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Kein Entkommen vor der Armee

In Israel weicht das zivilgesellschaftliche Leben der Kriegslogik – Linke sollten sich dem verweigern

Von Ido Nahari

Bild einer Umkleidekabine. Drei israelische Soldaten passen ihre neue Uniformen an. Der Soldat in der Mitte steht und schaut in die Kamera.
Eine Gesellschaft unter Waffen: Alles und jede*r muss sich hier in die militärische Logik einpassen. Foto: Israel Defense Forces / Wikimedia, CC BY-SA 2.0 Deed

In Israel gibt es einen weit verbreiteten Irrglauben unter den Linksliberalen und der extremen Mitte. Demnach sei es tatsächlich möglich oder sogar wünschenswert, sich freiwillig zum Militärdienst zu melden. Ziel ist es dort zu versuchen, das von Natur aus gewalttätige System von innen heraus zu verändern. Ein Blick auf die Ereignisse der letzten drei Monate sollte jedoch mit dem erschöpfenden und akzeptierten Mantra aufräumen, dass es besser sei, mit aufgeklärten Soldat*innen in den Kampf zu ziehen. Also Kämpfer*innen, die moralische Regeln hochhalten, während sie an jedem Kontrollpunkt und Wachturm geografische Grenzen durchsetzen. Aber effektiv ist der Militärdienst nur dann, wenn er entmenschlicht. Ein Blick auf Kriegsaufnahmen aus dem Gazastreifen macht deutlich, wie und warum. Die israelischen Soldat*innen, die in Gaza einmarschieren, bilden einen Flickenteppich aus manischem Patriotismus und Glorifizierung. Dieser Krieg, der jetzt vor dem Internationalen Gerichtshof als Völkermord gegen das palästinensische Volk verhandelt wird, zeugt von einem tiefen moralischen Elend, das über den erwartbaren und üblichen nationalistischen Chauvinismus hinausgeht. Es gibt Bilder von israelischen Soldat*innen, die in dezimierten palästinensischen Stadtvierteln Comedy-Shows aufführen. Sie singen Lieder und reißen Witze. Sie halten Gewehre in den Händen und schwenken Pride-Flaggen, auf denen steht, dass die Belagerung des Gazastreifens im Namen der Liebe geschehe. Soldat*innen, die versuchen, den Krieg erträglicher zu machen, indem sie ihn ihrem Alltag angleichen, banalisieren, beides: Die Dezimierung ist nun ein Teil des Lebens und die rohe Gewalt wird Teil des kreativen Ausdrucks.

Locked and loaded

Auch fernab der Außenposten und illegalen Sicherheitsmauern ist die Militarisierung des Lebens in den israelischen Städten allgegenwärtig. Supermärkte verkaufen überteuerte landwirtschaftliche Produkte als Ausdruck des nationalen Stolzes. Und das, obwohl die meisten Feldarbeiter*innen aus Südostasien stammen, wie die siebzehn thailändischen Staatsangehörigen, die während der Angriffe von der Hamas vom 7. Oktober, bei denen über tausend israelische Zivilist*innen getötet und über zweihundert weitere Personen entführt wurden. Das heißeste Modeaccessoire in israelischen Supermärkten ist eine Imitation einer militärischen Erkennungsmarke mit einer Gravur, die versichert: Unsere Herzen sind mit den Soldat*innen. In einer militarisierten Gesellschaft sind Kultur und Markt untrennbar mit dem Krieg verbunden.

Mitverantwortlich dafür ist die gelockerte Zulassung von Schusswaffen durch das Innenministerium unter der Führung des Siedlers Itamar Ben-Gvir, der einst von einem israelischen Gericht als Unterstützer einer jüdischen terroristischen Organisation verurteilt wurde. Überall sind Gewehre zu sehen, ob in den Städten, auf dem Land oder in den Siedlungen, an überfüllten Stränden oder im Nachtleben. In einer verdrehten Art und Weise ist die Aufgabe des Staates, die Bürger*innen zu schützen, privatisiert worden. Die Waffen sind geladen. Immer.

Die Ausbreitung des Militärs in jeden Winkel der israelischen Gesellschaft hat zur Folge, dass ohne Krieg große Teile der Kultur und Identität des Landes nicht mehr existieren würden: Es gibt Hochzeiten in Militärbasen, Eltern, die bei der Geburt ihrer Kinder Khaki-Uniformen tragen, auf Tik-Tok viral gegangene tanzende Soldat*innen und andere, die sich dabei filmen, wie sie Spielzeugläden in Gaza demolieren. Flaggen und kämpferische Mantras überfluten öffentliche Räume von Tel Aviv bis Jerusalem, vom Klassenzimmer bis zum Werbespot. Anstatt das die Militarisierung als bürokratisches Monstrum erlebt wird, ist der Militärdienst nun ein bewundernswerter Sympathieträger, gerade weil alle Teil seiner Funktionslogik sind. Sie sind da, um uns zu schützen. Wir alle sind Soldat*innen, ob wir es wollen oder nicht.

Militarisierung beschränkt sich nicht auf die allgemeine Wehrpflicht oder auf ein robustes Knowhow in diesem Bereich. Wenn das der Fall wäre, wäre die Schweiz absolut bedrohlich. Vielmehr hält sie alle Industrien, Lebensgewohnheiten, und das soziale Verhalten im Würgegriff und absorbiert sie in den Militärapparat. Das gibt es auch anderswo: Ich erinnere mich daran, was vor zwanzig Jahren als romantisch galt; Dokus zeigten US-Marines, die aus dem Irak zurückkehrten und die bei ihrer Rückkehr von ihren Partner*innen mit Küssen überschüttet wurden. In Großbritannien feiern einige Zeitungen jährlich den Remembrance Day zum Gedenken an das Ende des Ersten Weltkriegs, zu denen auch die Feier zum Waffenstillstand gehöre. Die gleichen Zeitungen, die darüber berichten, distanzieren sich wiederum von den Protesten gegen einen Waffenstillstand in Israel und Palästina. In einer militarisierten Gesellschaft wird Geschichte an der Zeit zwischen Kriegen gemessen. Während die vierziger Jahre für die meisten Europäer*innen nichts anderes ist als der Zweite Weltkrieg und die sechziger für die meisten Amerikaner*innen vom Vietnamkrieg geprägt sind, durchleben die Israelis eine lange Periode der Gaza-Kriege.

Eine militarisierte Gesellschaft behandelt Soldat*innen als Opfer und verstümmelte Kinder als Kollateralschaden. Während es allgemein bekannt ist, dass der Staat eine Struktur ist, die ein Gewaltmonopol besitzt, beugt sich dieses Diktum in einer militarisierten Gesellschaft: Alle, die sich mit dem Staat identifizieren, haben das Recht, in seinem Namen Gewalt auszuüben. Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass diejenigen, die Gewalt als diplomatische und politische Lösung ablehnen, als Verräter*innen gelten. In einer solchen Gesellschaft ist Gewalt keine schmerzhafte Kraft, sondern eine natürliche und respektierte Form des Ausdrucks.

Es gibt auch berufliche Gründe, den Streitkräften beizutreten. Das soziale Kapital und die Aussicht auf faire Arbeitsbedingungen erstrecken sich über die gesamte militärische Hierarchie. Soldat*in zu sein, bedeutet meistens finanzielle Sicherheit, einen besseren sozioökonomischen Status, Zugang zu einflussreichen Menschen und einen erfüllenden Job. Letztlich bedeutet es eine zunehmende Präsenz des Militärs in allen Bereichen des zivilen Lebens.

Der Weg in die Alternativlosigkeit

In Israel wird die Besatzung auch in der Unterhaltung thematisiert: Es gibt Fernsehshows, Blockbuster sowie Musik, die die Gefallenen beklagt, Bücher, Gedichte und Theateraufführungen, die die Streitkräfte ehren. Spielzeugsoldaten sind beliebte Geschenkideen, im Fernsehen führen Nachrichtenkorrespondenten live im Fernsehen Gewehre vor. Das zieht eine stupide Verinnerlichung nach sich, die dazu führt, dass jede Form von Talent, Mitgefühl, Kreativität und empathischer Fähigkeit militärisch nutzbar sein muss, um als wertvoll zu gelten. Intelligente Teenager sehnen sich danach, später Militärsprecher*innen zu werden. Andere, mit einem Talent für Pflege, wollen Feldsanitäter*innen werden und die Wunden derer heilen, die anderen welche zufügen.

Da in einer militarisierten Gesellschaft die Armee Normen setzt, die die Werte und die Moral der Gesellschaft bestimmen, dringt sie auch in unsere Fantasien, Ambitionen und Träume vor. Das Militär wird Teil unserer Entscheidungsprozesse und beeinflusst unser emotionales Denken. Es entwickelt unsere Fähigkeiten und formt unsere Identität. Wenn wir auf unsere Dienstjahre zurückblicken, dann ist es nicht anders, als sich an die Schulzeit zu erinnern. Die Zeit in der Armee wird Teil unserer inneren Welt, weil wir uns darauf einlassen, an der Zerstörung der äußeren teilzunehmen.

Wenn man die Handlungslogik des Krieges unterstützt, wird er unausweichlich.

Aus diesem Grund können Israelis wie ich nicht mehr zwischen unserem Privatleben und nationalen Bestrebungen unterscheiden. Eine wirkliche Möglichkeit, zivile Alternativen zu schaffen, wird ausgelöscht. Und das ist die wahrscheinlich wichtigste Komponente des militärisch-ideologischen Komplexes. Der Militarismus verschlingt selbst die Fantasie. Wenn man die Handlungslogik des Krieges unterstützt, wird er unausweichlich. Deshalb hat sich das Gerede von der Alternativlosigkeit der Invasion Gazas in den letzten drei Monaten auf beängstigender Weise verfestigt.

Es ist deshalb leider wenig überraschend, dass den Antikriegsdemonstrant*innen, die die Tötung israelischer und palästinensischer Kinder verurteilten, entgegnet wird: Wir wollen Menschen schützen und so unser Land retten. Ironischerweise erkennen die Demonstrant*innen nicht, dass eine solche Antwort eben die Wurzel des Übels ist. Dass die Humanisierung eines Nationalstaats die Entfremdung menschlichen Lebens bedeutet. In allen Kriegen haben wir die Wahl und die Verantwortung, einen Geist der Veränderung zu schaffen. Sich eher dem Schutz des menschlichen Lebens zu widmen als der Anbetung politischer Strukturen. Dazu müssen wir uns von den Denkmustern befreien, die die bestehenden Gewaltmechanismen als geeignete Mittel zur Erreichung geistiger, sozialer, beruflicher oder politischer Ziele betrachten. Das zerrüttete zivilgesellschaftliche System muss wieder auf die Beine gestellt werden, aus ihm müssen empathische, wohlwollende Instanzen hervorgehen, die keinen Unterschied mehr zwischen Palästinenser*innen und Israelis machen. Wenn es uns bisher nicht gelungen ist, das militärische System von innen heraus zu verändern, dann müssen wir eben ein neues ohne Militär aufbauen.

Ido Nahari

ist Autor und Forscher. Er promoviert derzeit in Soziologie an der EHESS Paris.

Übersetzung: ak