger

ist Politikwissenschaftler an der Universität Wien und hat 2020 bei Bahoe Books »Sudan. Unvollendete Revolutionen in einem brüchigen Land« publiziert.