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Konkurrenz im »Hinterhof«

200 Jahre nach der Formulierung der Monroe-Doktrin wollen die USA in Lateinamerika den Einfluss Russlands und Chinas zurückdrängen

Von Tobias Lambert

Der brasilianische Präsident Lula und der US-Präsident Biden stehen neben nebeneinander aus einem roten Teppich und gucken geradeaus in die Kamera. Neben Lula steht noch eine Frau, Rosângela Lula da Silva. Im Hintergund halten SOldaten die brasilianischen und US-Amerikanische Flagge in die Höhe.
Sie mögen sich – nicht: Der brasilianische Präsident Luiz Inácio da Silva, genannt Lula, und US-Präsident Joe Biden, im Februar in Washington. Foto: Palácio do Planalto / Flickr, CC BY 2.0

Als der damalige US-Präsident James Monroe im Dezember 1823 seine Rede zur Lage der Nation vor dem US-Kongress hielt, schickte er eine unmissverständliche Botschaft in Richtung Europa. Die europäischen Mächte sollten sich nicht in die Angelegenheiten der neu entstehenden Staaten Lateinamerikas einmischen, die gerade dabei waren, ihre Unabhängigkeit von Spanien und Portugal zu erkämpfen. Im Falle des Versuches, einzelne Staaten des amerikanischen Doppelkontinents rekolonialisieren zu wollen, würden die USA nicht tatenlos zuschauen. Im Laufe der Jahre entwickelten sich diese Prinzipien zur »Monroe-Doktrin« – und zu einem zentralen Pfeiler der US-Außenpolitik. Nachdem die kontinentale Expansion nach Westen abgeschlossen war, die mit der Unterwerfung der Native Americans und der Annektierung eines Teils von Mexiko einherging, änderte sich im Zuge des allmählichen Aufstiegs der USA zur Weltmacht der ursprüngliche Charakter der Doktrin. Ab dem Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898, bei dem die USA die Kontrolle über die vorherigen spanischen Kolonien Puerto Rico, Guam und die Philippinen erhielten, expandierte das Land auch außerhalb seiner damaligen Grenzen.

Putschen, protegieren, privatisieren

In Lateinamerika selbst gilt die Monroe-Doktrin bis heute vor allem als imperialistische Bedrohung. Denn damit nahmen die USA für sich in unterschiedlichen Phasen das Recht in Anspruch, ihre Interessen im »Hinterhof« rigoros durchzusetzen. Dies konnte durch eigene Militärinterventionen, die Stützung korrupter Diktaturen oder ökonomischen Druck geschehen und richtete sich im 20. Jahrhundert praktisch gegen alle Versuche, in lateinamerikanischen Staaten souveräne oder linke Politik zu machen. Der von der CIA unterstützte Putsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende in Chile im September 1973, der sich dieses Jahr zum 50. Mal jährt, ist nur eines von vielen Beispielen. Die Erfahrungen mit dem US-Interventionismus haben ganze Generationen linker Aktivist*innen in der Region traumatisiert.

Die Erfahrungen mit dem US-Interventionismus haben ganze Generationen linker Aktivist*innen in der Region traumatisiert.

In der Geschichte häufig an neue Umstände angepasst, schien die Monroe-Doktrin mit dem Ende des Kalten Krieges an Relevanz zu verlieren. Nach der Invasion in Panama 1989, als der damalige US-Präsident George H. W. Bush die größte Luftlandeaktion seit dem Zweiten Weltkrieg in Gang setzte, um den in Ungnade gefallenen US-Zögling Manuel Noriega abzusetzen, hielten sich die USA in Lateinamerika militärisch zurück. Ihre Interessen setzten sie in den 1990er Jahren vor allem mittels neoliberaler Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank durch.

Der Widerstand sozialer Bewegungen und die Wahl von Hugo Chávez in Venezuela 1998 verpassten der US-amerikanischen Hegemonie in Lateinamerika dann einen gehörigen Dämpfer. Auf dem Amerika-Gipfel in Argentinien 2005 wurde die US-amerikanische Vision einer gesamtamerikanischen Freihandelszone (ALCA) beerdigt. Das Scheitern von ALCA offenbarte, dass die USA in Lateinamerika deutlich an Einfluss verloren hatten. In der Folge entstanden mehrere lateinamerikanische Integrationsbündnisse und multilaterale Institutionen unter Ausschluss der USA.

Von den USA dominierte Finanzinstitutionen wie IWF, Weltbank und Interamerikanische Entwicklungsbank büßten hingegen an Bedeutung ein. Gleiches gilt für die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), in deren Rahmen der Unilateralismus der USA stets als Multilateralismus verkauft wurde, und die militärische Zusammenarbeit mit den USA unter Führung des US-Südkommandos (US-SOUTHCOM). Das Scheitern von ALCA führte in der Folge zudem zu einer Ausdifferenzierung der politischen Außenbeziehungen in Lateinamerika, die vor allem Russland und China einen größeren Raum gewährte.

Dieses Jahr jährt sich die Monroe-Doktrin zum 200. Mal. Vor zehn Jahren hatte der damalige Außenminister John Kerry sie zwar für tot erklären wollen. Kaum anderthalb Jahre später erklärte US-Präsident Barack Obama die Situation in Venezuela, das sich zu diesem Zeitpunkt in einer innenpolitischen Krise befand, zur »außergewöhnlichen Bedrohung der nationalen Sicherheit und Außenpolitik der Vereinigten Staaten«. Damit legte er den juristischen Grundstein für die Verhängung von immer neuen Sanktionen gegen das südamerikanische Land, die unter der Präsidentschaft von Donald Trump offiziell das Ziel eines Regime Changes, also die Absetzung der linken Regierung unter Nicolás Maduro, verfolgten.

Eine wirkliche Bedrohung für ihre Interessen sehen die USA in der neuen Welle von Linksregierungen in Lateinamerika mittlerweile wohl nicht mehr. Im Vergleich zu den Nullerjahren agieren die meisten Regierungen in Lateinamerika heute ideologisch pragmatischer und die rechte Opposition ist in fast allen Ländern stärker. Die heutige Version der Monroe-Doktrin richtet sich wieder stärker gegen äußere Mächte, die auf dem Kontinent eigene Interessen verfolgen. Dazu zählen Russland und der Iran, allen voran aber China.

Geld und Infrastruktur aus China

In der Nationalen Sicherheitsstrategie 2022, die die strategischen Leitlinien in der Außenpolitik der Regierung von Joe Biden festlegt, gilt die aufstrebende Weltmacht aus Asien als der Hauptrivale. Russland stelle zwar »eine unmittelbare Bedrohung für das freie und offene internationale System dar«, sei jedoch nicht stark genug.

China hingegen sei der einzige Konkurrent, der die internationale Ordnung umgestalten wolle und gleichzeitig »zunehmend über die wirtschaftliche, diplomatische, militärische und technologische Macht verfügt, um dieses Ziel zu erreichen.« Hauptanliegen der US-Politik sei es daher, »eine effektive demokratische Regierungsführung zu unterstützen und die Region gegen Einmischung oder Zwang von außen, auch durch die Volksrepublik China, Russland oder den Iran [zu] schützen.«

Tatsächlich hat China seinen Einfluss in den vergangenen 20 Jahren deutlich ausgebaut. Hatten die kleineren zentralamerikanischen Staaten traditionell diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zum US-Verbündeten Taiwan gepflegt, den China als Teil seines Territoriums ansieht, sind sie mittlerweile überwiegend zur Volksrepublik umgeschwenkt. Für Brasilien, Chile und Peru ist das Land bereits der wichtigste Handelspartner. In der gesamten Region liegt China auf Platz Zwei und ist zudem einer der wichtigsten Kreditgeber.

Aus chinesischer Perspektive spielt Lateinamerika im Vergleich zu anderen Weltregionen in Asien oder Afrika allerdings nicht die wichtigste Rolle.

Aus chinesischer Perspektive spielt Lateinamerika im Vergleich zu anderen Weltregionen in Asien oder Afrika allerdings nicht die wichtigste Rolle. Der Gütertausch ähnelt in den meisten Ländern den klassischen wirtschaftlichen Beziehungen gegenüber den USA oder Europa. China exportiert überwiegend Industrieprodukte, Lateinamerika hingegen Rohstoffe wie Erdöl, Metalle, Soja und künftig Lithium. Auch investiert China wie in anderen Weltregionen zunehmend auch in Lateinamerika in Infrastruktur wie Häfen oder Elektrizitätssysteme. Im Gegensatz zu den USA versucht es dabei allerdings nicht, den lateinamerikanischen Ländern ein bestimmtes Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell vorzuschreiben.

Das gleiche gilt für Russland, für das Lateinamerika vor allem aus geopolitischer Perspektive interessant ist. Das Handelsvolumen liegt zwar nur im unteren einstelligen Prozentbereich. Bei einzelnen Produkten sind die Handelsbeziehungen jedoch enger. Dies betrifft etwa den Import von Dünger oder in jüngster Zeit Corona-Impfstoffen aus Russland. Umgekehrt sind viele kleinere lateinamerikanische Betriebe auf den Export von Früchten, Fleisch oder Fisch nach Russland angewiesen. Einzelne Länder wie Bolivien, Kuba, Nicaragua und Venezuela sind mit Russland aber vor allem politisch eng verflochten. Auch Argentinien und Brasilien versuchten sich in der jüngsten Vergangenheit ökonomisch mehr in Richtung Russland zu orientieren. Die Präsidenten beider Länder trafen sich noch kurz vor Beginn des Krieges mit Wladimir Putin, um über einen Ausbau der Beziehungen zu sprechen.

Ukrainekrieg und westliche Doppelmoral

An der grundsätzlichen Haltung gegenüber Russland ändert auch die Abwahl des rechtsextremen Jair Bolsonaro in Brasilien nichts. Der russische Außenminister Sergej Lawrov besuchte im vergangenen April Brasilien, Venezuela, Nicaragua und Kuba, um die politischen sowie wirtschaftlichen Beziehungen zu stärken. Nicht nur diese Länder, sondern die gesamte Region hält sich aus dem Protest gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine heraus und fordert allenfalls diplomatische Lösungen. Sowohl die USA als auch Europa scheiterten mit ihren Versuchen, die lateinamerikanischen Länder auf ihre Seite zu ziehen.

Länder wie Brasilien und Chile, die über deutsche Leopard-Panzer verfügen, oder Kolumbien, das zahlreiche Waffen aus russischer Produktion besitzt, lehnten die Bitte nach Waffen- und Munitionslieferungen an die Ukraine rundherum ab. Auch dem Instrument der Sanktionen stehen sie kritisch gegenüber. Die durch den Krieg ausgelöste Suche nach fossilen Rohstoffen droht zudem Konflikte um Extraktivismus in Lateinamerika erneut anzuheizen. Dies zeigt etwa das Beispiel des Kohleabbaus in Kolumbien, an dem seit Kriegsbeginn auch Deutschland plötzlich wieder großes Interesse hat.

Angesichts der wirtschaftlichen Folgen, den der Krieg indirekt für den Globalen Süden hat, setzen die lateinamerikanischen Regierungen eher auf eine diplomatische Lösung als auf lang andauernde Kämpfe, die weitere Auswirkungen auf die weltweite Versorgungslage haben könnten. Die grundsätzliche Haltung liegt nicht zuletzt in der westlichen Doppelmoral begründet, die im Zuge des jüngsten Krieges zahlreiche politische Kommentator*innen aus Lateinamerika betonen.

Aufgrund direkter US-Interventionen in Lateinamerika und anderer Regionen des Globalen Südens gelten etwa Russland und China vor allem innerhalb der Linken im Vergleich zu den USA als die »besseren« Partner in einer multipolaren Welt. Häufig nebensächlich ist dabei, dass auch China und Russland in Bezug auf Geopolitik und den Zugang zu Rohstoffen selbstredend eigene Interessen auf dem Kontinent verfolgen. Doch die Ausdifferenzierung der internationalen Beziehungen hat den lateinamerikanischen Ländern gewisse Freiräume verschafft. Die einseitige Abhängigkeit von den USA und auch Europa gehört der Vergangenheit an.

Tobias Lambert

arbeitet als freier Autor, Redakteur und Übersetzer überwiegend zu Lateinamerika.