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|ak 678 | Deutschland

Mit dem Gesicht zur Wand

Das Geschwurbel auf der Straße reflektiert das Geschwurbel neoliberaler Politik

Von Jan Ole Arps

Demoszene, das halbe Gesicht eines Mannes mit Mütze ist zu sehen, daneben ein Schild mit der Aufschrift "Nein zur Impf-Diktatur"
Manche möchten das Virus am liebsten im Kampf 1 gegen 1 besiegen. Frühe Anti-Impf-Demonstration in Wien, Januar 2021. Foto: Ivan Radic / Flickr, CC BY 2.0

Während die Omikron-Welle zur Omikron-Wand anwächst, Krankenhäuser Notfallpläne schmieden, die Sterbezahlen sich bei mehreren hundert Toten pro Tag einpendeln und Schulen ihre Schüler*innen selbst dann nicht mehr in Quarantäne schicken, wenn ein Lehrer die halbe Klasse ansteckt, protestieren Woche für Woche in jeder zweiten deutschen Stadt Hunderte, manchmal Tausende gegen Kontaktbeschränkungen, Impfungen und Infektionsschutz im Allgemeinen. In vielen Orten führen Rechte den Protest an oder prägen ihn entscheidend, doch es sind nicht nur Neonazis, die sich dort versammeln. Ein Konglomerat aus Medizinskeptiker*innen, Hippies, Anthroposoph*innen und Verwirrten, Rechtsradikalen und deinen Nachbar*innen ist es, das Woche für Woche gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße geht und die Gefährlichkeit des Virus bestreitet. Und immer wieder gibt es Linke, die mit dem Protest mitfühlen, sei es, weil sie selbst die Impfung ablehnen, sei es, weil das Unbehagen gegenüber dem Pandemiestaat größer ist als das gegenüber der diffusen Menge, die dort realitätsverleugnend vor sich hin irrlichtert. Der Berliner Linke-Szene-Promi Marcus Staiger hat eine solche Haltung Anfang Januar im Podcast von Lower Class Jane durchbuchstabiert.

Die Querdenken-Mobilisierung ist die individualistische Reaktion auf eine Politik, die halbherzige Maßnahmen zur Eindämmung mit dem falschen Versprechen, sich aus der Pandemie herauszuimpfen, kombiniert und inzwischen beim Ziel Durchseuchung bei möglichst hoher Impfquote angelangt ist. Die Widersprüchlichkeit staatlichen Handelns ergibt sich aus den widersprüchlichen Aufgaben staatlicher Politik. Sie muss die möglichst profitable Produktion der Unternehmen gewährleisten, aber zugleich die langfristigen Bedingungen dieser Profite stabil halten. Hierfür handelt sie bisweilen auch mal gegen die Interessen der Einzelkapitale. So geschehen in den ersten Wochen der Pandemie, als angesichts einer unbekannten ansteckenden Krankheit Teile der Wirtschaft heruntergefahren wurden. Doch damit war schon im späten Frühjahr 2020 Schluss. Seitdem gilt: Ein neuer Lockdown der Wirtschaft ist unbedingt zu vermeiden. Infektionen werden akzeptiert, solange das Gesundheitssystem nicht kollabiert. Die Prognosen der großen Mehrheit der Epidemolog*innen werden ignoriert, die Verantwortung für das Infektionsgeschehen wird den Einzelnen zugeschoben, die sich nicht an die Beschränkung des Freizeitlebens halten oder sich trotzdem infizieren – oder sich eben nicht impfen lassen wollen.

Die Beschränkung persönlicher Freiheiten ist die Kränkung, die das neoliberal zugerichtete Individuum noch am ehesten empfinden kann.

Dass die Unzufriedenheit über diese Politik wächst, ist nachvollziehbar. Mit Querdenken bricht sie sich allerdings als egoistische Bockigkeit Bahn. Nachdem ihnen jahrelang eingehämmert wurde, dass sie nur für sich selbst verantwortlich sind, dass Scheitern nur als individuelles Versagen zu verstehen und Schwäche ein persönlicher Makel ist, begreifen sich viele Menschen tatsächlich als Einzelne, die der Rücksichtslosigkeit staatlicher Politik ohnmächtig ausgeliefert sind. Die Beschränkung persönlicher Freiheiten ist die Kränkung, die das neoliberal zugerichtete Individuum noch am ehesten empfinden kann. Sie mit derselben Rücksichtslosigkeit zurückzuweisen, dabei die eigene Verletzlichkeit zu verdrängen und eine Illusion oppositioneller Gemeinschaft zu stiften, macht die Anziehungskraft der Corona-Leugnerei aus.

Dass dieses verzerrte individualistische Freiheitsbild auch bei manchen Linken verfängt, ist Ausdruck der neoliberalen Hegemonie im Alltagsverstand. Obwohl die Ausbreitung des Virus täglich offen legt, dass wir über die gesellschaftlichen Ausbeutungsverhältnisse in äußerst enger – wenn auch fremdbestimmter – Beziehung zueinander stehen, fehlt hierfür jedes Bewusstsein. Ebenso dafür, dass dieses Beziehungsgeflecht die größte Machtressource der Ausgebeuteten ist, weil es sie in die Lage versetzt, durch gemeinsames Handeln den rücksichtslosen Normalbetrieb anzuhalten und eine Politik zu erzwingen, die, statt die Einzelnen zu gängeln, eine vorausschauende Pandemiebekämpfung betreibt und den Gesundheitsschutz an erste Stelle setzt.

Jan Ole Arps

ist Redakteur bei ak.