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Die Attentate von Paris

Nach den Morden an drei Kurd*innen in Frankreichs Hauptstadt ist die Wut groß und die Liste der offenen Fragen lang

Von Fabian Priermeier

Man sieht fünf Personen, die nebeneinander auf einer Demonstration mit laufen. Vier von ihnen tragen eine Binde in den französischen Farben.
Abgeordnete des französischen Parlaments beim Gedenken an die vor zehn Jahren in Paris ermordeten Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez, das unter dem Eindruck der Morde an drei Kurd*innen am 23. Dezember 2022 stand. Foto: Civaka Azad

Es war der Mittag vor Weihnachten, der 23. Dezember 2022, kurz vor den lang ersehnten Ferien, als zunächst in kurdischen Nachrichtenagenturen, später auch in der internationalen Presse folgende Meldung erschien: »Eilmeldung: Schüsse in Paris gefallen.« Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht. Es hatte einen Angriff auf kurdische Strukturen in Paris gegeben. Schon wieder. Was war geschehen?

Der 69-jährige Franzose William M. war elf Tage zuvor frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden, nachdem er wegen eines rassistischen Übergriffs mit einem Säbel auf Geflüchtete verhaftet und verurteilt worden war. Er nutze die elf Tage, um einen gezielten Anschlag auf die kurdische Frauenbewegung vorzubereiten. Schließlich wurde William M. mit einem Auto am frühen Mittag des 23. Dezember in die Rue d’Enghien im Zentrum des 10. Arrondissement von Paris gefahren. Er zog eine Pistole und schritt zielgerichtet auf das kurdische Kulturzentrum Ahmet Kaya zu. Dort sollte in diesem Moment das letzte Vorbereitungstreffen der Kurdischen Frauenbewegung in Frankreich (TJK-F) vor den Protesten anlässlich des zehnten Jahrestages der Ermordung von Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez beginnen. Was Wiliam M. jedoch nicht wusste: Die Sitzung war aufgrund von technischen Problemen im ÖPNV spontan um über eine Stunde nach hinten verlegt worden. Er traf am Eingang auf Abdurrahman Kızıl und erschoss ihn unvermittelt.

Wer waren die Opfer?

Dieses erste Opfer war ein über 60-jähriger kurdischer Aktivist, der sich seit Jahrzehnten politisch engagierte und nahezu täglich Gast des Kulturzentrums war. Die ihm zur Hilfe eilende Evîn Goyî wurde von den folgenden Schüssen von William M. getroffen. Sie war eines der zentralen Mitglieder der kurdischen Frauenbewegung, hatte jahrelang gegen den IS gekämpft und war maßgeblich am Aufbau der Selbstverwaltung êzidischer Strukturen nach dem IS-Genozid beteiligt. Aufgrund von gesundheitlichen Problemen war sie 2019 in Richtung Europa aufgebrochen und lebte seither in Paris. Sie blieb nach den Schüssen am Boden liegen, woraufhin sich der Attentäter Mîr Perwer zuwandte. Dieser lebte erst seit Kurzem in Frankreich. Er musste aufgrund seines Engagements für die Demokratische Partei der Völker (HDP) die Türkei verlassen und in Europa Zuflucht suchen. Er war zudem als begnadeter Musiker in der kurdischen Kulturbewegung Tev-Çand aktiv. Nachdem auch er von den Schüssen William M.’s getroffen zusammenbrach, wandte dieser sich kurz ab, kehrte jedoch zurück und feuerte erneut auf die am Boden liegende Evîn Goyî. Nun wechselte M. die Straßenseite und feuerte auf das von Kurd*innen geführte Avesta-Café, wobei glücklicherweise niemand verletzt wurde. Zuletzt machte sich M. auf den Weg, an mehreren Läden vorbei, zu einem kurdischen Friseursalon, eröffnete das Feuer und betrat so den Laden. Drei Menschen verletzte er dabei, einen von ihnen schwer. Den Angestellten gelang es jedoch, William M. die Waffe abzunehmen und ihn am Boden zu fixieren. Sie warteten 40 Minuten, bis endlich Rettungswagen und Polizei eintrafen, die den Tatort sicherte und den überwältigten Täter festnahm. In der Zwischenzeit waren Abdurrahman, Evîn und Mîr bereits ihren Wunden erlegen. Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Krankenhaus wurde William M. in eine psychiatrische Station der Polizeipräfektur statt ins Gefängnis oder zum Verhör gebracht.

Protest und Trauer

Noch am selben Tag begaben sich etliche Menschen auf den Weg nach Paris, um dort zu trauern. Was geschehen ist, war ein gezielter Angriff, der sich gegen die gesamte kurdische Gesellschaft gerichtet hat, und so wurde er auch aufgefasst. Am darauffolgenden Tag kamen Tausende Menschen aus ganz Europa zusammen, um zu trauern, aber auch, um lückenlose Aufklärung zu fordern. Letzteres sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Doch die Erfahrungen bei Attentaten auf Kurd*innen in Europa beweisen leider eher das Gegenteil. Die Proteste in Paris am Folgetag des Anschlags standen dann auch im Zeichen der Wut. Der Kurdische Demokratische Rat Frankreichs (CDK-F) hatte explizit zu friedlichen Protesten ausgerufen. Doch es kam zu einer gezielten Provokation durch türkische Faschist*innen: Ein weißer Kleinbus fuhr mit langsamer Geschwindigkeit durch die Kundgebung am zentralen Place de la République. Einer der Insassen streckte seine Hand aus dem Fenster und zeigte den so genannten Wolfsgruß der Grauen Wölfe. Es ist ein Zeichen ultranationalistischer Türk*innen und Symbol der Feindseligkeit gegenüber Kurd*innen. In der Folge kam es zu Auseinandersetzungen. Das eskalative Auftreten der Polizei trug ihr Übriges zu den Szenen bei, die eigentlich vermieden werden sollten. Der kurdische Dachverband CDK-F distanzierte sich später von den Ausschreitungen.

William M. griff gezielt drei kurdische Orte an, die nicht nebeneinander liegen – reiner Zufall, so die Polizei.

Während Trauer und Wut in Paris groß waren, fanden gleichzeitig auch in ganz Europa über Tage hinweg Trauerveranstaltungen, Kundgebungen und Demonstrationen statt. Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Textes wird bereits die Gedenkzeremonie am 3. Januar in Paris stattgefunden haben, bei der von den drei Getöteten Abschied genommen wurde. Am 7. Januar folgte die Gedenkdemonstration anlässlich des zehnten Jahrestages des (ebenfalls Pariser) Attentats auf die drei führenden Frauen der kurdischen Frauenbewegung Sakine Cansız, Leyla Şaylemez und Fidan Doğan. Diese Gedenkdemonstration stand unter dem Motto »Staatsgeheimnis aufheben, zehn Jahre Straffreiheit beenden!«.

Kurdische Verbände und einzelne Aktivist*innen veröffentlichten bereits in den Tagen nach dem Attentat Texte, in denen sie die vielen offenen Fragen zusammengefasst haben. Ich möchte an dieser Stelle vor allem folgende zwei zentralen Fragen aufgreifen: Wie konnte William M. seine Tat planen und durchführen? Wieso wird der Anschlag lediglich auf die Tat eines verrückten Rechtsextremisten reduziert?

William M. und seine Gesinnung waren bekannt. Er wurde nur elf Tage vor der Tat entlassen und sollte polizeilich bewacht werden. Dasselbe gilt übrigens auch für die Rue d’Enghien und insbesondere für das dortige kurdische Kulturzentrum, die sonst stets unter Beobachtung französischer Sicherheitskräfte stehen. Trotzdem soll William M. angeblich seine Tat allein geplant und sich selbst innerhalb dieser kurzen Zeit eine Waffe organisiert haben. Die Person, die ihn zum Tatort gebracht hat, sei unbekannt und habe mit der Tat nichts zu tun, heißt es seitens der französischen Ermittler*innen. Dass William M. seinen Angriff ausgerechnet zur Zeit der geplanten Sitzung startete und drei kurdische Orte in der Straße angriff, die sich nicht direkt nebeneinander befinden, sei ebenfalls reiner Zufall. Behauptet wird, dass er ein verrückter Rechtsextremist sei, der Ausländer*innen hasse und schon immer Ausländer*innen habe töten wollen. Konstruiert wird ein so genannter »Einzelfall«.

Berechtigte Zweifel

Selbst wenn wir die ganzen offenen Fragen beiseitelassen würden, sollte eine kurze Beschäftigung mit Praxis und Geschichte des türkischen Geheimdienstes MİT ausreichen, um an der uns präsentierten Erzählung zu zweifeln. Denn der MİT hatte vor fast genau zehn Jahren, am 9. Januar 2013, ebenfalls in Paris drei kurdische Revolutionärinnen kaltblütig ermorden lassen. Der mutmaßliche Täter Ömer Güney war erst wenige Monate vor der Tat nach Paris gekommen und stand über E-Mail sowie durch Besuche in der Türkei in direktem Austausch mit dem MİT. Wenige Tage nach dem Attentat wurde Güney festgenommen und langsam gelangten die Hintergründe der Tat an die Öffentlichkeit. Der Gerichtsprozess gegen Güney sollte eigentlich 2017 starten, doch dazu kam es nie. Knapp einen Monat vor Verfahrensbeginn verstarb der dringend Tatverdächtige unter mysteriösen Umständen in Haft. Danach sollte die Tat zu den Akten gelegt werden.

Zur Wiederaufnahme der Ermittlungen in Paris führte ein weiterer, dieses Mal vereitelter Mordanschlag des türkischen Geheimdienstes. Nach Hinweisen kurdischer Organisationen wurden in Belgien drei Personen festgenommen, die ein Attentat auf den kurdischen Politiker Remzi Kartal geplant haben sollen. Die festgenommenen, im Mai 2022 allerdings freigesprochenen Beschuldigten sollen zu einem Personenkreis gehören, dessen Aktivitäten von einem hochrangigen türkischen Diplomaten aus Paris koordiniert werden. Möglicherweise wurde auch Güney von derselben Person gelenkt. Trotz aller Indizien ist der Anschlag auf Sara, Rojbîn und Ronahî bis heute nicht aufgeklärt und das Attentat zum Staatsgeheimnis erklärt worden. Die Befürchtungen sind groß, dass die französischen Sicherheitsbehörden den jüngsten Angriff in ähnlicher Weise verschleppen werden. 2013 wurde versucht, das Attentat auf die drei kurdischen Frauen zu einem »internen Säuberungsakt« innerhalb der kurdischen Freiheitsbewegung zu erklären. Jetzt wird uns die Geschichte von einem »rassistischen Einzelfall« vorgesetzt. Wenn wir etwas aus dem Umgang Frankreichs mit diesen politischen Attentaten auf Kurd*innen gelernt haben, dann, dass wir ihren Behörden nicht trauen können.

Fabian Priermeier

ist Mitarbeiter des kurdischen Zentrums für Öffentlichkeitsarbeit – Civaka Azad e.V.