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»Mehr Waffen bedeuten nicht mehr Sicherheit«

Der Greenpeace-Experte Alexander Lurz über angstgetriebene Aufrüstungsentscheidungen und das militärische Potenzial von Russland und Nato-Europa

Interview: Lukas Ondreka

von links nach rechts: Selenskyj, Trump und Vance auf Sesseln im Oval Office.
Okay, das Gespräch lief aus dem Ruder – aber die europäischen Reaktionen darauf ebenfalls. Foto: gemeinfrei

Die Nato ist Russland in fast allen Bereichen weit überlegen – auch ohne die USA. Sagt eine Greenpeace-Studie. Warum wollen dann fast alle mehr aufrüsten, wenn es zur Abschreckung Russlands gar nicht nötig ist? Abrüstungsexperte Alexander Lurz hat eine Vermutung.

Der Konsens zurzeit lautet: Mehr Geld fürs Militär in Deutschland und Europa ist unerlässlich, um Russland wirksam abzuschrecken und sich von den USA unabhängiger zu machen. Ist das tatsächlich so – oder führt der militärische Zeitgeist zu mehr Unsicherheit?

Alexander Lurz: Vorab: Ich halte die Reform der Schuldenbremse in der jetzt erfolgten Form für demokratietheoretisch problematisch. In der Kürze der Zeit konnte die Ausnahme von Militär- und Sicherheitsausgaben von der Schuldenbremse nicht ausreichend diskutiert werden. Bei einer so weitreichenden Entscheidung ist das aber notwendig. Ich halte die Grundgesetzänderung aber auch inhaltlich für falsch. Warum? Seit Jahren wird laut Sipri-Institut immer mehr Geld für Rüstung ausgegeben, von regionalen Rüstungsspiralen war die Rede. Jetzt stehen wir an der Schwelle zu einer globalen Rüstungsspirale. Und das birgt Gefahren für die Stabilität. Mehr Waffen bedeuten nicht mehr Sicherheit. Dem Ganzen liegt ein verengter Sicherheitsbegriff zugrunde, ein auf das Militärische reduzierter. Ein breiterer Sicherheitsbegriff schließt ein, dass die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen befriedigt werden. Wenn aber immer mehr Geld ins Militär gesteckt wird, fehlt es für Bildung, Gesundheit, Klima und Soziales.

Wie erklärst du dir diese Entwicklung?

Seit der Vollinvasion Russlands in die Ukraine 2022 wird die gesamte Debatte von Angst und Panik beherrscht. In einem solchen Zustand trifft man keine rationalen Entscheidungen. Man kann die Situation mit der in den USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 vergleichen. So schockierend diese auch waren, die Reaktionen der USA waren völlig unverhältnismäßig. Die Invasionen in Afghanistan und im Irak, Guantanamo, der Drohnenkrieg und die Einschränkung der Freiheitsrechte standen in keinem Verhältnis zu den Anschlägen. Das Land war verunsichert, und in dieser Situation konnten diese radikalen Entscheidungen getroffen werden. In einer ähnlichen Situation befinden wir uns jetzt. Ein in der Tat schlimmes und aus dem Ruder gelaufenes Gespräch im Oval Office kann nicht ernsthaft als Begründung für eine so weitreichende Aufrüstungsentscheidung herangezogen werden. 

Reden wir über eure Studie: Was war der Anlass für diese?

Das war das Argument von Aufrüstungsbefürworter*innen, dass unter Willy Brandt mehr als drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Verteidigung ausgegeben wurden. Das ist faktisch richtig. Aber die Bedrohungslage im Kalten Krieg war eine ganz andere. Der Westen war viel kleiner und die Sowjetunion mit dem Warschauer Pakt viel größer. Deutschland war geteilt und die sowjetischen Truppen standen an der Elbe. Deshalb hinkt der Vergleich. Wir haben uns angesehen, wie das Kräfteverhältnis heute ist – zum einen zwischen Russland und der Nato insgesamt und zum anderen zwischen Russland und den Nato-Staaten ohne die USA. Im Gesamtvergleich zeigt sich eine enorme Überlegenheit – sei es beim Militärbudget, bei Großwaffensystemen, der Truppenstärke, militärischer Einsatzbereitschaft oder bei der Rüstungsbeschaffung und -produktion. Lediglich bei der Anzahl der Nuklearwaffen gibt es einen Gleichstand zwischen Nato und Russland.

Alexander Lurz

beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Aufrüstung und ist Abrüstungsexperte bei Greenpeace. Zusammen mit Christopher Steinmetz und Herbert Wulf hat er im Herbst die Studie »Wann ist genug genug? Ein Vergleich der militärischen Potenziale der Nato und Russlands« veröffentlicht. Sie kann auf der Seite von Greenpeace heruntergeladen werden. 

Und wie sieht es aus, wenn man den Vergleich ohne die USA vornimmt?

Selbst dann gibt es in vielen Teilbereichen noch eine große Überlegenheit Nato-Europas. Das betrifft vor allem die die Großwaffensysteme und die industrielle Basis für die Waffenproduktion. 

Schauen wir auf ein paar Details und Beispiele dieses Vergleichs.

Nehmen wir das Militärbudget, für das wir die Zahlen von 2023 zur Verfügung hatten. Das Militärbudget von Nato-Europa liegt bei 430 Milliarden US-Dollar, das von Russland bei 300 Milliarden. Und die russische Zahl ist bereits kaufkraftbereinigt, berücksichtigt also, dass man in Russland mehr für sein Geld bekommt. Bei den Kampfflugzeugen, Kriegsschiffen usw. gibt es eine enorme europäische Überlegenheit. Um nur wenige Zahlen zu nennen: Die europäischen Nato-Staaten verfügen über 2073 Kampfflugzeuge, Russland über 1026. Bei den Truppenstärken ist das Verhältnis ähnlich. Bei der militärischen Einsatzbereitschaft ist es schwieriger zu sagen, was die europäischen Staaten allein leisten können. Es gibt Beispiele aus der Vergangenheit, in denen viele Fähigkeiten fehlten. So haben Frankreich und Großbritannien beim Libyen-Einsatz 2011 nach wenigen Tagen gemerkt, dass sie den Krieg nicht ohne Hilfe der USA weiterführen können. Allerdings wird der Krieg Russlands in der Ukraine zwar brutal geführt, aber nicht effizient. Da ist keine Maschinerie ins Laufen gekommen, die durch nichts zu stoppen ist. Seit drei Jahren bietet eine eigentlich unterlegene Armee Russland erfolgreich die Stirn. Bei der Rüstungsproduktion zeigt sich, dass die Basis in Europa breiter ist. Wobei Russland gerade auf Kriegsproduktion umgestellt hat, dazu haben wir noch keine wirklich belastbaren Zahlen – viele Angaben zu Produktionszahlen stammen aus russischen Quellen. Aber: Ähnliches passiert auch in Westeuropa. Nicht nur Rheinmetall baut seine Kapazitäten deutlich aus.

Selbst überwältigende konventionelle Überlegenheit führt nicht zwingend zu Sicherheit.

Wie fällt der Vergleich bei den Atomwaffen aus?

Hier ist Europa ohne die USA unterlegen. Russland verfügt über deutlich mehr Sprengköpfe und Trägersysteme. Aber die europäischen Atommächte Frankreich und Großbritannien haben eine Zweitschlagskapazität. Das heißt, auch bei einem Angriff Russlands können beide Staaten zurückschlagen. Die gegenseitige Vernichtung ist garantiert.

Das heißt also, es gibt genug Abschreckung gegen Russland. Was nicht bedeutet, dass man nicht vielleicht an der einen oder anderen Stelle etwas Neues braucht, wenn zum Beispiel die USA wegfallen. Und niemand zweifelt eure Zahlen an. Die Leute sagen, es reicht halt nicht, wir brauchen noch mehr Abschreckung. 

Tatsächlich ist unsere Studie an keiner Stelle widerlegt worden. Natürlich gibt es inzwischen neue Zahlen zu den Militärausgaben, unsere Studie konnte nur die von 2023 berücksichtigen, und es wird kritisiert, dass wir Aufklärungskapazitäten und Satelliten nicht berücksichtigt haben. Fakt ist, dass wir mit sechs verschiedenen Parametern systematisch und breit verglichen haben. Man kann einen siebten, achten oder neunten Bereich hinzunehmen, dabei muss man jedoch jeweils die Frage stellen, ob das methodisch Sinn ergibt oder man sich im Klein-Klein verhakt. Wir hätten zum Beispiel gerne noch Cyberabwehr- und Angriffsfähigkeiten hinzugezogen. Gerade hier ist das verfügbare Wissen gering. Deswegen haben wir den Bereich rausgelassen. Bei mancher Kritik scheint auch durch, dass es im Kern darum geht, die Aussagen der Studien zu desavouieren, um weiter für eine immer weitere Erhöhung der Militärausgaben trommeln zu können. Dabei nutzen Politiker*innen, Kommentator*innen und die Rüstungsindustrie die Angst der Menschen, um den Boden für den Kauf neuer Waffensysteme zu bereiten.

Russland hat es in drei Jahren nicht geschafft, sich die Ukraine einzuverleiben – auch dank westlicher Waffenlieferungen. Wie realistisch ist vor diesem Hintergrund die Bedrohungslage für Europa? Sprich: Ist mit einem Angriff auf die baltischen Staaten zu rechnen, wie der BND kürzlich vermutete?

Russlands mutmaßliche Ziele waren die komplette Niederwerfung der ukrainischen Armee, der Sturz der Selenskyj-Regierung und die Besetzung großer Teile, vielleicht sogar des ganzen Landes. All das scheiterte bereits wenige Wochen nach dem Einmarsch. Es handelte sich also um eine eklatante militärische Fehlplanung bei Überschätzen der eigenen Fähigkeiten seitens Putin und seiner Entourage. Und seitdem erleben wir eine brutale Kriegsführung Russlands, die zwar hohe eigene Verluste in Kauf nimmt, dabei aber nur geringe Geländegewinne erzielt. Hinzu kommt der Verlust eines Großteils der Schwarzmeerflotte, der Prestigeflotte Russlands. Das Flaggschiff und mehrere Landungsschiffe sind versenkt worden, und die Flotte musste sich in den östlichen Teil des Schwarzen Meeres zurückziehen. Bemerkenswert finde ich auch: Es gibt eine Reihe von russischen Waffenentwicklungen der letzten Jahre, die im Westen als neue große Bedrohungen aus Russland diskutiert wurden, unter anderem der Kampfpanzer Armata. Dieser Panzer ist im Krieg gegen die Ukraine noch nicht zum Einsatz gekommen. Das ist ungewöhnlich, denn Militärs und Rüstungsindustrie wollen neue Waffen im Krieg testen. Von russischer Seite hieß es sinngemäß, man wolle den Panzer nicht in einem Krieg opfern, den man auch so gewinnen könne. Das ist nicht glaubwürdig, meine Vermutung ist, dass vieles von dem neuen Material einfach nicht einsatzfähig ist. Also: Russland hat keine Militärmaschinerie, wie wir sie bei der amerikanischen Invasion im Irak gesehen haben. Dort wurde innerhalb weniger Wochen eine große gegnerische Streitmacht geschlagen und das Land erobert. Das ist nicht annähernd das, was Russland kann. Bereits vor diesem Hintergrund erscheint fraglich, dass Russland in einigen Jahren einen Angriff auf die Nato wagt. Egal, ob dabei die USA miteingerechnet sind oder nicht. Hinzu kommen die politischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Kosten, die Russland auch noch tragen müsste. Die wären nochmals höher als bei dem Angriff auf die Ukraine.

Und die BND-Einschätzung?

Geheimdiensteinschätzungen sind eine Sache für sich. Fehleinschätzungen sind häufig, wie zum Beispiel bei der blitzschnellen Machteroberung der Taliban im Jahr 2021 durch den BND. Dazu kommt, dass für Außenstehende – und das sind letztlich alle – nun einmal nicht im Ansatz überprüfbar ist, wie die Einschätzung zustande gekommen ist.

Und doch will die EU aufrüsten und hat kürzlich ein Weißbuch zur Verteidigung vorgestellt. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sagte: Wenn Europa den Krieg verhindern wolle, müsse es auf diesen vorbereitet sein. Wie schätzt du das ein?

Inwieweit es der EU tatsächlich gelingt, ein relevanter Akteur in der Rüstungs- und Verteidigungspolitik zu werden, ist trotz der markigen Worte und der großen Pläne von von der Leyen abzuwarten. Was im Weißbuch an Ideen und Initiativen steckt, kann nur mit Hilfe der Nationalstaaten umgesetzt werden. An dieser Stelle sind die meisten Ansätze in der Vergangenheit stets gescheitert. Abgesehen davon zweifelt, glaube ich, kaum jemand daran, dass die europäischen Staaten verteidigungsbereit sein sollen. Fehlen dafür Fähigkeiten, zum Beispiel beim Lufttransport, ist zu überlegen, wie diese erlangt werden können. Bei allen eigenen Rüstungsplänen ist jedoch immer mit einzubeziehen, wie die Reaktion darauf aussehen könnte. Aufrüstung bringt per se keine Sicherheit. Der potenzielle Gegner kann symmetrisch gleichziehen oder sogar überholen, aber auch asymmetrisch reagieren. Für Letzteres ist die Islamische Republik Iran ein Beispiel. Die war und ist den USA und deren Verbündeten in jedem symmetrischen Szenario unterlegen, weswegen Teheran Strategien zur asymmetrischen Kriegsführung entwickelt hat. Das beinhaltet zum Beispiel das Konzept von Schwarmangriffen von kleinen und schnellen Booten gegen Großverbände, aber auch die Unterstützung von Milizen und Terrorgruppen im Mittleren Osten. Selbst überwältigende konventionelle Überlegenheit führt also nicht zwingend zu Sicherheit. Rüstungskontrolle und Diplomatie sind daher wesentlich, um eigene Sicherheit zu erlangen. Das sind teils mühsame und kleinteilige Prozesse. Wenn wir aber auf das Ende des Kalten Kriegs schauen, sehen wir, dass genau das am Ende funktioniert hat. 

Anmerkung:

Dieses Interview basiert auf der Folge »Der Drang nach Aufrüstung folgt dem Geist von Angst und Panik« des Dissens-Podcasts. Kürzung, Bearbeitung und Ergänzung um die letzte Frage durch Guido Speckmann erfolgten in Absprache mit Alexander Lurz und Lukas Ondreka.

Lukas Ondreka

betreibt den Dissens-Podcast über Kapitalismus, Politik und Gesellschaft.