analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 683 | Deutschland

Seehofers Geist wirkt weiter

Die von den Grünen als Durchbruch beim Aufnahmeprogramm für Afghanistan gefeierte Einigung bleibt weit hinter den Versprechen der Ampel zurück

Von Alina Lyapina

Nach dem verheerenden Brand im Geflüchtetenlager in Moria auf Lesbos wurde am 20. September 2020 europaweit zu Demonstrationen aufgerufen um die Evakuierung und eine Aufnahme der Betroffenen zu erreichen. Heute ist Horst Seehofer zwar nicht mehr Innenminister, doch viel geändert hat sich an der Asylpolitik nicht. Foto: Nora Börding/Flickr, CC BY 2.0

Abgeordnete der Grünen, wie etwa Jamila Schäfer, brachen am 19. Mai nach der Bereinigungssitzung des Haushaltsausschusses im Bundestag in Jubel aus. Ein Dreivierteljahr nach dem Antritt die Ampel-Koalition sei endlich ein Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan beschlossen worden, ein Durchbruch, so ihre frohe Botschaft.

Tatsächlich hat man sich im Ausschuss erstmal nur auf 25 Millionen Euro für das Jahr 2022 und einen Bericht über die Umsetzung des Bundesaufnahmeprogramms, den das Bundesinnenministerium (BMI) bis August vorlegen muss, geeinigt. Noch am selben Tag geben die Grünen zögerlich zu, dass es sich beim Beschluss lediglich um eine Teilfinanzierung handelt und die beschlossene Summe bei weitem nicht ausreichend ist, um ein Aufnahmeprogramm im geplanten Umfang umzusetzen.

Alles weitere ist weder politisch geeint, geschweige denn beschlossen. Wofür werden die freigegebenen 25 Millionen eingesetzt? Auf welche gefährdeten Gruppen wird dieses Aufnahmeprogramm gemünzt? Wie viele Menschen können und sollen in diesem Rahmen insgesamt in Deutschland aufgenommen werden?

Gegen das Abwägen menschlichen Leids

Fast ein Jahr ist vergangen seit Menschen von Flugzeugen fielen, seit die Taliban ganz Afghanistan unter ihre Kontrolle gebracht haben und westliche Streitkräfte fast alle zurückließen, die sich gegen die Taliban und für Demokratie eingesetzt hatten.

Zwischen August 2021 und heute gab es in Afghanistan mindestens zehn Terroranschläge mit 445 Toten. Wie viele Menschen durch die Taliban hingerichtet wurden, ist nicht bekannt. Eine Ahnung vermitteln UN-Zahlen, denen zufolge allein in vier der 34 afghanischen Provinzen 100 ehemalige Polizist*innen hingerichtet wurden. Entführungen, Folter und Hinrichtungen sind an der Tagesordnung. Die Berichte, dass die Taliban tatsächlich Jagd auf ehemalige Sicherheitskräfte und Helfer*innen des Westens machen, mehren sich täglich.

Die Taliban verfolgen all diejenigen, die für eine alternative und demokratische Gesellschaft stehen. Journalist*innen, die sich in sicheren Häusern verstecken, werden gejagt, festgenommen und gefoltert; Aktivist*innen, ehemalige Sicherheitskräfte und alle, die nicht ins Bild der Taliban passen, werden zum Ziel. Sie verschwinden, manchmal tauchen sie tot wieder auf.

Zum Ziel werden auch alle, die mit Deutschland zusammengearbeitet haben. Ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr, der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), der Bundespolizei oder des Auswärtigen Amtes. Alle, die in irgendeiner Weise für oder mit Deutschland gearbeitet haben, schweben in Lebensgefahr.

Wie und wann kann ein Bundesaufnahmeprogramm diesen Menschen endlich helfen? Eine Frage, die die Ampel-Regierung immer noch nicht beantwortet.

Außenministerin Annalena Baerbock sagte im Dezember 2021: »Gerade mit Blick auf die besondere Lage schutzbedürftiger Frauen und Mädchen, die für uns absolute Priorität genießen, und auf Menschen mit familiären Bindungen in Deutschland werden wir im Sinne des Koalitionsvertrags ein humanitäres Aufnahmeprogramm schaffen.«

Seitdem sind viele Monate verstrichen und klare Aussagen geschweige denn eine politische Einigung darüber, für wen das Programm gelten soll, gibt es nicht. Aus dem Bundesinnenministerium werden hübsche Fotos von Gesprächsrunden mit zivilgesellschaftlichen Organisationen getwittert. Von großen Worten hin zu Taten kam man bisher allerdings nicht. Während der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und die Fluchtbewegungen sowohl die Öffentlichkeit als auch die Ministerien beschäftigt haben, darf es kein Abwägen von menschlichem Leid geben. Aufnahmen aus Afghanistan dürfen nicht hinten angestellt, sondern müssen trotz allem anderen schnell umgesetzt werden. Die Anordnung zum Bundesaufnahmeprogramm muss aus dem Innenministerium kommen. Dort hat man es bisher aber nicht sonderlich eilig. Der Geist von Seehofer scheint im Ministerium weiter zu wirken.

Klare Aussagen geschweige denn eine politische Einigung darüber, für wen das Programm gelten soll, gibt es bis heute nicht.

So berichtete Der Spiegel im April, dass das BMI in einem Schreiben an Abgeordnete der Ampel behauptete, es könne nur 5.000 Personen pro Jahr evakuieren. Eine offensichtlich ausgedachte Zahl, mit der das BMI scheinbar versucht, politische Tatsachen zu schaffen. Denn Deutschland hat seit August 2021 mehr als 20.000 Menschen evakuiert. Alleine die Kabul Luftbrücke, eine zivile Organisation, hat über 3.000 Menschen in weniger als einem Jahr evakuiert.

Wie es gehen könnte

Wie würde also ein Aufnahmeprogramm aussehen, das der Notlage in Afghanistan halbwegs angemessen wäre?

Ein Programm müsste diverse Schutzbedarfe abdecken. Es darf nicht nur um Frauen und Mädchen gehen, weil dies in die vermeintlich feministische Agenda einer Annalena Baerbock passt. Die Aufnahme nach Deutschland muss möglichst umfassenden Personengruppen ermöglicht werden: Fangen wir an bei Menschenrechtsverteidiger*innen und bedrohten Aktivist*innen, bei Menschen aus der LGBTQI+ Community, bei Journalist*innen, bei Menschen mit Familie in Deutschland, Menschen mit schweren Krankheiten, die in Afghanistan nicht behandelt werden können, Frauen in prekären Situationen und weitere Personengruppen mit humanitärem Schutzbedarf.

Das Programm darf keine Deckelung des Kontingentes beinhalten. Und bei den jährlich anvisierten Zahlen muss die Ampel über eine Zahl von mindestens 20.000 Menschen pro Jahr hinausgehen. Der Anspruch dieser Regierung muss es sein, ambitioniert und großzügig zu evakuieren – genauso, wie es versprochen wurde.

Gleichzeitig müssen im Auswärtigen Amt und im Innenministerium auch Strukturen und Personal aufgebaut werden, um das Aufnahmeprogramm effektiv umsetzen zu können. Es darf keine Nadelöhre geben, die – wie es bisher der Fall ist – Evakuierungen verlangsamen und begrenzen. Diese Strukturen zu stärken, sollte auch heißen, sie nachhaltig zu verstetigen. So steht es auch im Koalitionsvertrag der Ampel: Bundesaufnahmeprogramme sollen auch in Zukunft eine Möglichkeit sein, um humanitäre Aufnahmen nach Deutschland zu realisieren. Dank der europäischen Abschottungspolitik sterben an den EU-Außengrenzen nach wie vor zu viele flüchtende Menschen.

Abseits der Debatten um Zahlen: Das Innenministerium muss ins Handeln kommen. 25 Millionen Euro im diesjährigen Haushalt sind zu wenig Geld für jegliche ambitionierte Evakuierung. Dennoch ist die Finanzierung ausreichend, um etwa 5.000 bis 14.000 gefährdeten Personen aus Afghanistan noch in diesem Jahr die Aufnahme nach Deutschland zu ermöglichen. Das wird nicht passieren, wenn man weiterhin nette Gesprächsrunden abhält und Däumchen dreht.

Eine ambitionierte und großzügige Aufnahme aus Afghanistan müssen die grünen und sozialdemokratischen Parlamentarier*innen also auch innerhalb der Ampel-Koalition und gegen die unwilligen Behörden, Staatssekretär*innen und Abteilungsleiter*innen sowie ihre Verschleppungstaktiken erkämpfen. Nur so können die Gruppenkriterien, der Zeithorizont und die operative Ausgestaltung des Aufnahmeprogramms auf Seiten des Ministeriums möglichst schnell bestimmt werden.

Auch bei den nächsten Haushaltsverhandlungen, die schon im Herbst anstehen, müssen die Abgeordneten auf eine viel größere Finanzierung der Aufnahme aus Afghanistan sowie der Integrationskosten in den aufnehmenden Ländern und Kommunen im Jahr 2023 drängen.

Der bescheidene Beschluss über die 25 Millionen Euro im Haushaltsausschuss im Mai zeigt, dass die Gestaltung und Umsetzung des Aufnahmeprogramms ein hartes Ringen sein wird. Doch die selbsternannten progressiven Kräfte können für sich erst dann einen Erfolg in der Migrationspolitik verbuchen, wenn sie konsequent an der Seite von betroffenen Menschen stehen und ihre Interessen und Rechte zuallererst schützen. Der Frieden innerhalb der Ampel-Koalition darf nicht die oberste Priorität sein.

Alina Lyapina

lebt in Berlin. Sie ist Seebrücke-Aktivistin und arbeitet im Bereich kommunale Migrationspolitik in Europa.