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Wirtschaftskrieg auf Kosten anderer

Staaten im Globalen Süden leiden unter den Sanktionen gegen Russland

Von Jörg Kronauer

Ein Farmer arbeitet auf einem Maisfeld.
Mangelware: Im Globalen Süden kommt wegen der westlichen Sanktionen weniger Dünger an. Die Ernten könnten schlechter ausfallen. Foto: Ahamed Rafid/Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Annalena Baerbock war sich sicher: »Das wird Russland ruinieren«, sagte die deutsche Außenministerin am 25. Februar 2022 voraus, als die EU am Tag nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ihr zweites großes Sanktionspaket gegen Russland beschloss. Hatte sie recht? Ein gutes halbes Jahr später, im September, meldete die einflussreiche US-Fachzeitschrift Foreign Affairs Zweifel an. Die russische Wirtschaft sei nicht kollabiert, habe sich an die Sanktionen des Westens angepasst, schrieb der Autor des Beitrags, Nicholas Mulder, Historiker an der Cornell University – genauso wie die Wirtschaft im Westen, die ja ebenfalls ein paar blaue Flecke abbekommen habe. »Die Kosten dieses Wirtschaftskriegs«, fuhr Mulder fort, »werden vor allem von schwächeren Volkswirtschaften im globalen Süden getragen.« Weil sie kaum über ökonomische Rücklagen verfügten, seien sie in der »neuen Welt des Sanktionsgetümmels« besonders verwundbar, sie liefen gar Gefahr, ruiniert zu werden.

Vier Monate nachdem Mulder seine Zeilen schrieb, zeigt sich: Er hat recht behalten. Die Sanktionen, die die EU bzw. die transatlantischen Mächte mit großem Gestus verhängt haben, treffen Unbeteiligte – tendenziell ärmere Staaten im Globalen Süden, die nun die Scherben des westlichen Sanktionsfurors bei sich zu Hause zusammenkehren. Zwei Beispiele zeigen das deutlich: die Entwicklung auf dem Erdgasmarkt und die Verfügbarkeit von Düngemitteln.

Düngemittel sind für die westliche, urban geprägte Linke eher selten ein Thema. Für Landwirt*innen im Globalen Süden sind sie es durchaus – zumal dann, wenn sie von Agrochemiekonzernen in die Abhängigkeit von ihnen getrieben wurden. Mangel an Dünger bedeutet in aller Regel: Die nächste Ernte fällt geringer aus. Anfang August 2022 warnte die Afrikanische Entwicklungsbank, in den Ländern des Kontinents fehlten Düngemittel, und zwar bereits zwei Millionen Tonnen; das könne dazu führen, dass die Agrarproduktion im kommenden Jahr um 20 Prozent einbreche. Im Dezember berichtete die Financial Times, Expert*innen schätzten den Ernterückgang wegen Düngermangels schon für 2022 auf 2,4 Prozent. In diesem Jahr droht nun ein weitaus gravierenderer Einbruch.

Weniger Dünger, weniger Ernte

Die wichtigste Ursache für den Düngermangel vor allem in Afrika waren – und sind – die Russland-Sanktionen der EU. Russland ist einer der größten Düngemittelhersteller weltweit; nicht zuletzt beliefert es diverse Staaten Afrikas, insbesondere einige verarmte Länder im Westen des Kontinents. Diese Lieferungen brachen in vielen Fällen nach der Verhängung der Russland-Sanktionen der EU ein. Zwar hieß es in Brüssel bald, man habe den Export von Dünger etwa in afrikanische Staaten eigens von den Sanktionen ausgenommen. Das half aber nichts.

Denn die Ausfuhr russischer Düngemittel nach Afrika scheiterte vor allem an drei Faktoren. So konnte der Dünger oft nicht transportiert werden, da die Sanktionen die Transportbranche Russlands trafen. Zudem konnte er wegen der Sanktionen gegen die Finanzbranche oft nicht bezahlt werden. Drittens gab es Sanktionen gegen diverse russische Oligarch*innen, die die Branche kontrollieren. Das Ergebnis: Die russischen Düngemittelexporte insgesamt brachen im Verlauf des Jahres um 15 Prozent auf 31,6 Millionen Tonnen ein.

Dass die Russland-Sanktionen in den betroffenen Ländern Afrikas keinen guten Ruf haben, verwundert nicht. Auch die Tatsache, dass der Kontinent die Forderung Deutschlands und der EU, sich den Sanktionen anzuschließen, als Zumutung empfindet, sollte nicht erstaunen. Um ihren eigenen Einfluss in Afrika besorgt, räumte die EU nach monatelangem Leugnen gegen Ende des Jahres implizit die ernsten Kollateralschäden ihrer Sanktionen für den afrikanischen Kontinent ein: Sie bequemte sich, in ihr neuntes Sanktionspaket einige Änderungen aufzunehmen, deren Ziel es war, den russischen Düngerexport nicht nur verbal, sondern auch real wieder freizugeben.

Gegen die Änderungen sperrten sich Polen und die baltischen Staaten; es gelang ihnen, die Änderungen ein wenig aufzuweichen. Die Folge: Der Export klemmt immer noch. Das berichtete Ende Dezember ein gewisser Andrej Melnitschenko. Der russische Oligarch – Rang 134 auf der Bloomberg-Milliardärsliste – ist keine schöne Quelle. Ihm gehörte aber lange Zeit der Düngerhersteller Eurochem; man darf unterstellen, dass er ihn real weiter kontrolliert, auch wenn er seine Anteile inzwischen offiziell abgegeben hat. Er hat also ein Interesse am Profit, der mit dem Düngerexport verbunden ist; der aber fließt immer noch nicht.

Implizit räumte die EU die Kollateralschäden ihrer Sanktionen für den afrikanischen Kontinent ein.

Auch eine Spendenaktion der russischen Düngeroligarch*innen hat daran nichts ändern können. Im November gelang es unter Vermittlung und auf Drängen der Vereinten Nationen, eine Einigung zu erzielen, bei der sich die Staaten Europas bereit erklärten, rund 260.000 Tonnen russischer Düngemittel freizugeben, die sie Monate zuvor in ihren Häfen festgesetzt hatten. Dort lagerten sie, um Russland Einnahmen zu entziehen, während afrikanische Länder sie dringend benötigt hätten, um Ernteausfälle und drohenden Hunger abzuwehren. Nun sollten die Bestände bedürftigen afrikanischen Staaten gespendet werden.

Das geschieht jetzt im traditionellen Deutschlandtempo. Anfang Januar, fast zwei Monate später, traf die erste Lieferung von 20.000 Tonnen im mosambikanischen Hafen Beira ein, von wo sie nach Malawi gebracht werden sollte. Dort wird sie Anfang Februar erwartet. Malawi wird damit rund drei Prozent seines Jahresbedarfs decken können. Weitere Lieferungen an andere Staaten sollen folgen.

Unklar war Anfang Januar auch noch, wie es mit der Ammoniakpipeline aus dem russischen Togliatti nach Odessa weitergeht. Durch die Leitung flossen bis Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 jährlich bis zu 2,5 Millionen Tonnen Ammoniak – ein wichtiger Grundstoff für die Düngerproduktion. Seitdem hat Kiew die Leitung blockiert. Es ginge auch anders: Nicht blockiert sind die Pipelines, die russisches Erdgas durch die Ukraine transportieren. Aber das Gas wird ja auch von Europa benötigt, nicht von Afrika.

Flüssigerdgas wegkaufen

Gravierende Folgen für viele ärmere Länder haben auch die westlichen Bestrebungen, aus dem Bezug russischer Energieträger auszusteigen. Schon die Ankündigung, die EU werde in Zukunft auf den Kauf russischer Kohle verzichten, trieb den Kohlepreis in die Höhe – zum Nachteil insbesondere derjenigen Staaten, deren Bevölkerung es ohnehin nicht dicke hat. Besonders dramatisch wirkte sich dann aus, dass die EU-Staaten begannen, auch russisches Erdgas um – im Wortsinn – jeden Preis zu ersetzen. Der Gaspreis war bis kurz vor Kriegsbeginn ohnehin schon auf ein überaus hohes Niveau gestiegen. Die nach der Covid-19-Pandemie wieder anspringende Wirtschaft hatte dazu ebenso beigetragen wie mehrere Sonderfaktoren.

Nun war jedoch klar: Die EU-Staaten würden ihre Nachfrage nach Flüssiggas (Liquefied Natural Gas, LNG) massiv erhöhen, was den Gaspreis noch weiter in die Höhe trieb. Und es kam hinzu, dass die relativ leergelaufenen Erdgasspeicher wieder gefüllt werden mussten. Auch dies ließ Nachfrage und Preise anschwellen. Die astronomischen Erdgaspreise belasteten am stärksten Staaten des Globalen Südens.

Wenn sie denn überhaupt noch Erdgas bekamen. Die wohlhabenden, zahlungskräftigen Staaten Europas kauften auf dem LNG-Weltmarkt ab sofort jedes Flüssiggasmolekül weg, das nicht niet- und nagelfest war – übrigens auch jedes russische: Die EU-Staaten erwarben im Jahr 2022 rund 21 Prozent mehr russisches Flüssiggas als vor dem Ukraine-Krieg. Beim LNG-Kauf gab es keine Rücksichten mehr: Europa zahlte jeden Preis – und es überbot regelmäßig weniger zahlungskräftige Staaten. Das ging so weit, dass Flüssiggaslieferant*innen sogar langfristige Verträge brachen, die sie mit Staaten im Globalen Süden geschlossen hatten. Dafür mussten sie zwar eine gewisse Vertragsstrafe zahlen; die war aber häufig niedriger als der Zusatzgewinn, den man dank der astronomischen Preise erzielen konnte. 

Alles in allem gelang es den Staaten Europas, ihren LNG-Import stark auszuweiten. In der Statistik zeigt sich dies in den Ländern, die schon jetzt Flüssiggasterminals besitzen und damit andere – etwa Deutschland – mitversorgen: Die Niederlande und Frankreich führten vergangenes Jahr 99 Prozent mehr LNG ein als 2021, Belgien sogar 167 Prozent mehr. Schon in den ersten drei Quartalen 2022 hatten die EU, Großbritannien sowie die Türkei ihren Anteil an den globalen Flüssiggaseinfuhren von fast einem Fünftel auf fast ein Drittel aufgestockt.

Strom wird rationiert

Das aber hieß, weil es Jahre dauert, neue Erdgasquellen zu erschließen und LNG-Terminals zu bauen: Für den Rest der Welt, darunter der Globale Süden, standen nicht mehr vier Fünftel, sondern nur noch zwei Drittel des LNG weltweit zur Verfügung. Indien musste seine LNG-Einfuhr um 17 Prozent senken, Pakistan um 18 Prozent. Dem Land gelang es wochenlang nicht, auch nur einen einzigen Flüssiggastanker an Land zu ziehen. Die Folge: In Ländern wie Pakistan oder Bangladesch musste zeitweise der Strom rationiert werden; Geschäfte mussten früher schließen, Betriebe wurden vorläufig stillgelegt. Der wirtschaftliche Schaden war immens. Thailand hatte ähnliche Probleme. 

Die Länder des Globalen Südens zahlten also horrende Preise für viel zu geringe Mengen an LNG, die ihnen das reiche Europa übrig ließ. Klar ist zudem schon jetzt: Wenn Europa kein russisches Pipelinegas mehr bezieht, wird es, so hat es die Internationale Energieagentur (IEA) berechnet, im Winter 2023/24 30 bis 60 Milliarden Kubikmeter Erdgas zu wenig zur Verfügung haben. Es wird alles daran setzen, es irgendwo zu beschaffen. Wer dabei zu kurz kommen wird, ist nicht schwer zu erahnen. So geht werteorientierte europäische Außenpolitik.

Beliebt macht man sich damit nicht. Im November 2022 stellte Heribert Dieter von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) fest, »nichtwestliche Länder«, die von den Folgen der Sanktionen am stärksten getroffen werden, »wurden vor Verhängung der Sanktionen nicht konsultiert oder gar um Zustimmung gebeten«. Das sorge beispielsweise in Indien – dort lehrt Dieter am National Institute of Advanced Studies in Bengaluru – »für anhaltende Verstimmung«. Pakistan schickte seinerseits Ende November die für Energie zuständigen Regierungsmitglieder zu Verhandlungen nach Moskau; dort erhielten sie Zusagen für verbilligte Öllieferungen. Perspektivisch hofft Islamabad auch auf die Lieferung von russischem Flüssiggas.

Jörg Kronauer

ist Soziologe und freier Journalist und lebt in London.

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