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Mitte in Seenot

Mit dem neuen Kurs in der Migrationspolitik reihen sich fast alle Parteien in eine Rechtsfront ein

Von Lene Kempe

Annalena Baerbock, Saskia Esken, Robert Habeck, Olaf Scholz und Christian Lindner stehen für ein gemeinsames Foto in einer Reihe vor einer grauen Wand. Sie haben gerade den Koalitionsvertrag der Ampelregierung unterschrieben
Nach vielen Streitereien ziehen die Ampel-Parteien, hier bei der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages im Dezember 2021, beim Thema Migration nun mit vereinten Kräften an einem Strang: nach rechts. Foto: Sandro Halank/Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

So schnell, wie Vertreter*innen fast aller Parteien in den vergangenen Wochen ihre humanistischen Prinzipien über Bord geworfen haben, konnte man kaum Nachrichten lesen. Vor und nach den Wahlen in Bayern und Hessen gaben sich CDU, CSU, FDP, SPD und die Grünen einem Überbietungswettbewerb in Sachen »deutsche Wähler*innen first« hin. AfD-Anhänger*innen fürchten sich laut Umfragen zuallererst vor zu viel Migration, also fordern nicht nur die Christdemokrat*innen und Liberalen, sondern auch Grüne und SPD mehr Abschiebungen, mehr Härte in der Asylpolitik der EU, die Anerkennung von weiteren Ländern als sichere Drittstaaten, zuletzt auch Sach- statt Geldleistungen und einen Arbeitszwang für hier ankommende Migrant*innen.

Die Logik dahinter ist so einfach wie absurd, als könnte man stabile rassistische Einstellung oder Ängste vor dem Verlust des eigenen Wohlstandes einfach abspalten und mit den Menschen, auf die sie projiziert werden, hinter EU-Stacheldrahtzäunen parken. Und als würden AfD-Wähler*innen danach sogleich den Klimaschutz für sich entdecken und ihr Häkchen bei der Öko-Partei setzen.

Als könnte man stabile rassistische Einstellung einfach abspalten und mit den Menschen, auf die sie projiziert werden, hinter EU-Stacheldrahtzäunen parken.

Das Einknicken fast aller politischen Entscheidungsträger*innen vor der rassistischen Hetze von Chrupalla, Weidel und Co. hat dramatische Konsequenzen vor allem für die vielen Menschen, die aktuell vor Krieg, politischer Verfolgung, Hunger oder Klimakrisen fliehen. Ihnen wird nun jeder einzelne Schritt in Richtung eines Lebens in Sicherheit und Würde erschwert. Anstatt legale Fluchtwege zu schaffen, sollen diese noch gefährlicher werden, und die Lebensumstände im Zielland noch feindseliger.

Die Parteien der Mitte haben sich mit der AfD, aber auch mit den ultrarechten EU-Regierungen in Italien, Polen oder Ungarn in eine stabile Rechtsfront in der Migrationspolitik eingereiht. Der Sound dieser Front ist schrill. Alle möglichen rassistischen Stereotypen werden wieder hervorgekramt, von Schlepperbanden über Clankriminalität bis zum seit Jahren gern gebrauchten Narrativ der »Flucht in die Sozialsysteme«.

Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz fabulierte von Asylbewerber*innen, die sich »in Deutschland die Zähne machen ließen«. Sogar die konservative FAZ fühlte sich da bemüßigt, die hochkochende Debatte zu korrigieren. Ob der Sozialstaat und entsprechende Geldleistungen wirklich ein entscheidender »Pull-Faktor« für Migration sind, da sei die Studienlage nicht so eindeutig. Und wenn Menschen dazu befragt würden, was ihnen im Zielland ihrer Flucht am wichtigsten sei, so antworteten diese zuallererst »Rechtsstaatlichkeit und Humanität, dann das Bildungssystem und das Gefühl, willkommen zu sein«. Genau das wollen Grüne, FDP, CDU/CSU und SPD nun mit vereinten Kräften verhindern. Um die eigenen schmalen Machtoptionen angesichts des Siegeszugs der AfD zu sichern. In einer Weltlage, in der Humanismus und Solidarität notwendiger sind denn je, ist der politischen Mitte ihr moralischer Kompass endgültig verloren gegangen.  

Lene Kempe

ist Redakteurin bei ak.