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Der Blaue Kontinent kämpft um seine Existenz

Die größte Bedrohung für die pazifischen Inselstaaten ist nicht China, sondern der Klimawandel

Von Volker Böge

Luftaufnahme einer dünnen, langgezogenen Insel mit weiter Küstenfront
Die Folgen des Klimawandels sind auf den pazifischen Inseln schon jetzt zu spüren. Foto: Gabriella Jacobi / Wikimedia, CC BY-SA 3.0 Deed

Am 25. September empfing US-Präsident Joe Biden die Regierungs- und Staatschefs von 18 pazifischen Inselstaaten im Weißen Haus zu einem US-Pazifik-Gipfeltreffen. Das war bereits das zweite Treffen dieser Art innerhalb eines Jahres, nachdem die pazifischen Inseln zuvor jahrzehntelang in der US-Politik kaum eine Rolle gespielt hatten. Neuerdings ist eine Vielzahl von Aktivitäten zu beobachten: Neue Botschaften werden eröffnet und diplomatische Beziehungen selbst zu kleinsten Staaten aufgenommen (zuletzt Niue und Cook Islands), die »Entwicklungshilfe« wird merklich gesteigert, neue Wirtschafts- und »Verteidigungs«-Abkommen abgeschlossen, das Peace Corps wird nach Samoa, Fidschi, Tonga und Vanuatu entsandt, und die US Navy wird zu Freundschaftsbesuchen in die Häfen der Inselstaaten geschickt. Hintergrund hierfür ist – wenig überraschend – die verstärkte Präsenz der Volksrepublik China in der Region.

Es gelang der Volksrepublik zum Beispiel, Inselstaaten, die bisher Taiwan diplomatisch anerkannt hatten, auf seine Seite zu ziehen, und letztes Jahr wurde sogar ein Sicherheitsabkommen mit den Salomonen unterzeichnet. Das wird in Washington nicht gern gesehen. Aus US-Sicht wird der Pazifik zusehends zum Schauplatz geostrategischer Konkurrenz mit der aufstrebenden Supermacht China. Die kleinen pazifischen Inselstaaten werden von beiden Seiten lediglich als Bauern auf dem Schachbrett ihres geopolitischen Großmachtspiels angesehen. Die Inselstaaten weigern sich allerdings standhaft, sich instrumentalisieren zu lassen. Sie haben wiederholt klar gemacht, dass für sie nicht China, sondern der Klimawandel die größte Bedrohung ihrer Sicherheit darstellt. (1)

Und so musste Biden auf dem Gipfel Bekenntnisse zum Klimaschutz abgeben und Verständnis für die Sorgen seiner Gesprächspartner*innen äußern. Er versprach 200 Millionen US-Dollar extra an »Entwicklungshilfe«, inklusive zur Bekämpfung der Folgen des Klimawandels (dem muss der US-Kongress allerdings noch zustimmen). Diese Zugeständnisse sind ein Zeichen dafür, dass die Führer*innen der pazifischen Inselstaaten die Konkurrenz zwischen den USA und China durchaus zu ihrem Vorteil zu nutzen wissen – so wie sie es auch verstanden haben, auf der Bühne der internationalen Klimakonferenzen und in der internationalen Debatte über die Folgen des Klimawandels die besondere Betroffenheit ihrer Länder herauszustellen und damit weit über ihrem eigentlichen weltpolitischen Gewicht zu agieren. Es ist vor allem der hartnäckigen Lobbyarbeit der pazifischen Inselstaaten zu verdanken, dass auf der letzten Weltklimakonferenz COP 27 letztes Jahr in Ägypten endlich ein neuer Finanzierungsmechanismus für »loss and damage«, für die mit dem Klimawandel verbundenen Verluste und Schäden beschlossen wurde.

Klimawandel, Migration und Konflikt

Nun ändern solche (Teil-)Erfolge allerdings nichts an den bereits heute massiven und verheerenden Auswirkungen des Klimawandels auf die pazifischen Inseln und die Menschen dort. Meeresspiegelanstieg, Überschwemmungen, sterbende Korallenriffe, an Häufigkeit und Intensität dramatisch zunehmende tropische Wirbelstürme, Dürren und andere Folgen des Klimawandels sind im Pazifik keine künftige Gefahr, sondern heutige Realität. Sie bedrohen akut die Ernährungssicherheit, die Sicherheit der Wasserversorgung und die Sicherheit von Siedlungen und Infrastruktur. Deswegen erklärten die pazifischen Staats- und Regierungschefs auf der Tagung des Pacific Island Forum in Suva (Fidschi) letztes Jahr den Klimanotstand für ihren Blauen Kontinent. (2)

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Die Pazifikstaaten müssen überlegen, was aus ihnen wird, wenn es sie physisch nicht mehr gibt. Tuvalus Justizminister Simon Kofe adressiert die Welt von der digitalisierten Version der kleinsten Insel, die zuerst zu verschwinden droht.

Das hat Implikationen für Frieden und Sicherheit – allerdings in einem ganz anderen Rahmen als jenem der geostrategischen Konkurrenz zwischen den USA und der VR China. Insbesondere führen die Klimawandelfolgen zusehends zu Flucht, Migration und Umsiedlung. Dies wiederum kann zu Konflikten und Gewalt führen. Dabei geht es nicht um zwischenstaatliche oder gar innerstaatliche »Klimakriege«, sondern um gewaltsame Konfliktaustragung im lokalen Kontext oder um Formen alltäglicher Gewalt: Konflikte zwischen Dorfgemeinschaften, die aus ihren Siedlungen auf niedrig liegenden Atollen oder an der Küste umsiedeln müssen und den Gemeinschaften im Zielgebiet der Umsiedlungen, die sich um Zugang zu Land, Wasser und andere natürliche Ressourcen drehen; häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder in den informellen Siedlungen am Rande der wenigen urbanen Zentren, die Zufluchtsort von Menschen werden, die in ihren von den Klimawandelfolgen betroffenen Dörfern nicht mehr bleiben können. Diese Formen von Konflikt und Gewalt bleiben unter der Aufmerksamkeitsschwelle von Politik und Forschung, die sich mit »Klimawandel als Sicherheitsbedrohung« befassen, haben aber für die betroffenen Menschen einschneidende, zuweilen tödliche Konsequenzen.

Entgegen den im Globalen Norden vorherrschenden Erzählungen, die »Wellen« von Millionen von »Klimaflüchtlingen« beschwören, die zu einer Bedrohung der eigenen »nationalen Sicherheit« werden und gegen die man die eigenen Grenzen sichern müsse, sind diese konfliktträchtigen Migrationsbewegungen tatsächlich auf den innerstaatlichen Rahmen beschränkt. Internationale Migration in der Pazifik-Region ist heutzutage Arbeitsmigration von einigen Inselstaaten in die »entwickelten« Randstaaten des Pazifik, Australien und Neuseeland. Diese Migration ist völlig an den Interessen der Empfänger-Länder ausgerichtet, die Arbeitskräfte zum Obstpflücken oder zum Rinderschlachten brauchen. Doch eben jene »entwickelten« Ländern weigern sich standhaft, den Klimanotstand als Migrationsgrund anzuerkennen.

Wie anderswo auch sind die Arbeitsmigrant*innen in Australien und Neuseeland besonderer Ausbeutung, erniedrigender Behandlung, menschenunwürdigen Wohnverhältnissen und alltäglichem Rassismus ausgesetzt. Zynischerweise wird ihre Ausbeutung aber auch genutzt im Kontext der Bekämpfung des Klimawandels: Mit den Geldern, die die Arbeitsmigrant*innen nach Hause transferieren, sollten die dort zurück Gebliebenen doch Maßnahmen zur örtlichen Anpassung an die Folgen des Klimawandels finanzieren: »seawalls« (Schutzmauern) bauen, Häuser und Straßen höher legen, Mangroven anpflanzen und mehr. Damit wird die Verantwortung zur Anpassung an den Klimawandel von den Verursachern auf die Hauptbetroffenen abgeschoben.

Umsiedlungen – und die Entschlossenheit, zu bleiben

Da solche lokalen Anpassungsmaßnahmen oft sehr kostspielig sind, wird es bei den Gebern (»Donors«) von »Entwicklungshilfe«, die aus den für den Klimanotstand hauptverantwortlichen Staaten des Globalen Nordens kommen, zusehends beliebter, geplante Umsiedlungen zu fordern und zu finanzieren. Das scheint die einfachere und billigere »Lösung« des Problems zu sein. So finanziert zum Beispiel auch Brot für die Welt die Umsiedlung von vom Klimawandel betroffenen Dörfern in Fidschi. Oft wollen die Menschen ihre Dörfer aber gar nicht verlassen, auch wenn die Lebensbedingungen wegen der Auswirkungen des Klimawandels immer härter werden. Für sie spielen nicht nur materielle Faktoren eine Rolle. In pazifischer Kultur und Weltsicht sind Menschen und Land untrennbar verbunden. Das kommt etwa in dem fidschianischen Terminus »venua« zum Ausdruck, der beides bedeutet: Menschen und Land – wobei »Land« nicht im westlichen Sinne als bloße materielle physische Gegebenheit zu verstehen ist, sondern als Lebensort auch der Geister der Vorfahr*innen und der ungeborenen Generationen. Der Verlust ihres Landes, inklusive der Ruhestätten ihrer Vorfahr*innen, hat für Menschen im Pazifik traumatische Folgen.

Bei den Gebern von »Entwicklungshilfe« wird es zusehends beliebter, geplante Umsiedlungen zu finanzieren.

Sicherheit geht für sie weit über materielle Sicherheit wie Wasser und Ernährung hinaus. Sie hat auch eine spirituelle Dimension, die in dem vorherrschenden, von westlichen Vorstellungen geprägten Diskurs über Klimawandel, Migration und Konflikt und Frieden ignoriert oder marginalisiert wird. Entsprechend sind Dorfgemeinschaften, die etwa in Fidschi von der Regierung zwangsumgesiedelt werden, nicht nur mit enormen praktischen und materiellen, sondern auch psychischen Problemen konfrontiert. Die Menschen weigern sich zu akzeptieren, dass von der Regierung oder den Donors entsandte »Expert*innenen« ihre Insel oder ihr Dorf nach »wissenschaftlichen« Kriterien für unbewohnbar erklären. Sie wollen selbst über (Un-)Bewohnbarkeit entscheiden.

Die Problematik der (Un-)Bewohnbarkeit betrifft nicht nur einzelne Dorfgemeinschaften, sondern auch ganze Inselstaaten. So ist die Regierung Tuvalus fest entschlossen, alles technisch Mögliche zu unternehmen, um die Inseln Tuvalus bewohnbar zu halten, beispielsweise durch verstärkten Küstenschutz oder Meereswasserentsalzung. Sie ist sich allerdings auch bewusst, dass sie einen »Plan B« braucht für den Fall, dass die Inseln tatsächlich untergehen oder unbewohnbar werden und die Menschen umsiedeln müssen. Da stellt sich dann die Frage, ob in einem solchen Falle Tuvalu als Staat weiter existieren kann. Denn nach heutigem internationalen Recht sind Staatsgebiet und Bevölkerung notwendige Kriterien für Staatlichkeit. Die Regierung Tuvalus will eine Bestandsgarantie für Tuvalu als Staat auch für den Fall der Unbewohnbarkeit oder des völligen Untergangs und eine Garantie, dass die Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, als Staatsbürger*innen Tuvalus in anderen Staaten Aufnahme finden.

Joe Biden hat auf dem Gipfeltreffen in Washington erklärt: »Ihr sollt wissen: Ich höre euch. … Wir hören eure Rufe nach der Zusage, dass ihr niemals, niemals, niemals eure Staatlichkeit oder eure Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen verlieren werdet als Folge der Klimakrise.« (3) Mr President »hört« – wenn das nicht tröstlich ist.

Volker Böge

ist Historiker. Er lebt in Brisbane.

Anmerkungen:

1) So etwa in der vom Pacific Island Forum, der Regionalorganisation der pazifischen Inselstaaten, im Jahre 2018 verabschiedeten Boe Declaration zur regionalen Sicherheit. https://www.forumsec.org/2018/09/05/boe-declaration-on-regional-security/

2) Um dem international hegemonialen Diskurs von den »kleinen Inselstaaten« entgegenzuwirken, sprechen die Menschen im Pazifik von ihrer Region als »Blauer Kontinent« und von ihren Ländern als »big ocean states« – großen Meeres-Staaten. https://www.forumsec.org/2022/07/17/report-communique-of-the-51st-pacific-islands-forum-leaders-meeting/

3) Übersetzung des Zitats V.B. Seine intime Kenntnis der ihm so am Herzen liegenden pazifischen Inselstaaten offenbarte sich in seiner Rede, als er vom schönen Land »Puala« sprach. Das Land heißt Palau. https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2023/09/25/remarks-by-president-biden-and-prime-minister-mark-brown-of-the-cook-islands-before-meeting-with-pacific-islands-forum-leaders/