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Too fast too furious

Der Lieferdienst Gorillas soll Investoren viel Geld einfahren – die Beschäftigten organisieren sich

Von Janis Ewen

Ein Mensch im Gorilla-Kostüm beim Bananen kaufen
Wenn es nach dem Berliner Start-up geht, müssen sich künftig nur noch schlecht bezahlte Picker durch Lebensmitteregale wühlen – während die Kundschaft auf dem Sofa fläzt. Foto: Paul K. Jäckel / Pixabay

In nur zehn Minuten liefern »unsere legendären Fahrer*innen« frische Lebensmittel direkt an die Haustür – das verspricht Gorillas. Im Mai 2020 startete das Berliner Start-up seinen Online-Supermarkt. Mittlerweile ist es in elf deutschen und sechs niederländischen Städten sowie in Paris und London aktiv. Bequem können Kund*innen über eine App die gewünschten Waren auswählen, und wenig später klingelt eine Fahrradkurier*in mit den bestellten Lebensmitteln. Kleine dezentrale Stadtteillager, in denen sogenannte »Picker« die Tüten und Rucksäcke packen, machen es möglich. Die Preise liegen nur geringfügig über denen von herkömmlichen Supermärkten und die Liefergebühr bei unter zwei Euro.

Mit seinem Geschäftsmodell ist Gorillas nicht allein, die Mitbewerber nennen sich Flink oder Grovy und funktionieren genau gleich. Vorbild ist der amerikanische Express-Lieferdienst goPuff, der in den USA seit 2013 existiert. Die treibende Kraft, die hinter dem Aufkommen immer mehr solcher Start-ups steht, ist weniger das besonders originelle Geschäftsmodell oder ein spezieller Bedarf auf Seiten der Kund*innen; es geht in erster Linie um die rasche Vermögensvermehrung privater Anleger*innen.

Das hat Auswirkungen auf die Arbeitsqualität. Für die Beschäftigten, die immer schneller sein müssen als die anderen, ist die Auslieferung der Lebensmittel ein harter Job. Mit schweren Rucksäcken bewegen sie sich durch den Großstadtverkehr. Oft müssen sie viele Stufen bis zu den Kund*innen laufen. Bei Gorillas sind die Rider befristet angestellt und verdienen 10,50 Euro die Stunde plus Trinkgeld. Wie in vielen prekären Bereichen sind zahlreiche migrantische Rider darunter, oft ohne dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung. Die meisten machen den Job deshalb nur kurzfristig, bis sie etwas anderes gefunden haben oder ihr Arbeitsvisum abläuft. Das ist durchaus im Sinne des Managements, denn die Fluktuation macht anhaltende soziale Beziehungen unter den Ridern und kollektives widerständiges Verhalten schwierig. Da die Ausübung der Tätigkeit keine lange Einarbeitungszeit braucht, vertraut das Unternehmen darauf, beständig neue Arbeitskräfte rekrutieren zu können.

Mythenbildung

Die Unzufriedenheit unter den Beschäftigten wächst indes. Sie prangern die niedrigen Löhne an, klagen über Rückenschmerzen, haben Angst vor Kündigungen oder dem erhöhten Corona-Risiko in den engen Lagerräumen. Im Februar legten Rider in Berlin spontan ihre Arbeit nieder, weil die Auslieferung bei Minusgraden, Schneefall und glatten Straßen zu gefährlich war.

Dabei geben sich die Start-Up-Gründer selbst nah an ihren Beschäftigten. »Wir sind keine Geschäftsleute, die einen Lieferservice aufbauen – wir sind Lieferleute, die ein Geschäft aufbauen«, heißt es auf der Gorillas-Website. Diese Form der Selbstvermarktung entspricht der in der Start-up-Kultur gängigen Mythenbildung um das eigene Unternehmen. Wahr ist das nicht. Die beiden Gründer Jörg Kattner und Kağan Sümer haben vorher bei Rocket Internet gearbeitet, einem börsennotierten Unternehmen, das auf die Neugründung von technologieorientierten Jungunternehmen setzt und mit seinem Kapital bereits an Plattformen wie Foodora, Helpling oder HelloFresh beteiligt war.

Mit ihrer Expertise konnte Gorillas im Dezember 2020 in einer Finanzierungsrunde 44 Millionen US-Dollar von Investoren einsammeln, im März dieses Jahres folgten weitere 290 Millionen Dollar. Das Unternehmen stieg damit innerhalb von nur neun Monaten zum »Unicorn« auf, einem Start-up mit einer Marktbewertung von über einer Milliarde Dollar. Noch nie zuvor ist das einem deutschen Unternehmen in derart kurzer Zeit gelungen. Unter den Investoren finden sich die üblichen Verdächtigen, wie der chinesische Tech-Konzern Tencent oder der Hedgefonds Coatue, der nun im Vorstand von Gorillas vertreten ist. Neu an Bord ist auch Felix Chrobog, der ehemalige Deutschlandchef von Deliveroo, der zu einem der Geschäftsführer gemacht wurde.

The winner takes it all

Die rasante Expansion von Gorillas in den letzten Monaten ist vor allem das Ergebnis dieser Konstellation aus gut vernetzen Geschäftsführern und der Risikofreude von Investoren. In Erwartung zukünftiger Gewinne fließt Vermögen von Anleger*innen in das Unternehmen. Die angebotenen Produkte oder Dienstleistungen sind für die Kapitalgeber*innen zweitrangig, was zählt, ist auf Wachstumsmärkten mitzumischen und zum richtigen Zeitpunkt den Absprung zu schaffen. Die Anleger*innen spekulieren auf die Übernahme durch ein größeres Unternehmen oder den erfolgreichen Börsengang. Bis dahin wird das Bestellaufkommen künstlich über Gutscheine hochgetrieben, und immer weitere Städte und Stadtteile werden erschlossen, um die eigene Marktpräsenz zu erhöhen. Rentabel muss Gorillas vorerst nicht sein, im Mittelpunkt steht die maximale Ausdehnung und die Verdrängung oder Übernahme von konkurrierenden Online-Supermärkten. Nur das am schnellsten wachsende Jungunternehmen kann gewinnen – the winner takes it all.

Anders als die Plattform-Lieferdienste Wolt und Lieferando, die für die Vermittlung und Auslieferung hohe Provisionen von Restaurants kassieren, verfügt Gorillas mit seinen gelagerten Lebensmitteln über eigene Waren. Ob das Modell auf Dauer profitabel werden kann, wird also auch von den Einkaufsbeziehungen und Margen des Unternehmens abhängen. Dass der Lieferdienst damit zur Konkurrenz für klassische Supermarktketten wird, erscheint vorläufig unwahrscheinlich. Aber erklärtes Ziel von Gorillas und Co. ist, die bestehende Marktordnung anzugreifen und anderen Konsumgewohnheiten zum Durchbruch zu verhelfen.

Ende der Dauereuphorie

Die Beschäftigten versuchen, bei dieser aggressiven Expansionsstrategie sprichwörtlich nicht unter die Räder zu kommen. Die Arbeitsniederlegung im verschneiten Februar hatte bereits Erfolg, Gorillas stellte damals den Betrieb aus Sicherheitsgründen für mehrere Tage ein. Mittlerweile haben sich einige Rider im Gorillas Workers Collective (GWC) zusammengeschlossen. Für den 3. Juni 2021 planen sie in Berlin eine Betriebsversammlung, um den Wahlvorstand zur Gründung eines Betriebsrats ins Leben zu rufen. Eine klare Ansage an die Unternehmensleitung, deren kumpelhaftes Auftreten sich schnell als Schein entpuppen dürfte, wenn die Beschäftigten weiter für ihre Interessen einstehen.

Der Boom von Plattformdiensten hat Folgen für die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft.

In dieser Auseinandersetzung geht es aber nicht nur um die konkrete Frage von besseren Arbeitsbedingungen für Rider und Picker; der Boom von Plattformdiensten hat Folgen für die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft. So sind die On-Demand-Lieferdienste zugleich Ausdruck und Treiber einer sozialen Polarisierung, denn ohne diese würden sie gar nicht funktionieren. Sie setzen einerseits zahlungskräftige Konsument*innen voraus, die den neuen Service in Anspruch nehmen, und anderseits die Normalisierung der Prekarität, die für ein relatives Überangebot an Arbeitskraft im Niedriglohnsektor sorgt. So hat sich auch das Bild von den Lieferdiensten in der Öffentlichkeit geändert, längst lassen sich nicht mehr alle vom lässigen Image und der Dauereuphorie der jungen Unternehmen blenden. Die Beschäftigten formulieren ihre eigenen Ansprüche und fordern bessere Bedingungen. Letztlich könnte sich gerade die gewollte Fluktuation der Arbeitskräfte, die nicht selten zwischen verschiedenen Lieferdiensten wechseln, gegen die Start-ups wenden; dann nämlich, wenn auch die Erfahrungen von Betriebsratsgründungen und Arbeitskämpfen zu zirkulieren beginnen.

Janis Ewen

arbeitet als Soziologe, lebt in Hamburg und forscht zu kollektiver Handlungsfähigkeit in der Plattformökonomie.