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Multipolare Weltunordnung

Der Ukraine-Krieg ist kein lokaler Konflikt, sondern Ausdruck einer globalen Krise

Von Hanna Perekhoda

Zerstörte Straße nach einem Bombenangriff, ausgebrannte Autos und Gebäude, im Vordergrund Schutt
Zerstörte Straße in der Innenstadt von Kharkiv nach Beschuss durch das russische Militär am 1. März 2022. Foto: Міністерство внутрішніх справ України / Wikimedia Commons / Facebook , CC BY 4.0

Der russische Krieg in der Ukraine geht in sein drittes Jahr. In den westlichen Gesellschaften wächst die »Ukraine-Kriegsmüdigkeit«, heißt es in den Medien. Aber keine Gesellschaft dieser Welt ist dieses Krieges müder als die ukrainische. Acht von zehn Ukrainer*innen geben an, durch die russische Invasion ein Familienmitglied oder eine*n enge*n Freund*in verloren zu haben. Die Kosten des Krieges, die von den einfachen Menschen in der Ukraine getragen werden, steigen von Tag zu Tag. Doch zugleich wächst auch der Wunsch, die Entscheidung, die die ukrainische Gesellschaft am Tag des russischen Angriffs traf, zu bekräftigen. Als alle davon ausgingen, dass die Ukraine keine Chance gegen die russische Armee haben werde, griffen viele Männer und Frauen zu den Waffen, um ihr Recht zu verteidigen, als Gesellschaft zu existieren, in der es möglich ist, Bürger*in statt Leibeigene*r zu sein. Dieses Recht, das in Westeuropa (fälschlich) als gegeben betrachtet wird, muss in vielen Teilen der Welt immer noch verteidigt werden.

Die Krise der internationalen Sicherheit, die sich nach der russischen Invasion in der Ukraine weiter verschärft hat, führt bereits überall zum Ausbruch von Konflikten – von Armenien bis Palästina.

Man muss die Ukraine und ihre Bewohner*innen nicht romantisieren, um den von ihnen geführten Kampf zu unterstützen. Probleme wie die anhaltende Korruption und die wachsende soziale Ungleichheit sind mit dem Beginn der russischen Invasion nicht verschwunden. Was zählt, ist jedoch, dass Ukrainer*innen das Projekt einer Zukunft verteidigen, in der Wandel möglich ist: ein Staat mit freier Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, freien Wahlen und unabhängigen Gerichten, der grundlegende Rahmenbedingungen für jeden politischen und sozialen Kampf darstellt. Auch Russland hat ein Projekt: eine Welt, in der soziale Kämpfe keine Chance auf Erfolg haben. Dieses Ideal des auf ewig gestellten sozialen Friedens wurde Syrien, Belarus und Kasachstan bereits mit Hilfe russischer Waffen und Söldner aufgezwungen. Der Kreml behauptet, eine »multipolare Weltordnung« zu schaffen; in der jede selbsternannte Großmacht ihre eigene exklusive Einflusszone hat, in der sie Bevölkerung und Natur ungestraft ausbeuten kann, ohne sich an internationale Normen und Regeln halten zu müssen. Putin arbeitet an einer rechten Internationale, in der sich Politiker*innen zusammenschließen, denen es nichts ausmacht, internationale Mechanismen zu zerstören, um dieses Ziel zu erreichen. 

Die Krise der internationalen Sicherheit, die sich nach der russischen Invasion in der Ukraine weiter verschärft hat, führt bereits überall zum Ausbruch von Konflikten – von Armenien bis Palästina. Die Vereinten Nationen sind nicht in der Lage, sinnvolle Antworten hierauf zu geben, da sie durch die Vetos der »Großmächte« blockiert werden. Diese Unfähigkeit führt insbesondere im Globalen Süden zu einer Vertrauenskrise in Normen und Grundsätze, die eigentlich universell sein sollten. Die angemessene Reaktion darauf wäre, für die Universalität von Normen zu kämpfen sowie für Universalität der Sanktionen bei Verletzung dieser Normen – nicht für ihre Relativierung und die letztendliche Abschaffung des Universalismus. Die gravierenden Folgen der entstehenden Multipolarität, die sich in Kriegen und Völkermorden äußert, werden in erster Linie an der Peripherie des globalen kapitalistischen Systems zu spüren sein: an Orten, die ständig von der Eroberung durch ein revanchistisches Imperium oder einen völkischen Nationalstaat bedroht sind. 

Solidarität mit der Ukraine sollte in diesem Sinne keine moralische Frage sein, sondern die rationale Antwort für alle, denen unsere gemeinsame Zukunft am Herzen liegt. Das Schlimmste, das man als Bürger*in eines westlichen Landes tun kann, ist zu glauben, man könne Putin einen Teil der Ukraine überlassen und dann weitermachen wie bisher: mit Autokraten Handel treiben, konsumieren und Spaß haben. Zu meinen, dass es eine lokale Lösung für eine mittlerweile globale Krise geben könnte, ist eine mindestens unverantwortliche politische Naivität, im schlimmsten Fall eine bewusste Entscheidung für die Herrschaft des Stärkeren.

Hanna Perekhoda

ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Lausanne und aktiv im European network for solidarity with Ukraine. Sie stammt aus Donetsk.