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Nicht länger warten

USA: Der Krieg gegen die Schwarze Unterklasse

Von Robin D. G. Kelly

»Hands up! Don‘t shoot« Protestierende in Ferguson, Missouri, am 14 August 2014. Foto: Jamelle Bouie / Flickr, CC BY 2.0

Warte. Geduld. Bleib ruhig. »Dies ist ein Land, das es jeder und jedem erlaubt, ihre beziehungsweise seine Meinung auszudrücken«, sagte der erste Schwarze Präsident. »Ein Land, das allen erlaubt, sich friedlich zu versammeln und gegen Handlungen zu protestieren, die sie für ungerecht halten.« Sprecht, aber stört nicht. Der Gerechtigkeit wird Genüge getan werden. Wir respektieren die Herrschaft des Gesetzes. Dies ist Amerika.

Wir haben alle auf die Entscheidung der Geschworenen gewartet, die meisten von uns nicht, weil sie eine Anklage erwartet hatten. Bezirksstaatsanwalt Robert P. McCullochs gewundenen Worte, die erklärten, wie die Geschworenen zu ihrer Entscheidung gekommen waren, glichen einer Siegesrede. Dass die Geschworenen nicht einmal für den geringfügigeren Anklagepunkt der fahrlässigen Tötung einen hinreichenden Verdacht fanden, ist eine erstaunliche Leistung angesichts der Erschießung eines unbewaffneten Teenagers, der seine Hände erhoben hatte und etliche Meter vom Polizisten entfernt stand.

4.799 Seiten Juryverhandlungen in 20 Minuten zusammenfassend gelang es dem Bezirksstaatsanwalt, die Integrität von Augenzeug_innen infrage zu stellen, die 24-Stunden-Berichterstattung und die sozialen Medien zu geißeln sowie angebliche Gewalt in der Nachbarschaft dafür verantwortlich zu machen, dass Mike Browns Leiche auf dem Gehweg erst am Morgen abgeholt wurde. McCulloch hat niemals in seinem Leben einen Polizisten angeklagt, warum sollten wir jetzt etwas anderes erwarten?

Einige haben vielleicht auf ein Wunder gehofft. Die weiße Bevölkerung in St. Louis und den anliegenden Gemeinden und im Bundesstaat Missouri nutzte die Wartezeit, um sich auf Krieg vorzubereiten. Anwohner_innen kauften zusätzliche Waffen und Munition, verbarrikadierten ihre Geschäfte, installierten Alarmanlagen und legten Wasser- und Essensvorräte an. Gouverneur Jay Nixon erklärte den Ausnahmezustand, beorderte die Nationalgarde herbei und ließ die staatliche Miliz für den Straßenkampf trainieren.

Tamir Rice, Tanisha Anderson, Aura Rain Rosser …

In der Zwischenzeit, während wir auf die Entscheidung der Geschworenen warteten, wurde ein zwölfjähriger Schwarzer Junge namens Tamir Rice von der Polizei in Cleveland erschossen, weil der Polizist Tamirs Spielzeugpistole für eine echte hielt.

Während wir warteten, nahmen Polizist_innen aus Cleveland der 37-jährigen Schwarzen Frau Tanisha Anderson, die an einer bipolaren Störung litt, das Leben. Die Polizei traf an ihrem Haus ein, nachdem Familienmitglieder den Notruf gewählt hatten, um ihr durch eine schwere Krise zu helfen. Aber anstatt sie mit Empathie zu behandeln, taten sie das, wofür sie ausgebildet sind, wenn sie mit Schwarzen Körpern in Schwarzen Nachbarschaften konfrontiert werden: Sie behandelten sie wie eine feindliche Kämpferin.

Als sie sich aufregte, rang ein Polizist sie zu Boden und fesselte sie mit Handschellen, während ein zweiter ihr »Gesicht auf den Boden drückte und ihr sein Knie für sechs bis sieben Minuten in den Rücken presste, bis ihr Körper erschlaffte«, wie es in einem Eintrag der Facebookgruppe »Justice for Tanisha Anderson« heißt. Schließlich hörte sie auf zu atmen. Die Polizei leitete keine lebensrettenden Maßnahmen ein, der Familie und Zeug_innen sagten die Polizist_innen, sie würde schlafen. Als der Krankenwagen 20 Minuten später eintraf, war Tanisha Anderson tot.

Während wir warteten, tötete die Polizei in Ann Arbor, Michigan, eine 49-jährige Schwarze Frau namens Aura Rain Rosser. Sie schwang ein Küchenmesser, als die Polizei, die wegen häuslicher Gewalt gerufen worden war, auftauchte. Obwohl ihr Freund, der die Polizei gerufen hatte, beteuerte, dass von ihr keine Gefahr für die Polizist_innen ausginge, eröffneten sie das Feuer.

Während wir warteten, gab ein Chicagoer Polizist einen tödlichen Schuss auf den 19-jährigen Roshad McIntosh ab. Mehrere Augenzeug_innen berichteten, dass McIntosh unbewaffnet war und den Polizisten auf Knien anflehte, nicht das Feuer zu eröffnen.

… Roshad McIntosh, Darrien Hunt, Dante Parker …

Während wir warteten, pumpten Polizist_innen in Saratoga Springs, Utah, sechs Kugeln in Darrien Hunt, einen 22-jährigen Schwarzen Mann, der sich wie ein Ninja gekleidet hatte und ein falsches Samuraischwert trug. Und die Polizei in Victorville, Kalifornien, tötete Dante Parker, einen 36-jährigen Schwarzen Mann und Vater von fünf Kindern. Er war auf seinem Fahrrad unterwegs; die Polizist_innen hielten Parker an, weil sie ihn des Einbruchs verdächtigten. Als er »unkooperativ« wurde, setzten sie wiederholt Taser ein. Er erlag seinen Verletzungen.

Während wir warteten, traf den 28-jährigen Schwarzen Mann Akai Gurley ein ähnliches Schicksal, als er die Treppe einer Sozialbausiedlung in East New York, Brooklyn, herunterging. Die Polizei war auf einer routinemäßigen Streife durch den Sozialbau. Der Polizist Peter Liang ging durch das dunkle Treppenhaus, die Pistole in der einen Hand, die Taschenlampe in der anderen, bereit, jede Bedrohung auszuschalten. Nach Aussage von Bürgermeister Bill DeBlasio und Polizeichef Bill Bratton war Herr Gurley ein Kollateralschaden. Entschuldigung hier, Entschuldigung da. Er hinterlässt eine zweijährige Tochter.

Während wir warteten, stoppten Polizist_innen in Los Angeles den 25-jährigen geistig behinderten Schwarzen Ezell Ford in seiner Nachbarschaft und erschossen ihn.

Und während wir warteten und warteten und warteten, heiratete Darren Wilson, erhielt weiterhin seinen Lohn, auch als er vom Dienst befreit war, außerdem mehr als 400.000 US-Dollar Spenden für seine »Verteidigung«.

… Akai Gurley, Ezell Ford

Die Entscheidung der Geschworenenjury überrascht die meisten Schwarzen Menschen nicht, denn wir warten nicht auf eine Anklage. Wir warten auf Gerechtigkeit oder – genauer gesagt – wir kämpfen für Gerechtigkeit.

Gouverneur Jay Nixon, Präsident Obama, Justizminister Eric Holder, die bürgerliche Presse und alle vom Staat eingesetzten Schwarzenführer_innnen ermahnen die Schwarze Bevölkerung, ruhig und friedlich zu bleiben, obwohl die Gewalt hauptsächlich von der Polizei ausgeht. Die Polizei erklärt, sie besetze die Straßen, um die Bevölkerung im Kampf gegen außer Kontrolle geratene (Schwarze) Kriminelle zu schützen. Deshalb behauptet sie stets, das Opfer als Angreifer zu beschreiben: Trayvon Martin benutzte den Bürgersteig als Waffe, Mike Brown seinen großen Körper. Ein Schritt nach vorn oder ein stechender Blick können eine unmittelbare Bedrohung darstellen.

Als die Vororte von Ferguson nach Mike Browns Tötung am 9. August explodierten, waren die Medien und die Führungsriege der Mitte besorgter darüber, den »Frieden« zu wahren und den Plünderungen Einhalt zu gebieten, als darüber, dass Darren Wilson frei und im bezahlten Urlaub war. Oder darüber, dass Mike Browns von Kugeln durchlöcherter, lebloser, blutender, kalter Körper viereinhalb Stunden auf der Straße lag, während die Totenstarre langsam einsetze – ein Kriegsverbrechen in Verletzung der vierten Genfer Konvention. Letztlich war es ein Akt der kollektiven Bestrafung. Die öffentliche Zurschaustellung des gefolterten Körpers sollte die ganze Community terrorisieren und gefügig machen und daran erinnern, was sie erwartet, wenn sie aus der Reihe tanzen. Früher nannte man das »Lynching«.

Vergangene und aktuelle Fälle von Polizeigewalt gaben Brown und Johnson gute Gründe, Wilson zu fürchten. Die Staatsanwaltschaft machte aus etwas, das wie ein begründeter Fall von Selbstverteidigung eines erschreckten und wütenden 18-jährigen Kindes aussah, einen »Mordversuch an einem Polizeibeamten«. Dass Wilson um sein Leben fürchtete, war alles, was er zur Rechtfertigung tödlicher Gewalt brauchte.

Ob wir es nun »Krieg gegen Drogen« nennen oder – wie die Malcolm X Grassroots Movement (MXGM) – »Operation Ghetto Storm«, wir haben es mit nichts weniger als mit einem permanenten Krieg des Staates und seiner privatisierten Verbündeten gegen eine mehrheitlich arme und marginalisierte Schwarze und Braune Arbeiterklasse zu tun. (1) Seit fünf Jahrhunderten entfaltet sich dieser Krieg, er reicht von Sklaverei und Imperialismus zu massiver systematischer Kriminalisierung. Krise, moralische Empörung, neoliberale Politik und Rassismus nähren ein bevölkerungspolitisches System, das auf Inhaftierung, Überwachung, Eindämmung, Befriedung, tödlicher Besatzung und plumper Tatsachenverdrehung basiert.

Krieg? Ja, Krieg

Die Schwarze Community von Ferguson und den angrenzenden Gemeinden erlebt diesen Krieg jeden Tag: in Form von Routinepolizeikontrollen, Geldstrafen für Ruhestörung (zum Beispiel bei lauter Musik), für Fahren ohne Fahrschein in der Stadtbahn, für nicht gemähten Rasen oder ungepflegte Immobilien, für unbefugtes Betreten von Grund und Boden, das Tragen von »saggy pants«, abgelaufene Führerscheine, das »Stiften von Unruhe« und vieles andere mehr. Wenn diese Strafen nicht bezahlt werden, können Gefängnisstrafen folgen, der Verlust des eigenen Autos oder anderer Sachwerte oder die »Inobhutnahme« der Kinder durch die Ämter.

Das Justizsystem ist dazu da, Strafen und Tribute einzutreiben, eine Art rassistische Steuer für arme Schwarze Bürger_innen und Angehörige der Schwarzen Arbeiterklasse. Im Jahr 2013 erließ das Amtsgericht Ferguson beinahe 33.000 Strafbefehle – bei einer Bevölkerung von knapp über 21.000. Auf diese Weise erwirtschaftete die Kommune etwa 2,6 Millionen US-Dollar an Einnahmen. 92 Prozent der Fahndungsanfragen in jenem Jahr und 86 Prozent der Verkehrskontrollen in Ferguson betrafen Schwarze Bürger_innen. Dies trotz der Tatsache, dass bei einem Drittel der kontrollierten Weißen illegale Waffen oder Drogen gefunden wurden, während nur einer von fünf Schwarzen verbotene Gegenstände bei sich hatte.

Das Justizsystem ist dazu da, Tribute einzutreiben, eine Art rassistische Steuer für arme Schwarze Bürger_innen und Angehörige der Schwarzen Arbeiterklasse.

Wenn der Auftrag der Polizei lautet, den Frieden zu wahren und die Bürger_innen zu schützen, sie stattdessen aber für eine regelrechte »Epidemie« gewaltsamer Todesfälle verantwortlich ist, spricht viel dafür, die Polizei komplett aus Schwarzen und Braunen Wohngebieten abzuziehen. Polizist_innen sind für den Kampf ausgebildet. Deshalb sind die Tötungen »unschuldiger« Schwarzer Männer in dunklen Treppenhäusern, Schwarzer Frauen mit Küchenmessern oder kleiner Jungen, die mit Spielzeugpistolen herumwedeln, keine Unfälle. Die Polizei patrouilliert in diesen Gegenden mit der Hand an der Waffe; hinter jedem Schatten lauern Verdächtige. Im Krieg heißt es töten oder getötet werden.

Angesichts der Weigerung des Bundesstaates Missouri, Darren Wilson für die Ermordung von Mike Brown anzuklagen, ist die Forderung nach einem – auch nur vorübergehenden – Rückzug der Polizei eine absolut vernünftige Forderung, vor allem, wenn sie von Menschen kommt, die von staatlicher Gewalt terrorisiert werden und deren Sicherheitsgefühl massiv verletzt ist. Die unterlassene Anklage entlastet die Polizei. So kann sie auf den legitimen Ausdruck der Wut und der Enttäuschung über das Versagen der Regierung dabei, Schwarzes Leben zu schützen und Gerechtigkeit herzustellen, mit gesteigerter Gewalt und Repression reagieren.

Den jungen Aktivist_innen in Ferguson von Hands Up United, Lost Voices, Millennial Acivists United, von der Organization for Black Struggle, der Don’t Shoot Coalition und vielen anderen ist klar, dass sie sich im Krieg befinden. Tef Poe, Tory Russell, Montague Simmons, Cheyenne Green, Ashley Yates und andere Schwarze Aktivist_innen in St. Louis und Umgebung haben nicht gewartet, dass es zu einer Anklage kommt. Sie haben sich organisiert. Genauso wie die Aktivist_innen aus Chicago, die Jugendlichen aus Los Angeles und die Hunderten Organisationen überall im Land, die gegen die tagtägliche Gewalt und Besatzung aufbegehren.

Sie erinnern uns nicht nur daran, dass Schwarze Leben einen Wert haben (»Black Lives Matter«) – das sollte selbstverständlich sein –, sondern dass Widerstand wertvoll ist. Widerstand ist wertvoll und notwendig, weil wir immer noch mit den Folgen von Siedlerkolonialismus, einem rassistisch organisierten Kapitalismus und dem Patriarchat zu kämpfen haben. Die jungen Menschen in Ferguson kämpfen weiter einen erbitterten Kampf. Sie kämpfen nicht nur um Gerechtigkeit für Mike Brown oder dafür, dem Amtsmissbrauch durch die Polizei ein Ende zu setzen. Sie kämpfen dafür, den Rassismus ein für allemal zu zerschlagen, das Imperium zu Fall zu bringen und den Krieg zu beenden.

Robin D. G. Kelly

Robin D. G. Kelly ist Historiker. Er lehrt an der University of California in Los Angeles.

Übersetzung: Philipp Dorestal und Jan Ole Arps. Der Artikel erschien

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Anmerkung:

1) Die Kategorisierung »Braun« ist im Deutschen wenig gebräuchlich. Im US-Kontext bezeichnet sie je nach Definition Menschen indischer, pakistanischer, arabischer und südostasiatischer Abstammung. In manchen Texten umfasst die Kategorie auch die hispanische Bevölkerung in den USA, in anderen ausdrücklich nicht. Trotz dieser Unklarheit (und anderer problematischer Implikationen) haben wir den Begriff in der Übersetzung beibehalten, weil er einen Unterschied zwischen den sozialen Realitäten der verschiedenen nicht-weißen Bevölkerungsgruppen deutlich machen soll.