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|ak 664 | Deutschland

Herrschende Erinnerungen an die DDR

Von Renate Hürtgen

Wenn es um Erinnerungen an die DDR geht, kommt es drauf an, wen man fragt. Foto: Fred Jaugstetter / Wikimedia, CC BY-SA 3.0

In den Wochen vor dem Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober liefen auf allen Kanälen deutscher Funk- und Fernsehsender Dokumentationen und standen in allen Zeitungen Berichte, in denen eine Ostdeutsche oder ein Ostdeutscher zu Wort kamen, die ihr Leben in der DDR erinnerten. Wenn auch manche Geschichten in eine Wiederholungsschleife gerieten, haben wir auf diese Weise wohl bis zu 80 Personen kennengelernt. Das ist zwar nicht repräsentativ zu nennen, doch es erzeugt das Gefühl, die DDR nun in ihrer ganzen Vielfalt kennen gelernt zu haben.

Was für ein Trugschluss. Es ist sicherlich spannend, autobiografischen Erzählungen zuzuhören, zu erfahren, wie es woanders zuging, oder eigene Erlebnisse wieder zu entdecken, doch authentische Bilder vom Leben in der DDR sind das nicht. Denn die DDR und die damals erlebten Geschichten liegen mehr als 30 Jahre zurück, sie werden aus heutiger Sicht erzählt und spiegeln naturgemäß wider, welche Stimmung der Erzähler oder die Erzählerin heute hat. Ihre Erinnerungen sind selektiv, neue Erfahrungen können sogar bestimmen, woran mensch sich erinnert – und woran nicht. Wer sich etwas mit der Oral History beschäftigt hat, kennt die Tücken solcher Erzählungen. Als ich 1992 Interviews mit ostdeutschen Frauen machte, die sich 1990 in den ersten Betriebsrat ihres Betriebes hatten wählen lassen, hatte ich ein solches Erlebnis. Obwohl alle Frauen über dieselbe Wahlveranstaltung sprachen, gingen die Erinnerungen weit auseinander. Wer sich positiv erinnerte, hatte einen vollen Saal vor Augen, wer die Folgezeit als Niederlage empfunden hatte, erinnerte sich auch quantitativ an wenig interessierte Kolleg*innen.

Nehmen wir also die Erzählungen der Ostdeutschen als das, was sie sind: ihre ganz persönliche Erinnerung an die DDR, so, wie sie sich ihnen nach vielen Jahrzehnten darstellt. Was aber der guten Sache bei diesem Erinnerungsmarathon tatsächlich geschadet hat, war die Auswahl der berichtenden ehemaligen DDR-Bürger. Den Vogel schoss die Berliner Zeitung mit ihrer Wochenendbeilage »Weissbuch« ab. Der Titel wurde offensichtlich in direkter Anlehnung »an das bewährte diplomatische Konzept der Sammlung von Vorschlägen« gewählt, die die deutsche Regierung zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges herausgegeben hatte. Was für eine politische Geschmacklosigkeit! In bester pluralistisch-diplomatischer Manier kommen in dieser Beilage 32 Menschen aus Ost und West zu Wort, die sich zuhören und auf diese Weise die Gräben überwinden sollen, die sie bisher trennten. Schreibt die Redaktion der Berliner Zeitung. Für die DDR erklären sich und ihr Leben dort eine Generaldirektorin, ein Staatssekretär, ein Rechtsanwalt, ein Staatsratsvorsitzender, ein leitender Sozialmediziner, ein Student aus Angola, ein 1977 ausgereister Schriftsteller, ein Historiker, eine Journalistin und eine Schuldirektorin.

Das sind – wie unschwer zu erkennen ist – mehrheitlich Personen, die nicht nur Mitglieder der herrschenden Partei gewesen sind, sondern qua ihrer leitenden Funktionen zur herrschenden Klasse in der DDR gehörten. Um an dieser Stelle keine Diskussion über die Frage, ob es in der DDR tatsächlich Klassen gegeben haben kann, zu provozieren, lässt sich deren gesellschaftliche Stellung ebenso richtig als zur Gruppe der Herrschenden gehörend beschreiben. Ihre Erinnerungen sind dann auch folgerichtig aus dieser Perspektive aufgeschrieben.

Aber warum sollten nicht auch die ehemaligen »Funktionsträger« ihre Sicht auf das Leben jener Gesellschaft, in der sie einst Politik und Wirtschaft mitbestimmten, öffentlich machen dürfen? Auch westdeutsche Politiker*innen oder Spitzenmanager publizieren ja immerhin ihre Lebenserinnerungen. Sagen jetzt einige von euch, das wäre nicht zu vergleichen? Aber doch! Natürlich lassen sich Herrschaftsverhältnisse in unterschiedlichen Gesellschaften vergleichen; vorausgesetzt, die DDR wird als Herrschaftsgesellschaft begriffen, in der naturgemäß die Herrschenden eine andere Erinnerungsperspektive haben als die Beherrschten. Ich hatte angesichts der Auswahl der Erinnerungsberichte an die DDR, mit denen wir überschüttet wurden, das Gefühl, dass dieser »kleine Unterschied« für die DDR keine Gültigkeit haben sollte.

Renate Hürtgen

beschäftigt sich als Historikerin unter anderem mit dem Wirken der Staatssicherheit im Alltag, vor allem auch in Betrieben der DDR. In ak 646 schrieb sie über die Voraussetzungen für eine fruchtbare linke Beschäftigung mit 1989.