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Kontrollverlust

Das Verfassungsgericht stellt die Geheimhaltung im Fall des Breitscheidplatz-Attentats über das Recht auf Aufklärung

Von Matthias Jakubowski

Statt die Karten auf den Tisch zu legen, bleibt das Vorgehen des Verfassungsschutzes per Gerichtsbeschluss geheim. Die Aufklärung des Attentats am Breidscheidplatz verkommt so zum Monkey Business. Foto: Jinterwas/Flickr, CC BY 2.0

Der Weg von einem kontrollfreien in einen rechtsfreien Raum ist kurz. Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen gelingt es immer wieder, gravierende Fehler von Sicherheitsbehörden im Vorfeld terroristischer Taten aufzudecken. Doch das Dunkelfeld nicht aufgeklärter Handlungen bleibt dort besonders groß, wo es um geheimdienstliches Handeln geht. Das muss sich ändern.

Nach einem erfolgten Terroranschlag, wie am Breitscheidplatz vom 19. Dezember 2016, kommt der parlamentarischen Aufklärung eine hohe Bedeutung zu. Fehler der Sicherheitsbehörden sollen aufgezeigt und Verbesserungsvorschläge für zukünftiges Tätigwerden erarbeitet werden. Dabei gilt der Grundsatz der Öffentlichkeit. Das steht im Widerspruch zum Handeln der Geheimdienste. Geheimdienste, zu deren Selbstbild die Aufklärung terroristischer Bestrebungen gehört, geraten dabei immer wieder ins Blickfeld der Untersuchungen. Sobald Geheimdienste mit nachrichtendienstlichen Mitteln tätig werden, greifen sie in Grundrechte von Menschen ein. Das gilt insbesondere für den zur verdeckten Informationsgewinnung dienenden Einsatz von V-Personen und die ohne richterliche Anordnung durchführbaren G-10-Maßnahmen zur Telekommunikationsüberwachung. Ob Geheimdienste daher im Vorfeld eines Terroranschlags tätig geworden sind, ist von besonderer Bedeutung. Hat der Geheimdienst die vorhandenen Mittel fach- und sachgerecht eingesetzt? Wurden alle erhobenen Informationen richtig ausgewertet? Sind rechtliche Kompetenzen überschritten worden? Parlamentarische Kontrolle geheimdienstlichen Handelns ist daher kein bloßer Selbstzweck, sondern essenzieller Bestandteil eines funktionierenden Rechtsstaats.

Gescheiterte Vernehmung

Im Februar 2021 entschied das Bundesverfassungsgericht in einem Rechtsstreit über die zulässige Vernehmung eines Vertrauens-Person-Führers im Breitscheidplatz Untersuchungsausschuss zugunsten der Bundesregierung. Eine Benennung und Vernehmung dürfe nicht erfolgen, da andernfalls die zukünftige Arbeits- und Funktionsfähigkeit des als »Verfassungsschutz« bezeichneten Inlandsgeheimdienstes gefährdet sei. Damit wurde das »Recht auf Geheimhaltung« einmal mehr über die Notwendigkeit und das Recht zur Aufklärung terroristischer Anschläge gestellt. Ob und in welchem Ausmaß Informationen über den Attentäter und sein unmittelbares Umfeld der islamistischen Szene Berlins im Vorfeld des Anschlags gesammelt wurden, wird nun nicht mehr vollständig aufgeklärt werden können. Für die Öffentlichkeit bleiben große Fragezeichen und das Gefühl des Bestehens eines kontrollfreien Raums. Besonders tragisch ist dies für die Angehörigen, die sich in den letzten drei Jahren mit der Bitte um umfassende Aufklärung immer wieder erfolgslos an die Bundesregierung gewandt hatten.

Im Oktober 2019 wandte sich ein Mitarbeiter des Geheimdienstes des Landes Mecklenburg-Vorpommern als »Whistleblower« an die Bundesanwaltschaft. Der Geheimdienst habe unmittelbar nach dem Anschlag über eine V-Person bekannt gewordene Informationen über mögliche Unterstützer des Attentäters vor den Ermittlungsbehörden geheim gehalten. So habe es möglicherweise finanzielle und logistische Unterstützung vor und nach dem Anschlag gegeben.

Während die Ermittlungsbehörden fast drei Jahre nach der Tat nicht mehr in der Lage waren, den Sachverhalt vollständig aufzuklären, scheiterte die Aufklärung im Ausschuss an der Geheimhaltung der Geheimdienste. Erst auf mehrfachen parlamentarischen und öffentlichen Druck kam es zu Aktenzulieferungen und den beantragten Vernehmungen von Zeug*innen. Infolge der Vernehmungen musste der ehemalige Chef des Geheimdienstes von Mecklenburg-Vorpommern vorzeitig seinen Posten räumen. Wegen schwerer Verfehlungen bei der Bearbeitung der Hinweise zum Anschlag wurde eine Kommission eingerichtet, welche die Vorgänge untersucht. Dass die Kommission unter anderem mit einem Vizepräsidenten des Inlandsgeheimdienstes besetzt ist, ist dabei mehr als ein Schönheitsfehler. So ist die Rolle des Bundesamtes für »Verfassungsschutz« bei den eingegangenen Hinweisen nach wie vor nicht restlos aufgeklärt. Die Nichtweiterleitung an die zuständigen Ermittlungsbehörden trotz eindeutiger rechtlicher Vorschriften und eine so erfolgte mögliche Vereitelung von Ermittlungserfolgen steht exemplarisch für den kurzen Weg in rechtsfreie Räume.

Die Bundesregierung als Schutzschild

Im Herbst 2018 musste die Bundesregierung einräumen, dass eine für die Erfüllung von Beweisbeschlüssen hauptverantwortliche Beamtin des Bundesministeriums des Innern bis Sommer 2016 selbst Mitarbeiterin der Abteilung Islamismus des Inlandsgeheimdienstes gewesen ist. In dieser Funktion bearbeitete sie auch zwei enge Kontaktpersonen des Attentäters nachrichtendienstlich, bei denen er nicht nur übernachtete, sondern möglicherweise auch radikalisiert wurde. Ob ein derartiger Interessenkonflikt der Bundesregierung bei der Auswahl der Beauftragten schlichtweg egal war oder ob die Entsendung genau vor diesem Hintergrund erfolgte, bleibt offen. Es verdeutlicht jedoch, wie weit sich die Bundesregierung schon zu Beginn des Ausschusses von der zunächst versprochenen aktiven Aufklärung entfernte, als sich andeutete, dass auch der Geheimdienst vor dem Anschlag Fehler gemacht haben könnte.   

Das Dunkelfeld für nicht mehr aufzuklärende Rechtsbrüche wächst, während die Befugnisse für Grundrechtseingriffe kontinuierlich ausgebaut werden

Drei Jahre Untersuchungsausschuss haben gezeigt, dass selbst die nur oberflächlich mögliche Aufklärung die Legitimation von Geheimdiensten insgesamt infrage stellen konnte. Es ist zu vermuten, dass eine ernsthafte, vollständig und offen geführte Untersuchung geheimdienstlichen Handelns im Zusammenhang mit Terroranschlägen zwangsläufig zum Verlust jedweder Existenzberechtigung führen würde. Anstatt sich diesem offensichtlichen Problem zu stellen, zieht die Bundesregierung eine immer größer werdende Mauer des Schweigens um geheimdienstliche Tätigkeiten. Damit wächst vor allem das Dunkelfeld für nicht mehr aufzuklärende Rechtsbrüche, während zugleich die Befugnisse für Grundrechtseingriffe, wie mit dem Staatstrojaner, kontinuierlich ausgebaut werden.

Lernen aus der Geschichte

Der Versuch der Geheimdienste, sich auch im Rahmen der Untersuchungen zum Terroranschlag am Breitscheidplatz der Kontrolle zu entziehen, war erwartbar. Auch die Ausschüsse zur Aufklärung der rechtsterroristischen Taten des NSU haben gezeigt, dass die Aufklärung der Verfehlungen geheimdienstlicher Tätigkeit von den Verantwortlichen massiv blockiert wird. Das gilt insbesondere dort, wo es um den Einsatz von gefährlichen V-Personen geht. Wie auch in diesem Ausschuss kommt es immer wieder zur Verweigerung der Aktenvorlage, zu Schwärzungen, ausufernden Einstufungen als »geheim« und der Beschränkung von Aussagegenehmigungen. Hinzu kommt eine massive Beeinflussung des Aussageverhaltens von Zeug*innen durch anwesende Vertreter*innen der Bundesregierung. So gab es keine Vernehmung von Zeug*innen des Geheimdienstes, in der nicht durch fortlaufende Zwischenrufe interveniert und Befragungen durch die Mitteilung, Zeug*innen dürften sich zu dem gefragten Sachverhalt oder einer Person nicht äußern, unterbrochen wurde. Mehrfach antworteten Zeug*innen erst, nachdem die Ausschussmitglieder heftige Auseinandersetzungen mit Vertreter*innen der Bundesregierung über die Reichweite der grundsätzlich eingeschränkten Aussagegenehmigungen geführt hatten. Häufig gab es nach erfolgter Intervention keine Antworten mehr.

Es ist absehbar, dass die Bundesregierung ihre Praxis in Zukunft nicht ändern wird. Ebenso ist absehbar, dass aus den Ergebnissen des Ausschusses auch fachlich wieder die falschen Schlüsse gezogen werden. Die Gefahr sich wiederholender rechter und islamistischer Terroranschläge und anschließend scheiternder Aufklärung ist groß. Mehr Personal und ausufernde Befugnisse für Geheimdienste, als klassische Antwort konservativ-reaktionärer Politik, verhindern keine Anschläge. Das Dogma der Geheimhaltung verhindert die Aufklärung. Solange eine Auflösung des Inlandsgeheimdienstes politisch nicht erreichbar ist, braucht es daher einen parlamentarischen und öffentlichen Gegenpol. Dazu gehört eine kontinuierliche und vor allem umfassende öffentliche Begleitung überall dort, wo Geheimdiensthandeln an die Oberfläche tritt. Zivilgesellschaftliche Initiativen wie NSU Watch leisten hier einen wichtigen Beitrag. Zugleich muss im Bundestag fortlaufend für bessere rechtliche Voraussetzungen der parlamentarischen Kontrolle gestritten werden.

Matthias Jakubowski

ist Fachreferent der Linksfraktion im Untersuchungsausschuss zum Breitscheidplatz-Anschlag.