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Warum Gaza ohne Hilfe ist

Den Menschen in dem Küstenstreifen fehlt es an allem – das ist gewollt, so Riad Othman von medico international

Interview: Johannes Tesfai

Junge Menschen drängen sich mit leeren Schalen um einen großen Topf mit Essen.
Die wenigen Güter, die reinkommen, werden auch noch schlecht verteilt: Gaza im Sommer 2025. Foto: Mohammed Zaanoun via medico international

Nach einer Blockade aller Hilfslieferungen durch die israelische Armee kommen nur wenige Güter durch eine einzige Stiftung nach Gaza. Wie durch die Kriegsführung Druck auf die Bevölkerung Gazas aufgebaut wird, welche Ziele Israel damit verfolgt und was sich ändern muss, erklärt Riad Othman, Mitarbeiter der Hilfsorganisation medico international, im Interview.

Wie ist die derzeitige humanitäre Lage in Gaza?

Riad Othman: Absolut katastrophal. Die israelische Regierung hat seit dem 2. März jegliche Hilfslieferungen blockiert, bis sie dann eben mit dem Konstrukt der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) kam.

Was ist diese GHF?

Zum Teil sollen Personen in der GHF eine berufliche Vergangenheit im israelischen Militär, der US-Armee oder im Geheimdienst haben. Die Personalien, soweit sie bekannt sind, sprechen nicht dafür, dass diese Stiftung wirklich humanitäre Interessen verfolgt. Die Finanzierung ist bis heute unklar. Wenn man Bilder aus Gaza sieht, wird klar, dass sich die GHF nicht an humanitäre Grundprinzipien hält, z. B. die Neutralität oder den würdevollen Umgang mit Menschen, die Hilfe empfangen. Ein zentrales Element müsste die Hilfe nach Bedürftigkeit sein, dass priorisiert wird, wer am vulnerabelsten ist. In Gaza ist es aber gerade so, dass wer am schnellsten und am stärksten ist, etwas abkriegt, wenn er nicht erschossen wird. Die GHF ist von Anfang an von etablierten humanitären Akteuren und auch von palästinensischer Seite stark kritisiert worden. Was bekannt war, ließ schon früh erahnen, dass es darum gehen würde, humanitäre Hilfe als Köder für erzwungene Bevölkerungsbewegung zu missbrauchen. All das ist im Prinzip die Fortsetzung von israelischen Bestrebungen, wie wir sie seit fast 20 Monaten beobachten können.

Das Versagen der Stiftung war absehbar und wohl beabsichtigt.

Um welche Bestrebungen geht es?

Es ging von Anfang an darum, die Bevölkerung in die Knie zu zwingen. Sie sollte durch Verknappung, durch eine Prekarisierung ihres Lebens soweit unter Druck gesetzt werden, dass sie sich gegen Israels politischen Feind, also in dem Fall die Hamas und andere Gruppierungen, auflehnt – so zumindest die vorgebliche israelische Logik. Das Vorgehen richtet sich de facto aber vor allem gegen die Bevölkerung. Es gibt Versuche, die Bevölkerung aus großen Teilen Gazas ethnisch zu säubern und dafür auch »humanitäre Hilfe« zu verwenden. Israel hat seit Oktober 2023 im Schnitt nicht mehr als 25 Prozent dessen nach Gaza gelassen, was die UN als absolutes Minimum definiert hatten. CoGAT als oberste Besatzungsbehörde des Verteidigungsministeriums hat bis Dezember 2024 die Zahl der Lastwagenladungen, die sie nach Gaza gelassen hat, veröffentlicht. Das war ein Versuch, den Vorwurf des Kriegsverbrechens zu entkräften, Israel verweigere humanitäre Hilfe. Ein anderer Punkt ist, dass Israel in dem Zeitraum vorübergehend auch schon einmal versucht hatte, einflussreiche Familien in Gaza zu fördern und als alternative Machtbasen von Israels Gnaden aufzubauen, indem sie über mehrere Monate den Anteil sogenannter kommerzieller Lastwagen zu ihren Gunsten erhöht und den der UN sowie internationaler Hilfsorganisationen gesenkt hatte. Man dreht an einigen Schrauben und versucht, ob man anders vielleicht zum Ziel kommt: zur ethnischen Säuberung, zur Entmachtung der Hamas, zur Schaffung einer Aufstandsbewegung, die vielleicht auch mehr in die Breite geht. Aber das hat bisher alles nicht funktioniert, und es ist nicht einmal neu.

Sind NGOs bestimmten Regeln in Kriegsgebieten unterworfen?

Es gibt die humanitären Prinzipien, etwa Neutralität oder Unparteilichkeit. Da ist Gaza ein Sonderfall, weil in diesem Gebiet nur bedürftige palästinensische Bevölkerung lebt und nicht unterschiedliche verfeindete Gruppen. Aber auch da gilt, die Hilfe darf nicht nach politischer, religiöser oder anderer Zugehörigkeit vergeben werden. Es zählt nur, wer sie am nötigsten hat. Internationale und lokale NGOs müssen sich absichern, dass sich keine bewaffneten Gruppen oder Banden dieser Hilfsgüter bemächtigen.

Ist es kompliziert, Hilfe nach Gaza zu bringen?

Seit dem 2. März kommt nichts durch internationale Organisationen oder die UN nach Gaza. Zuvor musste alles von den Israelis genehmigt werden und Hilfslieferungen durften zuvor nur durch internationale oder UN-Organisationen nach Gaza gebracht werden, wenn diese eigenes Personal im Gazastreifen hatten. Palästinensische NGOs waren davon ausgeschlossen. medico verfolgt einen ernstgemeinten Partneransatz, d. h. wir konnten nicht einfach Lastwagen mit Medikamenten an unsere Partner*innen von der Palestinian Medical Relief Society schicken. Dazu hätten wir eigenes medico-Personal in Gaza haben müssen. Wir konnten jedoch bei einer anderen internationalen Organisation zuladen und im vergangenen Jahr sogar einmal größere Mengen an Medikamenten in Gaza selbst kaufen.

Riad Othman

leitete von 2012 bis 2015 das Büro der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten. Seit 2016 ist er für sie als Nahostreferent von Berlin aus tätig.

Foto: Treehouse

medico hat mehrere Partnerorganisationen im Gazastreifen, von Suppenküchen bis zu einer Gruppe, die Solaranlagen baut. Wie arbeitsfähig sind sie im Moment?

Wer medizinische Versorgung leistet, schaut, was es auf dem Markt gibt. Medikamente sind sehr teuer geworden. Mit einigem Glück können sie leichte Schmerzmittel auftreiben, aber keine starken, wie man sie nach kriegstraumatischen Verletzungen bräuchte. Es fehlen auch Medikamente zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten, die in Umgebungen wie dichtgedrängten provisorischen Flüchtlingslagern häufig auftreten, Durchfallerkrankungen, Atemwegsinfekte usw. Unsere Partnerorganisationen tun, was sie können, mit den Mitteln, die sie dort vorfinden. Andere Partner*innen konnten in den ersten Kriegsmonaten noch Lebensmittel von lokalen Bäuer*innen kaufen. Aber das ist längst vorbei. Mindestens 70 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen sind zerstört. Wieder andere, die früher Suppenküchen betrieben oder Essenspakete geschnürt haben, sind mittlerweile auf andere Aktivitäten umgestiegen, die aber nicht den Hunger stillen. Sie betreiben Grundwasserquellen. Das Wasser ist aber schon seit Jahren durch die Übernutzung des Grundwasserkörpers an der Küste versalzen und anders belastet. Partner*innen bauen auch Sanitäranlagen und Waschgelegenheiten oder räumen Trümmer und helfen Leuten beim Bau notdürftiger Behausungen. Wiederum andere bieten Schulunterricht an, ohne dass es noch wirkliche Schulen gibt.

Es wird behauptet, dass sich die Hamas ziviler Infrastruktur bemächtigt und Israel deshalb die humanitäre Hilfe beschränkt.

Solche Behauptungen sollen dazu dienen, das völkerrechtswidrige Vorgehen der israelischen Regierung zu legitimieren. Selbst wenn die Hamas erwiesenermaßen in großem Umfang Güter stehlen würde, wäre es nicht rechtens, dafür die Bevölkerung in Kollektivhaft zu nehmen. Wenn irgendeine Gruppe Unrecht begeht, berührt das ja nicht das Recht der Bevölkerung auf Hilfe, auf das eigene Leben und Überleben. Persönlich hege ich keine Zweifel, dass sich auch einzelne Mitglieder militanter Gruppen Hilfsgüter angeeignet haben. Für ihre Behauptung, die Hamas stehle systematisch oder überhaupt in großem Umfang Hilfe, ist die israelische Regierung meines Erachtens aber bis heute jeden Beweis schuldig geblieben. Ich wäre mit solchen Behauptungen deshalb vorsichtig. Besonders wenn es gleichzeitig Videoaufnahmen und Fotografien davon gibt, wie bewaffnete Gangs, die nicht Hamas sind, unter den Augen des israelischen Militärs plündern, Schutzgelder von Hilfskonvois erpressen oder nun sogar von der israelischen Armee ausgerüstet werden. Der einzige Weg, um Plünderungen, und zwar egal ob durch Hamas oder durch irgendwelche von Israel bewaffneten IS-nahen Banden oder mafiöse Clans, unattraktiv zu machen, wäre, die absichtlich von Israel herbeigeführte Güterverknappung zu beenden, d. h. Gaza mit humanitärer Hilfe regelrecht zu fluten. Dafür gibt es exakt einen Weg: Die israelische Regierung muss dazu gebracht werden, ihre völkerrechtswidrige Blockade und Kollektivbestrafung der palästinensischen Bevölkerung zu beenden und den ungehinderten Zugang, den der Internationale Gerichtshof in Den Haag mehrfach rechtsverbindlich angeordnet hat, freizugeben.

Was muss konkret passieren, damit sich die Lage in Gaza bessert?

Aus einer rein humanitären Sicht müssen die Angriffe enden, um das unmittelbare Überleben von Menschen zu gewährleisten. Entsprechend müsste mit Gegenmaßnahmen gedroht und nicht nur Besorgnis geäußert werden. Die Rüstungsexporte sollten eingestellt werden. Es gibt eine Reihe von Instrumenten, die gegenüber dem israelischen Staat noch nie zum Einsatz gekommen sind. Zum ersten Mal wurde kürzlich über eine Überprüfung des EU-Assoziierungsabkommens mit Israel gesprochen. Die israelische Regierung verletzt seit vielen Jahren die in Artikel 2 enthaltene Menschenrechtsklausel. Schon dieser Überprüfung, die noch keinen Beschluss zur Suspendierung darstellen würde, hat Deutschland nicht zugestimmt. Die schärfere Rhetorik aus Berlin gegenüber der israelischen Regierung ändert noch nichts an den Realitäten vor Ort. Mich stört an der hiesigen Diskussion auch, dass sie sich zu stark auf den humanitären Zugang konzentriert. Der Fokus liegt stark auf diesem absoluten Desaster der GHF, deren Versagen absehbar und in gewisser Weise wohl sogar beabsichtigt war. Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, dass es reicht, die Menschen humanitär zu versorgen. Das kann überhaupt nur der Anfang sein, wenn man die Leute in Gaza und in den palästinensischen Gebieten insgesamt tatsächlich als Menschen behandeln will. Das würde bedeuten, man gesteht diesen Leuten gegenüber ein, dass man ihre Rechte mit Füßen getreten hat oder dabei zugesehen hat, wie ihre Rechte seit Jahrzehnten mit Füßen getreten worden sind. Es gibt seit dem letzten Sommer ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs, das die Besatzung in den palästinensischen Gebieten insgesamt als illegal einstuft und Israel dazu auffordert, sich aus dem gesamten besetzten Gebieten so schnell wie möglich zurückzuziehen. Drittstaaten wie die Bundesrepublik Deutschland müssen ihr politisches Gewicht und ihre Macht dafür einsetzen, dass diese Rechtsbrüche aufhören.

Johannes Tesfai

ist Redakteur bei ak.

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