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Verdammt, ich brauch dich

Macrons Regierung rückt nach rechts, Le Pen macht auf seriös – in Frankreich beginnt die Vorwahlkampfzeit

Von Bernard Schmid

Eine Person mit Regenschirm geht an einer Wand vorbei, an der zwei Plakate hängen, eines mit Macron und eines mit Le Pen.
Macron und Le Pen sind füreinander Wunschkandidat*innen. Plkate aus dem letzten Wahlkampf. Foto: Lorie Shaull / Flickr, CC BY-SA 2.0

Was folgt in Frankreich politisch auf die Corona-Krise? In ziemlich genau einem Jahr wird dort das nächste Staatsoberhaupt gewählt. Der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahl muss zwischen dem 8. und 23. April 2022 stattfinden. Ob Amtsinhaber Emmanuel Macron dann noch antreten kann oder ob er bis dahin unter anderem durch seine erratisch erscheinende Corona-Krisenverwaltung zu diskreditiert ist, ist noch offen. 

Anders als in Deutschland profitiert hingegen die extreme Rechte in Frankreich durchaus von der Corona-Situation, zumindest ihre wichtigste Partei, der Rassemblement National (Nationale Sammlung, früher Front National«). Laut einer Mitte März publizierten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Elabe erachten 48 Prozent der Befragten einen Wahlsieg von RN-Chefin Marine Le Pen bei der Präsidentschaftswahl 2022 für »wahrscheinlich«.

Das Traumduo

Dazu trägt bei, dass mindestens ein Teil der Regierung, etwa Innenminister Gérald Darmanin, die legalistisch auftretende extreme Rechte – nicht allerdings ihre außerparlamentarischen Teile wie die Anfang März verbotene Génération identitaire – in den letzten Monaten eher hofiert denn kritisiert hat.

Präsident Emmanuel Macron selbst gab kurz vor Weihnachten 2020 dem konservativ-wirtschaftsliberalen Wochenmagazin L’Express ein Interview, in dem er unter anderem Charles Maurras von der Action française und den Nazi-Kollaborateur Philippe Pétain, welchen er schon im November 2018 kurz vor den Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Beendigung des Ersten Weltkriegs als »großen Militär« geehrt hatte, erneut in Teilaspekten rehabilitierte.

Den Kontext dieser Äußerungen bildet wohl das Bestreben, bei der kommenden Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2022 erneut eine Konstellation herbeizuführen wie 2017. Damals standen sich der Wirtschaftsliberale Macron und die Neofaschistin Marine Le Pen als einzige Alternative gegenüber. Beide sind Wunschgegner füreinander, da sich die eigene Anhängerschaft gegen den anderen beziehungsweise die andere am besten zusammenschweißen lässt – zugleich buhlen beide um Teile der konservativen Wählerschaft, die sonst eher den konservativen Republikanern zugetan ist.

Macron und Le Pen sind Wunschgegner füreinander, da sich die eigene Anhängerschaft gegen den anderen am besten zusammenschweißen lässt.

Auch Le Pen versucht vor diesem Hintergrund zwar, sich zur »ersten Opponentin gegen Emmanuel Macron« aufzuschwingen, gleichzeitig aber nicht die schwelende politische Krise so weiterzutreiben, dass es zu einer ernsten Regierungskrise kommt. Um nicht als in Zeiten der (Pandemie-)Gefahr irrlichternd zu erscheinen, bemüht der RN sich um ein verantwortungsvoll wirkendes Auftreten. Zwar spielt die Partei bisweilen mit der politischen Wirkung von Verschwörungstheorien, doch in ihren tagespolitischen Vorschlägen versucht sie offensichtlich, konstruktiv aufzutreten. Als sich im Winter 2020/21 in der französischen Öffentlichkeit ein Druckpotenzial der fundamentalen Impfgegner*innen aufzubauen schien – dieses ist inzwischen weitgehend verpufft –, betonte Le Pen zwar einerseits, die Impffreiheit müsse grundsätzlich verteidigt werden. Zugleich beantwortete sie wiederholt die Frage, ob sie selbst denn bereit sei, sich impfen zu lassen, mit Ja. Wegen dieser »seriösen Linie« unternimmt ihre Partei auch keine Anstalten, auf die Straße zu gehen. Denn: Falls die Chancen Emmanuel Macrons und seines Anhangs schrumpfen würden, sähe die RN-Politikerin selbst einen Vorteil für sich schwinden. Ihre Strategie läuft darauf hinaus, ganz auf die Polarisierungslinie »Patrioten gegen Globalisten« zu setzen, die laut ihrem Programmdiskurs »das völlig überkommene Links-Rechts-Schema abgelöst« habe.

Den besten Repräsentanten der »Globalisten« stellt dabei  für sie Macron dar. Dessen Vergangenheit als Investmentbanker – unter anderem bei der Bank Rothschild & Co, wie aus diversen Kreisen immer wieder und oft mit erkennbar antisemitischen Untertönen angemerkt wird – sowie die überaus schwache soziale Basis der regierenden Retortenpartei La République en marche (LREM, Die Republik in Bewegung) fließen in ihr Kalkül mit ein. Und wohl auch der ausgeprägte persönliche Hass auf Macron in unterschiedlichen sozialen Milieus, der seit den Gelbwestenprotesten noch erheblich gewachsen ist. Gegen Macron rechnet Le Pen sich jedenfalls höhere Wahlchancen aus als gegen eine konservative Kandidatur oder gegen eine Linkskandidatur mit sozialem Anspruch.

Das Regierungslager seinerseits ist ebenfalls darum bemüht, jede linke Wahloption auszuschließen, indem die unterschiedlichen Linkskräfte dazu gezwungen werden, im Namen des Antifaschismus hinter den derzeit Regierenden die Reihen zu schließen. Diese Option des Appells an den antifaschistischen Imperativ in einer Wahl Le Pen gegen Macron ist eine Art politische Lebensversicherung für Macron. Teile unter anderem der linkspopulistischen Wahlplattform La France insoumise (LFI) reagieren darauf, indem sie im Februar und März 2021 lautstark darüber debattierten, wie man sich nicht länger in eine solche Scheinalternative einzwängen ließe und ob man nicht beim nächsten Mal den Stimmaufruf lieber gänzlich verweigern solle.

Innenpolitischer Rechtsruck

Die Regierung von Marcon schreckt zugleich nicht davor zurück, der extremen Rechten in der innenpolitischen Debatte immer wieder Nahrung zu geben, indem ihre Thesen oder zumindest ihre Themen in aller Öffentlichkeit als legitim dargestellt werden. Bisweilen versucht das Regierungslager auch, sich als konsequenteren Vollstrecker rechter Wünsche darzustellen. Nicht überraschend ist vor diesem Hintergrund, dass beim Anfang April verabschiedeten Entwurf zum »Gesetz für umfassende Sicherheit« die extreme Rechte im Parlament erstmals bei einem wichtigen Gesetzesvorhaben dem von Regierungsseite vorgeschlagenen Text zustimmte.

Viel beachtet wurde auch eine Fernsehdebatte Mitte Februar zwischen Innenminister Darmanin und Marine Le Pen. Einer der seitdem vielzitierten Sätze Darmanins lautete an Le Pen gerichtet, sie sei »ein bisschen weich zu diesen Fragen«. Le Pen hatte zuvor behauptet, ihre Partei bekämpfe keineswegs Muslime, sondern ausschließlich »islamistische Kräfte«. Ihr rhetorischer Trick besteht dabei darin, dass sie jegliche öffentliche Sichtbarkeit muslimischer Religionszugehörigkeit, etwa das Kopftuchtragen, als angebliche Manifestationen von Islamismus betrachtet. Zugleich fordert Le Pen eine Sonderjustiz, unter anderem mit einem speziell einzurichtenden »Staatssicherheitsgerichtshof« (Cour de sûreté de l’Etat) für alle durch tatsächliche und vermeintliche »Islamisten« begangenen Taten. Ausnahmeregelungen im Straf- und Strafprozessrecht, wie sie derzeit im Terrorismusbereich gelten, sollen ihr zufolge auf einen lediglich durch Gesinnung oder behauptete Gesinnung markierten riesigen Sektor ausgedehnt werden. Ähnliches fordert übrigens auch der konservative Nizzaer Abgeordnete Eric Ciotti. Der amtierende Minister Darmanin antwortete auf diesen Vorschlag in der TV-Debatte nicht mit inhaltlicher Kritik, sondern mit dem Argument, er selbst gehe nicht nur gegen »Islamisten«, sondern auch gegen muslimische Religionsausübung vor, wenn er etwa Moscheen überprüfen oder durchsuchen lasse – und sei deswegen in der Ausübung der Staatsautorität konsequenter als Le Pen.

Bereits mehrmals in den vergangenen Monaten versuchte Darmanin sich auch damit zu profilieren, dass er es schaffe, die religiösen Minderheiten unter die Staatsdoktrin zu zwingen. Im Oktober 2020 etwa beschwerte Darmanin sich in einem kuriosen TV-Auftritt über das kulinarische Spartenangebot von Supermärkten für Halal- und Koscher-Esswaren. Anfang Februar 2021 erschien sein rund 100 Seiten umfassendes Büchlein unter dem Titel »Der islamistische Separatismus – Manifest für den Laizismus«, über das Le Pen bei der gemeinsamen TV-Debatte sagte, sie selbst hätte es ohne weiteres unterschreiben können.

Bernard Schmid

ist Anwalt und Publizist in Paris.

Macron und die Corona-Krise

Emmanuel Macron sperrte sich mehre Monate, den von ärztlicher Seite und vom Conseil scientifique (dem durch Macron berufenen wissenschaftlichen Beitrat) empfohlenen neuerlichen Lockdown zu verhängen. Als die Situation diesbezüglich auf der Kippe zu stehen schien, hätte laut Umfragen in bürgerlichen Leitmedien auch eine Mehrheit von rund 60 Prozent eine solche Entscheidung unterstützt. Dies war für viele auch mit der Hoffnung verbunden, ein relativ konsequent umgesetzter Lockdown könne eine frühzeitige Beendigung der Maßnahme mit sich bringen – wie es im Vereinigten Königreich derzeit tatsächlich der Fall zu sein scheint. Macron entschied sich jedoch Ende Januar und nochmals im März gegen Lockdown und für stärker abgestufte, aber auch weniger durchschaubare und weniger wirksame Maßnahmen. Diese beruhen im Wesentlichen darauf, im Bereich der privaten Kontakte die Zügel angezogen zu halten, unter anderem mit einer Ausgangssperre ab 18 bzw. jetzt 19 Uhr und Alkoholverboten im öffentlichen Raum. Weite Teile der Produktion und des Arbeitslebens laufen dagegen weiter. Die Zustimmung zu den Maßnahmen hat erheblich abgenommen, ebenso die Popularität von Macron. Seit dem neuesten Maßnahmenbündel vom 31. März bestehen konzentrische Kreise von zehn Kilometern, 30 Kilometern und darüber hinaus: In dem jeweiligen Radius herrscht für bestimmte Zwecke Bewegungsfreiheit. Innerhalb von zehn Kilometern Reichweite auch für private Zwecke (im Frühjahr 2020 war es nur ein Kilometer), innerhalb von 30 für das Arbeitsleben und Behördengänge, darüber hinaus »aus wichtigem Grund«. Anfang April zählte das Land mit 40.000 bis 50.000 täglichen Neuinfektionen zu den Negativbeispielen in Europa.