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Die andere Front

Nancy Pelosis Reise nach Taiwan kommt dem Versuch einer politischen Brandstiftung gleich

Von Hauke Neddermann

Nachtaufnahme auf einem Flugzeigträger. Zu sehen sind geparkte Flugzeuge auf einem Deck. Im hintergrund schlägt ein Blitz ins Meer.
Der »Schwenk nach Asien« als Spiel mit dem Feuer. Mehr als 80.000 US-Soldaten sind in Japan und Südkorea stationiert. Foto: US Navy / Flickr, CC BY 2.0

Droht der Welt der nächste heiße Krieg? Wie brenzlig die Lage in Ostasien ist, verrät sich in der Sprache: Seit dem Taiwan-Besuch der US-Politikerin Nancy Pelosi Anfang August ist viel von Feuer die Rede. »Wer mit dem Feuer spielt«, lässt Chinas Staatschef Xi Jinping verlautbaren, »wird sich verbrennen« oder gar, wenn es nach Xis Außenministerium geht, »darin umkommen«. Für Washington ist Pekings Reaktion aus Protesten, Sanktionen und Militärmanövern in Wort und Tat »überhitzt« und unnötig »explosiv«. Ob Explosion oder Steppenbrand: Wo zur Katastrophe bloß ein einziger Funke fehlt, war Pelosis Reise nichts anderes als der Versuch einer politischen Brandstiftung.

Der Brennpunkt Taiwan stellt sich aus chinesischer Sicht als Schnittpunkt kurz-, mittel- und langfristiger Entwicklungslinien dar. So ist, erstens, der seit den 1970er Jahren erprobte Status quo – eine faktische Unabhängigkeit Taiwans bei gleichzeitigem Verzicht, diese zu formalisieren – jüngst brüchig geworden. US-Präsident Joe Biden scheint von strategischer Doppeldeutigkeit noch weniger zu halten als Donald Trump. Gleich mehrfach spricht er, angeblich missverständlich, von einer US-amerikanischen »Verpflichtung zur Verteidigung Taiwans«. Hinzu kommt, zweitens, die geostrategische Bedeutung der Insel für den Weltantagonismus des 21. Jahrhunderts: Mit ihrer Militär-Hypermacht stehen die USA an der Spitze einer antichinesischen Allianz, deren strategisches Ziel – erdacht im Neokonservativismus der 2000er Jahre unter Bush Jr., umgesetzt per »Schwenk nach Asien« unter Obama und in konfrontativer Eskalation unter Trump, beschleunigt weiterverfolgt unter Biden – die geopolitische Einkesselung Chinas ist. Dessen Wiederaufstieg zur Weltmacht soll abgefangen werden. 

Chinesische Nationalist*innen hatten zu Beginn der Krise den Angriff auf US-amerikanische Schiffe im Südchinesischen Meer gefordert.

Hunderte US-Militärstützpunkte in den Nachbarstaaten und auf den Archipelen des Westpazifiks riegeln die Volksrepublik ein, mehr als 80.000 US-Soldaten sind in Japan und Südkorea stationiert. Qua Geografie kommt Taiwan, gelegen im Zentrum des Riegels, eine Schlüsselbedeutung zu. So wird die Insel zur Festung ausgebaut: Allein in den Jahren 2016 bis 2020 haben die USA Waffen im Wert von circa 16,7 Milliarden Dollar nach Taiwan geliefert, darunter F-16-Kampfflugzeuge, Abrams-Kampfpanzer, Harpoon-Raketensysteme und schwere Artillerie. 

Und schließlich ist Chinas Antwort auf die Taiwan-Frage, drittens, überdeterminiert durch kolonialzeitliche Erfahrungen und Traumata, die zu einem störrischen »Nie wieder« gewendet wurden, also zur geschichtsbewussten Unnachgiebigkeit gegenüber jeder (universalistisch bemäntelten) Infragestellung nationalstaatlicher Souveränität und Integrität durch auswärtige Mächte.

Mit Pelosis Visite wurde, in Pekings Wahrnehmung, nun endgültig der symbolische Meißel ans Fundament des bisherigen Arrangements gesetzt. Kaum eine rote Linie, die nicht demonstrativ überschritten worden wäre. Es war also absehbar, dass der Besuch eine neue Spirale aus Eskalation und Gegeneskalation in Gang setzen würde. Die Mahnungen des US-Außenministeriums, Peking solle »keine Krise fabrizieren«, sind deshalb wohlfeil. Manches spricht dafür, dass der eigentliche Zweck der Reise die Wiederholung einer US-amerikanischen Erfolgsgeschichte unter umgekehrten Vorzeichen ist: In den 1970er Jahren wurde China aus dem östlichen Block herausgeeist, um diesen zu schwächen – derzeit wird alles getan, um China in einen östlichen Block hineinzudrängen, als aus Weltordnung und Globalisierung ausgestoßener Schurkenstaat an der Seite Russlands. Des chinesischen »Systemkonkurrenten« hätte man sich so endlich entledigt. 

Für den Moment scheint es, als habe Peking das Zuschnappen der Falle vermeiden können. Ausgemacht war das nicht. In Internetforen hatten chinesische Nationalist*innen zu Beginn der Krise den Angriff auf US-amerikanische Schiffe im Südchinesischen Meer gefordert, den Abschuss von Pelosis Flugzeug, die Bombardierung Taiwans. Militärnahe Zeitungen hatten scharfe Vergeltungsmaßnahmen gefordert. Eine, womöglich dauerhafte, See- und Luftblockade Taiwans stand im Raum. Auch die chinesische Staatsführung agiert nicht jenseits der Öffentlichkeit. 

Der Funke war da. Die Explosion ist ausgeblieben, ebenso der Steppenbrand. Ob sich, irgendwo unter der Oberfläche, aber ein kriechender Schwelbrand entwickelt hat, bleibt abzuwarten. Auch ein solcher kann Furchtbares anrichten.

Hauke Neddermann

ist Sinologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Institut für kritische Theorie (InkriT).