analyse & kritik

Zeitung für linke Debatte & Praxis

|ak 703 | International

Hoffen auf Erdoğans Ende

Erstmals seit mehr als 20 Jahren wurde die AKP in der Türkei bei Wahlen überholt – zur Überraschung der Opposition

Von Svenja Huck

Eine Person steht vor Containergebäuden, an denen Banner der DEM Partei hängen. Die Person hält ein Schild mit dem Bild des gewählten Bürgermeisters von VAN hoch.
In Van sollte der gewählte Bürgermeister (auf dem Plakat zu sehen) der DEM-Partei (ehemals HDP) abgesetzt werden. Der Versuch scheiterte am landesweiten Protest dagegen. Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com / Murat Kocabas

Als Unterstützer*innen der Opposition in der Türkei am 31. März gegen Abend die Fernseher einschalteten, um sich die Hochrechnungen der Lokalwahlen anzusehen, hatte kaum eine*r von ihnen hoffnungsvolle Gedanken. Erst zehn Monate zuvor hatten die AKP und Präsident Erdoğan trotz monatelangem Kampf der Oppositionsparteien erneut die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Fast niemand erwartete eine politische Wendung – und plötzlich wurden alle überrascht. Die CHP, die oppositionell-nationalistische Partei des Staatsgründers Kemal Atatürk, konnte nicht nur die 2019 gewonnenen Bürgermeisterämter von Istanbul und Ankara verteidigen, sondern deren Stimmenanteil deutlich vergrößern. Provinzen wie Manisa, Balıkesir oder Kütahya, die seit über 70 Jahren keine CHP-Bürgermeister*innen mehr gesehen haben, färbten sich im Laufe des Abends in das Rot der Partei. Noch bevor alle Stimmen ausgezählt waren, hielten führende CHP-Politiker Siegesreden, während Präsident Erdoğan bis nach Mitternacht auf sich warten ließ. 

Die CHP hatte an diesem Abend zum ersten Mal seit 2002 die AKP in einer Wahl als stärkste Partei überholt. Deren Stimmenanteil fiel um rund vier Millionen Stimmen, der ihres de-facto-Koalitionspartners, der rechtsnationalistischen MHP, um eine Million. Die CHP hingegen gewann über drei Millionen Stimmen dazu, ebenso die islamisch-konservative Yeniden Refah Partei, und auch die linke kurdische DEM-Partei (ehemals HDP) gewann im Vergleich zur letzten Lokalwahl vor fünf Jahren 639.000 zusätzliche Stimmen. Betrachtet man demgegenüber die geringere Wahlbeteiligung – 4,2 Milllionen Menschen weniger nahmen teil – wird deutlich, dass die jahrelange Dominanz der AKP zu bröckeln beginnt. 

Wirtschaftskrise wirkt

Ein wichtiger Faktor für diese Ergebnisse ist die massive Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage im Land. Während die ohnehin hohe Inflationsrate 2023 eher stabil bei rund 40 Prozent blieb, hat sie sich in diesem Jahr schon fast verdoppelt. Aktuell ist mit einer weiteren Steigerung zu rechnen, eine Erholung ist also nicht einmal in Sicht. Im vergangenen Jahr sank außerdem die Zahl der Arbeitslosen, während sie aktuell steigt. Wer Arbeit hat, ist mit sinkenden Reallöhnen konfrontiert, während die Lebenshaltungskosten ungebremst steigen. In großen Städten wie Istanbul und Ankara haben vor allem die Mietpreise in kürzester Zeit massiv zugelegt, diese Krise entlädt sich nicht selten in brutalen Auseinandersetzungen zwischen Mieter*innen und Vermieter*innen. Während die AKP-Wähler*innenschaft bei den Präsidentschaftswahlen 2023 noch einmal bereit war, einen Vertrauensvorschuss zu geben und der Regierung zutraute, die von ihr geschaffene Krise selbst zu lösen, macht sich nun der Wunsch nach Veränderung breit. 

Die sichtbaren Erfolge der CHP in den großen Städten Ankara und Istanbul in den zurückliegenden Jahren spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Das Erfolgsrezept der beiden Bürgermeister – Ekrem İmamoğlu in Istanbul und Mansur Yavaş in Ankara – ist die Umstrukturierung der finanziellen Ressourcen. Über Jahrzehnte hatten die vorherigen AKP-Bürgermeister (darunter auch Erdoğan) die öffentlichen Gelder an parteinahe Firmen, religiöse Stiftungen oder auch in persönlichen Luxus umgeleitet. Der ehemalige AKP-Bürgermeister von Ankara, Melih Gökçek, etwa ließ sich einen Vergnügungspark mit Dinosauriern bauen. Die CHP investiert dieses Geld hingegen in die Modernisierung öffentlicher Gebäude wie Bibliotheken, subventionierte Erholungsparks und Cafés oder in die Restaurierung historischer Bauten. Mit vergleichsweise geringem Aufwand wurde dadurch populäre Zustimmung gewonnen, die über die Stadtgrenzen hinaus zu politischer Unterstützung führt. 

Ein erfolgreiches Beispiel für linke (Wahl)Politik ist die Stadt Samandağ, in der der gemeinsame Kandidat Emrah Karaçay von der Arbeiterpartei der Türkei (TİP) nun Bürgermeister ist.

Ein weiterer Herausforderer der AKP ist die Yeniden Refah Partei (YRP), die in den Landkreisen Urfa und Yozgat gewann. »Die YRP ist eine islamistische Kleinstpartei und wird von dem Sohn von Necmettin Erbakan geleitet, der die nationale islamistische Tradition begründet hat, aus der auch die AKP als Spaltung hervorgegangen ist«, erklärt der Politikwissenschaftler und Wahlbeobachter Alp Kayserilioğlu. Sie sei weniger pragmatisch als die AKP und stärker ideologisch islamistisch orientiert. »Seit 2023 vereint die YRP mit der AKP unzufriedene, aber konservative Wähler*innen auf sich und steht ihr in Antifeminismus und Queerfeindlichkeit in nichts nach. Zugleich artikuliert sie aber Beschwernisse der konservativen Basis, insbesondere was Wirtschaft, Korruption und die inkonsequente Solidarität der Regierung gegenüber Palästina betrifft«, so Kayserilioğlu. Er gibt außerdem zu bedenken, dass die Partei in der Basis gut organisiert sei, insbesondere in Arbeiter*innenvierteln. »Mit etwas Pech kriegt man die daher nicht wieder so schnell weg«, warnt er.

Nachbeben auf dem Stimmzettel

Auch in der von den verheerenden Erdbeben im Februar 2023 betroffenen Region, die offiziell elf Provinzen umfasst, hat die AKP deutlich an Stimmen verloren. Schon seit einem Jahr warten die Menschen dort auf den Wiederaufbau, doch dieser geht zu langsam voran. In der Region Hatay, die am stärksten von den Auswirkungen der Beben betroffen ist und laut offiziellen Zahlen 25.000 Tote zu beklagen hat, wurde wiederum der jahrelang regierende CHP-Bürgermeister abgewählt. Lütfü Savaşs erneute Kandidatur wurde bereits im Vorfeld stark kritisiert. Als jahrelanger Oberbürgermeister von Hatay, der Baugenehmigungen erteilte und Hinweise auf Fehlbauten ignorierte, ist er mitverantwortlich für die Auswirkungen der Beben. Präsident Erdoğan hatte im Wahlkampf bei einem Besuch in Hatay der Bevölkerung unverblümt gedroht, dass staatliche Hilfen aus Ankara nur in die Region fließen würden, wenn die Stadtverwaltung von seiner Partei, der AKP, regiert werde. Mehr als ein Jahr nach den Erdbeben mangelt es nach wie vor an der Grundversorgung wie sauberem Wasser, Strom, sicheren Unterkünften und medizinischer Infrastruktur. Migration der lokalen Bevölkerung aus den oppositionell dominierten Bezirken, Kritik am CHP-Bürgermeister Savaş, aber auch das Versagen der Linken trugen zum Wahlsieg der AKP bei.  

Im Bezirk Defne (Hatay) verpasste die Linke die Chance, sich auf eine*n gemeinsame*n Kandidat*in zu einigen und bescherte somit der CHP den Wahlsieg. Umso tragischer ist dies vor dem Hintergrund, dass über Monate linke Aktivist*innen vor Ort die lokale Bevölkerung nach der Katastrophe unterstützt hatten und durchaus gute Chancen gehabt hätten, die Früchte ihrer Arbeit nun auch mit dem Bürgermeister*innenamt zu ernten. Stattdessen verlor man sich in sektiererischer Verantwortungslosigkeit. 

Linke Herausforderungen

Ein erfolgreiches Gegenbeispiel ist die Stadt Samandağ, die ohnehin eine der Hochburgen linker Politik ist und in der der gemeinsame Kandidat Emrah Karaçay von der Arbeiterpartei der Türkei (TİP) nun Bürgermeister ist. Das Bündnis Allianz der Veränderung, das u.a. auch von der DEM-Partei unterstützt wird, kündigte an, die lokale Bevölkerung in Rätestrukturen in die politischen Entscheidungen einzubeziehen. Auch wenn die neue Stadtverwaltung dabei auf Strukturen und Erfahrungen zurückgreifen kann, die sich nach den Erdbeben vor Ort gebildet haben, sind die Herausforderungen nach wie vor groß: Der Abriss beschädigter Gebäude ist bei weitem nicht abgeschlossen, Erdbebenopfer verlassen die Region und ziehen in andere Städte der Türkei und die Zentralregierung hat kein großes Interesse am Wiederaufbau einer Stadt, die für ihre mehrheitlich linke Gesinnung bekannt ist. 

In den kurdisch geprägten Provinzen im Osten und Südosten des Landes konnte die DEM-Partei mehr Rathäuser in Städten und Provinzen für sich gewinnen, als sie verlor. Vor dem Hintergrund der anhaltenden Repressionen gegenüber der Partei und ihren Anhänger*innen ist das ein klarer Erfolg der linken Opposition. Auch der Versuch der politischen Justiz, einen Tag nach den Wahlen den DEM-Bürgermeister von Van abzusetzen, scheiterte am landesweiten parteiübergreifenden Widerstand der Opposition. 

Die CHP ist keine Alternative

Gleichzeitig mit der berechtigten Freude über die Niederlage der AKP und die Verteidigung oppositioneller Rathäuser ist und bleibt es Aufgabe einer wirklich progressiven Linken, nationalistische, neoliberale und rassistische Politik zu bekämpfen, auch wenn sie sich rhetorisch demokratisch gebart. Aktuell genießt die CHP den Vorteil, nur auf der lokalen Ebene politische Verantwortung tragen zu müssen. Wäre sie jedoch im letzten Jahr mit ihrem Bündnis aus rechtsnationalistischen, islamistischen und neoliberalen Parteien an die landesweite Regierung gekommen, hätte auch sie ein massives Sparprogramm durchgesetzt und Privatisierungen durchgeführt. Dass auch in den oppositionellen Rathäusern parteinahe Angestellte bevorzugt werden, ist in der Türkei ein offenes Geheimnis. Unmittelbar nach den Wahlen kam es zu Entlassungswellen, beispielsweise im Rathaus vom Ceyhan in der Provinz Adana. 

Inwiefern es die Opposition wirklich ernst meint mit der Demokratisierung des Landes, kann sie auf lokaler Ebene beweisen, beispielsweise durch die Einbeziehung der Bevölkerung in Entscheidungsprozesse oder durch die Verteidigung kurdischer Bürgermeister*innen, die auch demnächst wieder unter Beschuss der Regierung geraten könnten. Jeder Freiraum, der sich bietet, sollte hier von der linken Opposition genutzt und verteidigt werden, ohne der Illusion zu verfallen, dass es der CHP um mehr als Populismus und die Verteidigung der säkularen, nationalistischen Bourgeoisie gehe. Syrische Geflüchtete fürchteten einen Sieg der CHP bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr, da sie Massenabschiebungen ankündigt und somit auch den Rassismus im Land angeheizt hatte. Freude über die jetzige Niederlage der AKP in Ankara, Istanbul und auch in Van ist dennoch berechtigt und das Gefühl von Erleichterung spürbar in der Türkei. Nun gilt es, den widerständig hoffnungsvollen Geist zu organisieren – und nicht nur bis zu den nächsten Wahlen in vier Jahren abzuwarten, bei denen eine CHP gewinnen könnte, die ebenso im rechten Lager nach Stimmen fischt wie Erdoğans AKP. 

Svenja Huck

promoviert an der FU Berlin zu Istanbuler Arbeiter*innengeschichte und arbeitet als freie Journalistin hauptsächlich zur Türkei. Sie lebt in Berlin und Istanbul.