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Zwischen Stigmatisierung und Propagandabeschallung

Am 9. Mai wird erneut mit prorussischen Kundgebungen von Spätaussiedler*innen aus der ehemaligen UdSSR gerechnet. Wer aber sind sie?

Von Ewgeniy Kasakow

Bild einer Demonstration. Im Hintergrund eine Ansammlung von Menschen zwischen Autos. Einige halten russische Flaggen. Im Vordergrund vier Gegendemonstrant*innen, die zwei weiß-blau-weiße Flagge der russischen Opposition halten.
Gegendemonstrant*innen in Hannover bei einem der pro-russischen Autokorsos im April 2022. Foto: Hangover Ucraine/ Wikimedia , CC BY-SA 4.0

Alle fürchten sich davor, was am 9. Mai passiert«, so überschrieb Mitte April Meduza.io, ein Leitmedium der russischen liberalen Opposition, ihren Bericht über die Ängste der ukrainischen Geflüchteten vor den Pro-Putin-Demonstrationen in Deutschland. Darin wird der ehemalige Mitstreiter von Alexei Nawalny, Alexei Schwarz zitiert, der als russlanddeutscher Spätaussiedler in die Bundesrepublik auswanderte und sich mit seiner Pro-Ukraine-Position unter den Neueingewanderten ziemlich alleine fühlt. Auch in den deutschen Medien wird seit einer Reihe von Demonstrationen und Autokorsos mit Russlandfahnen im April verstärkt über die Haltung der »Russlanddeutschen« zu Putin und den russischen Krieg in der Ukraine diskutiert.

Die Deutschen aus der ehemaligen UdSSR stellen mit über 2,5 Millionen nicht nur den Großteil der sogenannten (Spät-)Aussiedler*innen, sondern eine der größten Migrant*innengruppen in Deutschland überhaupt. Die meisten Vorfahren der etwas ungenau als »Russlanddeutsche« bezeichneten Gruppe kamen noch vor der Gründung des deutschen Nationalstaates in das Gebiet des damaligen Russischen Reiches. Ihre Migration in die Bundesrepublik begann in den 1950er Jahren, doch durften zunächst nur wenige die Sowjetunion verlassen. Seit den 1990er Jahren kamen etwas über zwei Millionen ehemaliger Sowjetbürger*innen mit deutschem Background nach Deutschland.

In der Bundesrepublik galten als »deutsche Volkszugehörige« oder »Übergesiedelte« – so der amtliche Sprachgebrauch – offiziell nicht als »Ausländer« und wurden sofort eingebürgert. Waren die »Aussiedler« aufgrund des deutschen Blutsrechts für den Staat Deutsche, so nahm die Gesellschaft sie schlicht als »die Russen« wahr.

Nicht nur Sprachbarrieren und Schwierigkeiten bei der Arbeits- und Wohnungssuche machten ihnen zu schaffen, sondern auch rechtsradikale Anfeindungen.

Einerseits wurde die Community vor allem von CDU und CSU, die in ihr eine zuverlässige Wählerschaft fanden, als gut integriert gelobt. Andererseits waren die in der eigenen Wahrnehmung in ihre »historische Heimat« Zurückgekehrten mit denselben Problemen konfrontiert wie viele andere Migrant*innen auch. Nicht nur Sprachbarrieren und Schwierigkeiten bei der Arbeits- und Wohnungssuche machten ihnen zu schaffen, sondern auch rechtsradikale Anfeindungen. Allerdings gab es Faktoren, die Deutsche aus der ehemaligen Sowjetunion von anderen migrantischen Gruppen unterschied. Während zum Beispiel dem damaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine das Zuzugsrecht aufgrund der Herkunft ein Dorn in Auge war, erkannten die Rechtsradikalen schon früh in den Russlanddeutschen eine potenzielle Zielgruppe.

Migrant*innen gegen Migrant*innen?

2016 zeigte sich die deutsche Öffentlichkeit von Demos von »Russlanddeutschen« gegen Geflüchtete schockiert. Auslöser waren Fake News, die von russischen Staatsmedien verbreitet worden waren: Angeblich sei eine 13-jährige »Russlanddeutsche« von Geflüchteten entführt und vergewaltigt worden (tatsächlich war sie von Zuhause ausgerissen). Forderungen nach mehr Überwachung des russischen Einflusses machten im Zuge des »Falls Lisa« die Runde. Überrascht zeigten sich viele auch angesichts der relativ hohen Zustimmungswerte, die die AfD mit ihrer antimigrantischen und Putin-freundlichen Rhetorik bei den Deutschen mit postsowjetischen Background erreichen konnte.

Die Überraschung ist jedoch einer Ignoranz geschuldet. Denn schon lange gibt es Versuche der rechtsradikalen Szene, Anhänger*innen unter den (Spät-)Aussiedler*innen zu finden. So kursierten bereits in den 1990er Jahren zweisprachige Medien, in denen die Probleme der »Russlanddeutschen« mit der angeblichen Bevorzugung von anderen Migrant*innen erklärt wurden oder das Gedenken an die sowjetische Deportation 1941 dem an der Shoah gegenübergestellt wurde. Die vom Verleger und Witikobund-Mitglied Herbert Fleissner herausgegebene Deutsch-Russische Zeitung ist ein Beispiel für die Nähe zur Rechten, das anfänglich der Deutschen Volksunion (DVU) nahestehende Blatt Heimat/Rodina ein anderes.

Noch bevor die AfD-nahen Strukturen wie der »Internationale Volksrat der Russlanddeutschen« oder Heinrich Groths »Internationaler Konvent der Russlanddeutschen« entstanden, kam es 2013 zur Gründung der rechten Partei ARMINIUS-Bund des deutschen Volkes in Nordrhein-Westfalen oder der Aussiedler und Migranten Partei Deutschland – EINHEIT in Köln. Auch die NPD hatte sich mit ihrem Arbeitskreis der Russlanddeutschen in der NPD und der Deutsch-Russischen Friedensbewegung Europäischen Geistes spätestens seit 2006 sowohl um die Kontakte zur Community als auch um den positiven Bezug auf Putins Russland bemüht.

Dazu kam in den 2000er Jahren die Bewegung von Russlandrückkehrern, die in den russischen Medien als Reaktion der Aussiedler auf den »Verfall des Westens« und der »Migrantenflut« präsentiert wird. Die Probleme der »Russlanddeutschen« wurden zunehmend auf die »Besserbehandlung« von nichtdeutschen Migrant*innen zurückgeführt.

»Unechte Deutsche«

Vor diesem Hintergrund steht die rund 6.700 zählende Verein Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (LmDR) mit ihrer traditionellen CDU-Nähe unter Konkurrenzdruck. Die Positionierung gegen den »völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands« auf der Website dürfte der Landsmannschaft einige Sympathien kosten. Dabei ist die Geschichte der LmDR bei Weitem noch nicht aufgearbeitet. Gegründet wurde die Landsmannschaft 1950, noch vor Beginn der Auswanderung der Deutschen aus der UdSSR – damals waren Mitglieder vor allem während des Zweiten Weltkrieges im Zuge der deutschen Besatzung »Heim ins Reich« Umgesiedelte. Als Gründer fungierte der bereits 1918 ausgewanderte Schwarzmeerdeutsche Karl Stumpp (1896-1982), ein ehemaliges SS-Mitglied und Leiter des Sonderkommandos »Sippenkunde und Volksbiologie«, das im Auftrag von Alfred Rosenbergs Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete agierte.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die Verschärfung des außenpolitischen Konflikts mit Russland führt zur neuen Stigmatisierung der (Spät-)Aussiedler*innen. Waren sie davor als »unechte Deutsche« mit antislawischen Rassismus konfrontiert, kommt jetzt der pauschale Verdacht hinzu, illoyal gegenüber dem deutschen Staat und Handlanger*innen Putins zu sein. Jeder Fall von Diskriminierung wird wiederum von den russischen Medien aufgegriffen und mit Falschmeldungen vermischt ausgeschlachtet. Das Ziel: das Vertrauensverhältnis zwischen deutschem Staat und seinen Bürger*innen mit postsowjetischen Hintergrund zu stören. Das Paradox der Lage der Russlanddeutschen besteht darin, dass ihre Migration sich dem deutschen Blutsrecht verdankt. Die Propaganda der deutschen Rechtsradikalen und Putins Medien knüpft an die Frustration an, in der »historischen Heimat« dennoch als Fremde wahrgenommen zu werden.

Ewgeniy Kasakow

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven.