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Es ist das Zombie-System, stupid!

Trotz guter Wirtschaftszahlen und sozialdemokratischer Maßnahmen ist US-Präsident Joe Biden unbeliebt – warum?

Von Lukas Hermsmeier

Ein Frau beugt mit Corona-Maske in einer Wahlkabine über ihren Wahlzettel.
2024 ohne Maske – aber das Duell zwischen Biden und Trump könnte sich bei den US-Präsidentschaftswahlen wiederholen. Foto: Wikimedia Commons/Phil Roeder , CC BY 2.0

Willkommen zur Zombie-Wahl«, schrieb das liberale Magazin Slate kürzlich in Fassungslosigkeit über den rasenden Stillstand, der die US-amerikanische Politik seit einiger Zeit plagt. Womit in Gottes Namen hat es das Land verdient, so der Tenor des Artikels, dass bei der kommenden Präsidentschaftswahl im November 2024 dieselben zwei alten weißen Männer antreten, die sich bereits 2020 duellierten? Als wäre dieses Ereignis, samt allem, was da folgte – unter anderem ja ein rechtsradikaler Putschversuch –, nicht schon traumatisch genug.

Eine gewisse Zombiehaftigkeit lässt sich mit Blick auf den wie immer verstörend früh beginnenden Wahlkampf schwer bestreiten. Auf der einen Seite ist da der amtierende Präsident Joe Biden, der zum Ende einer möglichen zweiten Amtszeit 86 Jahre alt wäre, was den gruseligen Effekt hat, dass man dem mächtigsten Mann der Welt manche seiner Aussetzer irgendwie verzeihen will. Auf der anderen Seite Ex-Präsident Donald Trump, 77 Jahre alt, und nach aktuellem Stand der wahrscheinlichste Kandidat der Republikaner, der seine Leichen – katastrophale Regierungsentscheidungen, eine verlorene Wahl und diverse Gerichtsverfahren – nicht im Keller versteckt, sondern brachial über sie hinweg trampelt.

Dass die beiden Spitzenkandidaten doppelt so alt sind wie die Bevölkerung im Durchschnitt (38,9 Jahre), zeigt, dass die US-Demokratie nicht mal symbolisch repräsentativ ist. Mehr noch: Es ist ein bitterer Hinweis darauf, wer über Macht und Ressourcen verfügt. Die Neuauflage Biden versus Trump vermittelt eine Alternativlosigkeit, die die tief sitzende Politikverdrossenheit in den USA verschärft.

Was wäre indes anders, wenn statt Biden der 41-jährige Verkehrsminister Pete Buttigieg für die Demokratische Partei antreten würde und statt Trump der 44-jährige Gouverneur von Florida Ron DeSantis die Nummer eins der Republikaner wäre? Kaum etwas.

Pluto-Gerontokratie mit demokratischen Elementen

Buttigieg würde im Wesentlichen die gleiche liberale Reformpolitik wie Biden verfolgen; DeSantis steht für eine ähnlich protofaschistische Agenda wie Trump. In gewisser Weise könnte ein personeller Austausch bei gleichbleibendem Programm sogar kontraproduktiv sein; es wäre ein scheinbarer Fortschritt, der von den grundsätzlichen Problemen ablenkt. Auf schlechteste Weise repräsentieren Biden und Trump das gegenwärtige politische System der USA dann irgendwie doch: eine Pluto-Gerontokratie mit demokratischen Elementen, in der die Reichen und Alten herrschen.

Insgesamt ist das Spitzenpersonal beider Parteien nicht nur außerordentlich alt, sondern auch außerordentlich unbeliebt. Laut Pew Research Center haben 63 Prozent der Amerikaner*innen ein negatives Bild von Trump, was angesichts seiner Bilanz und der verschiedenen Anklagen gegen ihn wenig überraschend, aber dennoch bemerkenswert ist. Trump verliert auch an der rechten Basis, wo er lange unangefochten war, zunehmend an Unterstützung. Ein Drittel der republikanischen Wähler*innen bewertete Trump zuletzt negativ – vor einem Jahr waren es 24 Prozent. Zwar ist Trump in den Umfragen immer noch die klare Nummer eins der Partei, aber sein Vorsprung schrumpft.

Die große Mehrheit der demokratischen Wähler*innen hält Bidens erneute Kandidatur für falsch.

Nicht viel besser sieht es mit der Popularität von Präsident Biden aus. Nur 39 Prozent der Amerikaner*innen bewerten seine Arbeit laut der jüngsten Umfrage der New York Times positiv. Schlechter war der Wert in seiner zweieinhalbjährigen Amtszeit selten. Besonders alarmierend dürfte die fehlende Rückendeckung aus dem eigenen Lager sein. Die große Mehrheit der demokratischen Wähler*innen hält Bidens erneute Kandidatur für falsch. Auch der historische Vergleich fällt wenig schmeichelhaft aus. Biden sei einer der »unbeliebtesten Präsidenten der modernen US-Geschichte«, stellte das New York Magazine kürzlich mit Blick auf Erhebungen der vergangenen 100 Jahre fest.

Vor allem liberale Expert*innen rätseln, wie sich Bidens Unbeliebtheit erklären lässt. Zumindest oberflächlich betrachtet ist seine Bilanz ja gar nicht so schlecht. Die Arbeitslosenquote ist mit 3,5 Prozent so niedrig wie zuletzt vor 50 Jahren. Die Inflationsrate sinkt seit einem Jahr stetig. Trotz schwieriger Bedingungen, die sich unter anderem durch die republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus ergeben, hat Biden mit dem Infrastructure Investment and Jobs Act, dem CHIPS and Science Act und dem Inflation Reduction Act drei große Gesetzespakete durchsetzen können, die umfassende Investitionen in industrielle und soziale Infrastrukturen, den Klimaschutz und High Tech bedeuten (wenn auch längst nicht genug). Biden hat aus den Fehlern Barack Obamas gelernt, der nach der Wirtschaftskrise 2007/2008 viel zu zögerlich investierte.

Von »Bidenomics« ist die Rede, und zumindest in Ansätzen kann man bei dieser Regierung tatsächlich eine Abkehr von der Politik der vergangenen Jahrzehnte feststellen. Biden hat die Steuern für Reiche und Konzerne erhöht. »Trickle down« funktioniert nicht, gibt er inzwischen zu. Weg vom Austeritätsdogma, hin zu mehr Umverteilung. Beachtlich ist das unter anderem deshalb, weil Biden während seiner gesamten Karriere ein Verfechter neoliberaler Politik war. Ein Ende des Neoliberalismus bedeutet das zwar kaum, aber immerhin werden die fatalen Auswirkungen registriert. Angesichts des Aufstiegs Chinas bleibt der US-Regierung auch kaum etwas anderes übrig, als massiv in die heimische Wirtschaft zu investieren. Es geht darum, »den wirtschaftlichen Bedeutungsverlust der USA im kapitalistischen Weltsystem zumindest abzumildern«, wie Guido Speckmann in ak 693 schreibt.

Gute Wirtschaftszahlen, aber große Armut

Woran liegt es nun, dass der Präsident der USA trotz mancher Fortschritte so unbeliebt ist? In erster Linie wohl daran, dass gute Wirtschaftszahlen nicht unbedingt eine Verbesserung der Lebensqualität bedeuten. Nach Angaben des statistischen Bundesamtes hatten im Juli dieses Jahres 27 Millionen US-Amerikaner*innen nicht genug zu essen – 3,3 Millionen mehr als zu Bidens Amtsantritt im Januar 2021. Laut verschiedener Studien leben rund sechs von zehn Amerikaner*innen von »paycheck to paycheck«, also ohne Ersparnisse. Ein großer Teil der Bevölkerung ist sogar verschuldet, vor allem durch medizinische Rechnungen und Studiengebühren. Unter Biden hat sich weder die Zahl der Insass*innen in staatlichen Gefängnissen verringert, noch die der Opfer von Waffengewalt oder die der Drogentoten. All diese strukturellen Probleme bleiben bestehen, wofür Biden gewiss nicht allein, aber doch auch verantwortlich ist. Wer ein prekäres Leben führt, die Pandemie in den Knochen und die Klimakatastrophe vor Augen hat, wird sich vom Verweis auf das steigende Bruttoinlandsprodukt nicht besänftigen lassen.

Natürlich trägt auch die negative Berichterstattung rechter Massenmedien wie Fox News zu den schwachen Zustimmungswerten Bidens bei. Grundsätzlich kann die zunehmende Polarität zwischen Demokraten und Republikanern dazu führen, dass selbst tatsächliche Verbesserungen des Lebens nicht als solche wahrgenommen werden. Ein Make-America-Great-Again-Anhänger mit Diabetes wird wohl kaum plötzlich zum Team Biden wechseln, nur weil der Inflation Reduction Act den Preis von Insulin gedeckelt hat. Und möglicherweise wünschen sich viele Leute auch einfach einen jüngeren, fitteren, irgendwie moderneren Kandidaten. Andererseits beweist ja Bernie Sanders, Jahrgang 1941, dass sich ein hohes Alter und politischer Enthusiasmus nicht ausschließen müssen. Der demokratische Sozialist zieht seit Jahren Tausende Menschen zu seinen Veranstaltungen und ist laut Umfragen der beliebteste Senator der USA.

Womit wir wieder beim Ausgangsthema wären: Nein, das Problem sind nicht primär die »Zombie-Kandidaten«, sondern das Zombie-System. Vor allem junge Amerikaner*innen kennen ihr Land eigentlich nur im Notstand. Angefangen mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und ihren außen- und innenpolitischen Folgen über die Finanz- und Wirtschaftskrise, deren Folgen bis heute zu spüren sind, bis hin zu Trump und Corona. Die USA haben in den vergangenen Jahren einen Hegemonieverlust erlebt, der sich nach außen wie nach innen auswirkt. Die Welt erlebt Amerikas Schwäche – und die eigene Bevölkerung erst recht. Institutionen wie der Supreme Court – seit Trumps Amtszeit deutlich rechts dominiert – werden von einem Großteil der US-Amerikaner*innen nicht mehr als schützende Instanz wahrgenommen, sondern als zusätzliche Bedrohung. Das Vertrauen in den Obersten Gerichtshof und andere Institutionen ist laut Studien historisch gering.

Man kann die USA durchaus als »failed state« beschreiben, als gescheiterten Staat also, der seine Funktionen und Verantwortungen gegenüber seinen Bürger*innen nicht mehr erfüllt. Mit Blick auf indigene, Schwarze, arme, queere und anders marginalisierte Menschen sollte man dann allerdings auch die Frage stellen, ob er das jemals getan hat. Land of the Free war eben immer ein sehr exklusives Projekt.

Reaktionärer Revanchismus vs. Chaos-Management

Um nicht missverstanden zu werden: Die beiden großen Parteien gehen mit diesen Systemkrisen unterschiedlich um. Während sich die Republikaner seit Jahren in Richtung »minority rule« radikalisieren, Abtreibungsrechte systematisch abbauen, anti-rassistische Bildung einschränken und trans Menschen bekämpfen, sind die Demokraten immerhin bemüht, manche ihrer eigenen Fehler zu korrigieren. Trump steht für reaktionären Revanchismus, Biden für Chaos-Management.

Was bedeutet all das nun für die US-Linke? Sie ist in den vergangenen Jahren eindrucksvoll gewachsen, aber immer noch weit entfernt von wirklicher Macht. Zwar kann man Bidens Umschwenken auf eine sozialdemokratischere Politik auch als linken Erfolg deuten. Die Regierung wäre, um ein Beispiel zu nennen, ohne den Druck von Politiker*innen wie Sanders und Gruppen wie dem Debt Collective kaum um die Tilgung von Uni-Schulden bemüht. Wirkliche Ausrufezeichen setzt die Linke allerdings in erster Linie fernab der Politik in Washington.

In Chicago beispielsweise gewann im April der frühere Gewerkschaftsaktivist Brandon Johnson die Bürgermeister*innenwahl mit einem Programm, das auf Sozialinvestionen statt auf den Ausbau des Strafapparats setzt. Die Gewerkschaft Teamsters konnte Ende Juli dem Logistikunternehmen UPS durch Streikandrohung historische Zugeständnisse für einen neuen Gesamtarbeitsvertrag abringen. In Atlanta wehren sich Protestler*innen seit zwei Jahren gegen den Bau eines gigantischen Trainingsgeländes der Polizei. (ak 690) In den Bundesstaaten Kansas, Kentucky, Montana und zuletzt Ohio hat die Bevölkerung in Referenden für den Erhalt von Abtreibungsrechten gestimmt – auch dank linker Organisierung.

Der beste Weg aus der Zombiehaftigkeit, das zeigen solche Entwicklungen, ist eine Politik, bei der die Menschen spürbare Handlungsmacht haben.

Lukas Hermsmeier

arbeitet als freier Journalist in New York.